Mit den Printmedien stirbt die Linke

Die Linke wäre gut beraten, wieder Medienkompetenz aufzubauen – und sich zum Beispiel das Thema Medienkritik wieder von der Rechten zurückzuholen. Aber auch für die digitale Präsenz wäre viel zu tun und Versäumtes aufzuholen. Die Grünen haben in diesen Wochen in Ansätzen gezeigt, wie sich mit glaubwürdig und klug gemachten Postings auf TikTok Terrain von der AfD zurückgewinnen lässt. Was den MAC sehr freut: Im ROTEN SALON HAMBURG stellt am 4. November 2024 Lukas Meisner sein Buch “Medienkritik ist links vor” und diskutiert mit den Gästen. Wie schon zuletzt mit Beiträgen zu Medienkritik (https://michael-hopp-texte.de/medienkritik-muss-wieder-ein-zentrales-thema-der-linken-werden/) und zu Pressefreiheit (https://michael-hopp-texte.de/tag-der-pressefreiheit-welche-freiheit-wieso-presse/) soll im Blog das Thema “Die Linken und die Medien” auch weiterhin grossen Raum einnehmen – die Veranstaltung mit Lukas Meisner wird dabei auch ein guter Ankerpunkt sein.

Heute geht es aber um einen anderen, fast noch weniger beleuchteten Aspekt, den der Autor Ingar Solty – Ingar ist auch in der Rosa Luxemburg Stiftung aktiv – in der letzten konkret (Ausgabe Mai) – auf superintelligente Weise angesprochen hat. Was bedeutet der Rückgang der Printmedien (und damit auch der Parteipresse) POLITISCH? In der Gesellschaft, aber auch für die Parteien oder Bewegungen selbst, die damit viel an Deutungskraft, Zusammenhalt und Identität einbüssen, die sich bis auf weiteres digital nicht ersetzen lassen, vor allem kurzfristig nicht. Man könnte sagen, der Linken steht der Transformationsprozess, der in vielen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und medialen Bereichen schon weiter fortgeschritten ist, noch bevor. Ein Aufholen wird aber nur zu schaffen sein, wenn das Thema Medien und Kommunikation auf der linken Agenda wieder deutlich nach oben rutscht. Das meint jetzt mehr der MAC. Doch hören wir jetzt mal Ingar Solty zu, der die negative Wirkung einer fehlenden Parteizeitung zunächst am Beispiel der Linkspartei nachweist.

Ingar hat dem MAC Blog eine gegenüber der konkret-Version überarbeitete und erweiterte Fassung überlassen. Dafür vielen Dank!


Von Ingar Solty

Viele linke und linksliberale Printmedien kämpfen um ihr Überleben: „konkret“, „Titanic“ und „Missy Magazine“, „Jungle World“, „Katapult“ und „Frankfurter Rundschau“. Die Gründe sind oft vielschichtig, haben nicht nur mit der Rechtsverschiebung im Zeitgeist und rückläufigen Leserschaften zu tun, sondern auch mit höheren Energiekosten, die auf vieles, nicht zuletzt gestiegene Lieferpreise, durchschlagen. Und mit den Russlandsanktionen, die die Preise für Zellstoff erheblich erhöht haben. Auch die Tageszeitung „ND“, ehedem „Neues Deutschland“, kämpft um ihr Überleben.

2021 wurde das „ND“ aus dem treuhänderischen Eigentum der Linkspartei entlassen, in eine Genossenschaft umstrukturiert und mit dem neuen Kürzelnamen versehen, der alte Leserschaft binden und dennoch den Status als einer unabhängigen sozialistischen Tageszeitung untermauern sollte. Neben der „taz“ und der „jungen Welt“ ist sie die einzige Zeitung in genossenschaftlichem Eigentum. Schon im Juni vergangenen Jahres wurde jedoch bekannt, dass das „ND“ „akut gefährdet“ sei infolge eines Fehlbetrags von 600.000 Euro. Allein eine Soli-Abokampagne wendete die Insolvenz vorerst ab.

Damit ist ein weiteres Kapitel in der Krise der Zeitung geschrieben. Bislang hat das „ND“ sich mit viel Kreativität und klugen Redakteurinnen und Redakteuren erfolgreich gegen alle Widrigkeiten gestemmt. Die Solidarität, die sich in der Zeichnung von Genossenschaftsanteilen zeigte, lässt vermuten, dass das kleine gallische Dorf auch diesmal erfolgreich den Umständen getrotzt hat. Aber obwohl oder gerade weil das „ND“ heute unabhängig links ist, spiegelt sich in seiner Krise auch die der gesellschaftlichen und politischen Linken.

Zeitungen verschaffen gesellschaftlichen Klassen ein Bewusstsein ihrer selbst

Aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stammt das Bewusstsein, dass gesellschaftliche und politische Macht über Zeitungen entsteht. Dieser Tage jährt sich mit der Abschaffung der antiliberalen „Karlsbader Beschlüsse“ von 1819 und der Ausweitung der Meinungsfreiheit zum 175. Mal die Geburt des breiten Zeitungswesens mit großen Printmedien als Flaggschiffe der gesellschaftlichen Klassen Grundbesitz, Industriebürgertum und Arbeiterklasse und ihrer jeweiligen weltanschaulichen Paradigmen Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus.

Zeitungen wie damals die „Vossische Zeitung“ des liberalen Bürgertums in den Städten, die „Kreuzzeitung“ des konservativen Grundbesitzes im ländlichen Raum und die „Neue Rheinische Zeitung“ von Karl Marx, der dem entstehenden Proletariat und seiner sozialistischen Weltanschauung international die Stichworte lieferte, sind erstens nötig, um gesellschaftliche Klassen zu einem Bewusstsein ihrer selbst zu verhelfen, ihre Atomisierung und inneren Konkurrenzen am Arbeits- oder Kapitalmarkt aufzuheben, ihre Kräfte zu bündeln und zu kanalisieren und auf politische Ziele zu richten, über deren Definition und strategische Umsetzung die verschiedenen Fraktionen vermittels dieser Medien ringen. Zweitens sind Zeitungen unerlässlich, um die auf diese Weise zu politischen Kollektivsubjekten geformten gesellschaftlichen Klassen nach kultureller Hegemonie in der Gesellschaft zu streben, in dem sie Bündnisse mit nichtantagonistischen, d.h. ihren Interessen nicht diametral entgegenstehenden Klassen ausloten und ihre politische Herstellung mit verallgemeinerbaren Deutungen sozialer Wirklichkeit ideologisch vorbereiten.

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Dieses Bild musste hier kommen: Karl Marx und Friedrich Engels beim Andruck der “Neuen Rheinischen Zeitung” , die 1948/49 die europäische Revolution begleitete. Sie erschien in der preußischen Stadt Köln, ihr Chefredakteur war der junge Karl Marx

Diese politische Bedeutung von Zeitungen hat sich auch im Zeitalter des Internets nicht geändert. Sie wird auch von der tiefen Krise der anzeigenfinanzierten Printmedien und des Journalismus, vor allem des investigativen, nicht berührt, eher im Gegenteil.

Dabei gilt die politische Bedeutung von Zeitungen und Zeitschriften insbesondere für die unteren und beherrschten Klassen, die nach einer berühmten Definition des griechisch-französischen marxistischen Staatstheoretikers Nicos Poulantzas durch den bürgerlich-kapitalistischen Staaten desorganisiert werden, während er die besitzenden Klassen erst über ihre Gegensätze hinweg zur Klasse formiert, als handelnden Akteur vereinheitlicht. Die Angehörigen der Arbeiterklasse sind durch ihre Konkurrenz am Arbeitsmarkt objektiv gespalten. Der bürgerlich-kapitalistische Staat zementiert diese Vereinzelung noch zusätzlich auf dem Wege von Schulnoten, mehrgliedrigen Schulsystemen, Bildungsschranken wie Abitur und Numerus Clausus, Verbeamtung, rechtlichen Status wie Staatsangehörigkeit, steuerliche und andere Privilegiensysteme wie die historischen Differenzen zwischen Lohnarbeitern und Angestellten in der Sozialversicherung usw.; und er setzt die vereinzelten abhängig Beschäftigten und ihre Familien anschließend als Nationalstaatsbürger mit aktivem und passivem Wahlrecht und als „Volk“, das den Regeln des bürgerlichen Staates unterworfen ist, wieder zusammen. Im Ergebnis ist Spaltung und nicht Einheit der „Urzustand“ der Arbeiterklasse. Dies ist die zentrale Erkenntnis von Frank Deppes klassischem Werk “Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse”. Als klassenbewusstes Subjekt entsteht die Arbeiterklasse erst politisch. Dies ist die Erkenntnis der subjektiven Klassentheorie von E.P. Thompson („Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse“). Die „Entstehung des Proletariats als Lernprozess“ (Michael Vester) vollzieht sich jedoch nicht ohne eigene Medien.

Die Krise der Linkspartei – ihre Vielstimmigkeit, das Auseinanderlaufen von Positionen und Kräften, der öffentlich ausgetragene innerparteiliche Streit, der Mangel an kollektiver Führung, der Mitgliederverlust in alle Richtungen – wurde in den letzten Jahren sicherlich auch dadurch beschleunigt, dass sie mit der Loslösung des „ND“ und seiner Neugründung als Genossenschaft über kein zentrales, parteieigenes Medium – eine Zeitung, einen Fernsehsender oder wenigstens einen Youtube-Kanal unter dem Dach einer zentralen Redaktion, die zugleich die social media-Arbeit auf Instagram, TikTok usw. leitet – mehr verfügt, das letztlich für alle Mitglieder, Abgeordnete und nicht wenige Sympathisanten im Grunde Pflichtlektüre und Referenzrahmen ist und das Meinungsspektrum in einer pluralen Linkspartei abbildet und zugleich eingrenzt, das durch sein Wirken dazu beiträgt, ein strategisches Zentrum herauszubilden und dadurch die extremen Pole, die sich öffentlich wechselseitig an die Gurgel gehen und destruktiv wirken, unter Kontrolle hält.

Eine linke Partei kann nicht nur mit einzelnen Stimmen in den bürgerlichen Medien auftreten

Für eine linke, sozialistische Partei, die sich in grundsätzlicher Opposition zum Bestehenden befindet, reicht es schließlich nicht, mit individuellen Stimmen in den staatlichen Rundfunkanstalten und bürgerlichen Medien, bei „Hart aber fair“ und SPIEGEL, durchzudringen, sei es in dem ihre repräsentativen Politiker direkt in Talkshows auftreten und bürgerlichen Zeitungen Interviews geben dürfen oder Pressemitteilungen der Partei, politisches Abstimmverhalten, Bundestagsreden oder die Ergebnisse „Kleiner Anfragen“ einzelner Abgeordneter aus dem Parlament gefiltert in den bürgerlichen Zeitungen zitiert werden.

Die bürgerlichen Zeitungen sind sozialistischen Parteien schließlich am Ende des Tages gegnerisch oder gleich feindlich gegenüber eingestellt. Am Ende des Tages dienen sie ja der Formierung anderer, gegnerischer, oft antagonistischer Klassen, Klassenfraktionen und Parteien. Im Ergebnis erfüllen die Talkshow- oder Interview-Auftritte linken Spitzenpersonals nicht selten den Zweck der Kooptation und tragen zur Desorganisierung der Parteien der Beherrschten bei, insofern die Führungspersönlichkeiten von Parteien, die im Namen der arbeitenden Klassen und Beherrschten sprechen wollen, in diesen Medien eben nur durch Anpassung an die Macht, die Unterordnung unter das „gerade noch Sagbare“, das von den medialen Machtapparaten als gerade noch legitim Anerkannte bestehen können. Insofern dies aber immer wieder auch den Bruch mit Parteitagsbeschlüssen und Programmen impliziert, tragen diese Auftritte mitunter Streit, Spaltpilz und Verunsicherung in ihre eigenen Organisationen. Faktisch werden Politiker der Systemopposition nur durch derlei Anpassungsgesten und Differenzen zur Parteilinie für diese Medien interessant. Oft lädt man sie nur dafür ein und befördert damit die Zerfallsprozesse. Dabei ist es im Grunde unwichtig, ob die bürgerlichen Medien dies nach Blattlinie politisch motiviert und gezielt tun oder nur der kommerziellen Logik von Nachrichtenwert, Einschaltquoten und Clickzahlen folgen. Denn ganz allgemein hasst das Publikum die Parteisoldaten mit ihrem nach allen Seiten abgesicherten Funktionärs-Kauderwelsch und den üblichen Politiker-Nullaussagen und es liebt die Abweichler; Wagenknecht, Boris Palmer, Kubicki oder früher Gerhard Baum, Kevin Kühnert und Heiner Geißler spielen auf dieser Klaviatur und stricken an ihrem persönlichen Erfolg, indem sie so immer wieder eingeladen werden, sich irgendwann selbst zur Nachricht und Botschaft machen und entsprechend Macht und Machtansprüche in ihren eigenen Parteien aufbauen, während sie notwendig die innerparteiliche Konkurrenz um Zugang zu den bürgerlichen Medien vergrößern.

Ständige Einzelauftritt von “prominenten” Parteivertretern führen dazu, daß Konflikte über die Medien ausgetragen werden

Parteien, die die bestehenden Machtverhältnisse lediglich in „Staatsverantwortung“ verwalten wollen, schadet dieses Spiel der Parteidissidenten jedoch weitaus weniger als sozialistischen Parteien, die sie grundlegend umwälzen wollen und darum auch wie die Kesselflicker über den richtigen Weg zu einer menschlicheren Gesellschaft streiten. Nichts anderes als die besagte Beförderung von Zerfallsprozessen passierte jedenfalls, wenn auf der einen Seite Sahra Wagenknecht über den „Spiegel“, die „Welt“ oder „BILD“ ordoliberale und „linkskonservative“ Positionen oder die Behauptung verbreitete, die LINKE sei eine „woke“-linksliberale „Lifestyle“-Partei geworden, die sich nicht mehr um Klasseninteressen kümmere (womit sie traditionellen lohnabhängigen Wählerschichten signalisiert, dass die LINKE nicht mehr ihre Partei ist, und jüngeren urbanen Lohnabhängigen mit Hochschulabschluss, dass man sie in der LINKEN nicht will, sprich: beide verprellt). Und nichts anderes passiert, wenn auf der anderen Seite ein linker Bundestagsabgeordneter wie Matthias Höhn im laufenden Bundestagswahlkampf 2021 ein sich gegen das Parteiprogramm gerichtetes „Diskussionsangebot“ für eine neue sicherheitspolitische Linie nicht in die Prozesse einer Partei einspeiste, sondern über den „SPIEGEL“ verbreitete. Oder der linke thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow sich gegen existierende Beschlusslagen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ für Lieferungen schwerer Waffen in den Abnutzungskrieg in der Ukraine aussprach, weil „Putin vollzogen“ habe, „was Hitler nicht geschafft hat“. Oder die frühere Parteivorsitzende Katja Kipping in Springers „Welt“ meinte, die Linke müsse ihre „Position zur Nato überdenken“.

Das bedeutet im Übrigen nicht, dass oppositionelle Parteien nicht auch versuchen sollten, ihren Positionen über die Kanäle der großen dominanten bürgerlichen und die staatlichen Medien Gehör zu verschaffen. Im Gegenteil, für einen Großteil der Bevölkerung entsteht nur hierüber Sichtbarkeit. Die auf 3 Prozent abgesunkenen Umfragewerte der Linkspartei heute haben auch und vor allem damit zu tun, dass sie in den bürgerlichen Medien so gut wie nicht mehr vorkommt und auch von den Umfrageinstituten zunehmend unter „Sonstige“ geführt wird. Bekannt ist allein, wer im Fernsehen oder wenigstens im Radio auftritt. Genau dies führten die Anhänger von Wagenknecht ja stets ins Feld. Und in der Tat kann die Wirkung der Kommunikation über diese bürgerliche Öffentlichkeit kaum überschätzt werden. Es macht einen Unterschied, ob man, wie das „ND“, etwa 20-25.000 Leserinnen und Leser erreicht, die tendenziell ohnehin ähnliche Auffassungen haben wie die Redaktion, oder man bei „Hart aber fair“ oder „Deutschlandfunk“ etwa zwei Millionen Zuschauer und Zuhörer erreicht, die sozialistische Positionen noch nicht kennen, von ihnen noch nicht überzeugt sind, aber objektiv von ihnen profitieren würden.

Als die Linkspartei im Vorfeld der Bundestagswahl 2005 als Fusion aus der westdeutschen „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ und der ostdeutschen Volkspartei PDS entstand, da bedurfte es zweier medienerfahrener und -wirksamer Führungsfiguren wie dem ehemaligen Kanzlerkandidaten, SPD-Bundesvorsitzenden und Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine und dem früheren Fraktionsvorsitzenden der PDS im Deutschen Bundestag Gregor Gysi, die durchaus erheblichen politischen, sozialen und kulturellen Differenzen zwischen diesen beiden Parteiprojekten – die PDS fand die WASG zu sozialdemokratisch, die WASG hielt die PDS für ihre Berliner Regierungsbeteiligung für neoliberal – zu überwinden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle für die Entstehung der WASG aus dem vor allem gewerkschaftlichen Widerstand gegen den rotgrünen Neoliberalismus spielte die Tatsache, dass Oskar Lafontaine in der Zeit der rotgrünen Bundesregierung, als im Bundestag die einzige Opposition gegen diese von rechts kam, eine regelmäßige Kolumne in der „BILD“-Zeitung hatte. In dieser schrieb er laufend gegen die Agenda 2010 und die „Hartz-Gesetze“ an, mit der die Sozialdemokraten Politik gegen ihre eigene Basis der Lohnabhängigen betrieben und am Ende fast zehn Millionen Wähler fortstießen. Die BILD, deren Auflage und Einfluss heute zum Glück schwindet, hatte zu dieser Zeit noch eine Reichweite von 11,63 Millionen, das heißt rund 18 Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung über 14 Jahre. Der allergrößte Teil der Leserschaft gehörte damals wie heute der Arbeiterklasse an: nur vier Prozent der Leser hatten seinerzeit Abitur, 43 Prozent dagegen einen Hauptschulabschluss mit Lehre und 35 Prozent die „mittlere Reife“. Das Einkommen von zwei Dritteln aller BILD-Leser lag unter 2.000 Euro. Freilich war es nie das Interesse der rechten BILD-Redaktion, Lafontaine das eigene, über Jahrzehnte ja systematisch antikommunistisch aufgestachelte Millionenpublikum zu überlassen für seine linkssozialdemokratische, kapitalismuskritische Botschaft. Nach der Gründung der LINKEN übte sich die BILD wieder fleißig in allgemeinem Linkefressen – mit den typischen hetzerischen Artikeln gegen die „Mauerschützen“-, „SED-Nachfolge“- usw. Partei und der breiten Kampagne gegen den „Luxus-Linken“ Lafontaine. Die dem einst „gefährlichsten Mann in Europa“ (The Sun) in der Zeit seiner Kolumne von der erzkonservativen Redaktion zugedachte Rolle war seinerzeit, dass er mithalf, die rotgrüne Bundesregierung und namentlich Bundeskanzler Gerhard Schröder vor der eigenen Wählerschaft madig zu machen. Dieser hatte einst gesagt: „Zum Regieren brauche ich BILD, BILD am Sonntag und Glotze.“ Die BILD hatte ihn dann aber erwartungsgemäß von Anfang an mit demagogischem Kampagnenjournalismus niedergeschrieben, so wie es heute auch Scholz und Habeck widerfährt, weshalb Schröder irgendwann so erbost wie hilflos entschied, BILD fortan Interviews zu verweigern. Die Schützenhilfe für die WASG jedenfalls war von der BILD-Zeitung wohl eingepreist. Sie trug zur Entstehung der Linkspartei bei. Als Lafontaine von linkssektiererischer Seite für seine Kolumne kritisiert wurde, entgegnete er zurecht: Wer ihn dafür kritisiere, der habe Antonio „Gramsci nicht verstanden“, also jenen marxistischen Theoretiker, dessen Denken sich um die Frage der kulturellen Hegemonie drehte.

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Wo könnte er heute veröfffentlichen? Das sperrige Format “internationale Reportage”? In Prag wird er zum Lokalreporter, in Wien zum Kommunisten und vom Berlin der 1920er Jahre aus bereist er die Welt. Der weltbekannte “rasende Reporter” schrieb in Zeitungen die “Der Freie Arbeiter” (1918) hiessen oder “Der neue Tag”. Aber auch im “Berliner Börsen Courier”

Der Aufstieg der Sozialdemokratie verdankte sich “Vorwärts” und “Neue Zeit”

Die Präsenz systemoppositioneller Parteipolitiker in Medien mit Millionenpublikum weit über ihren engen Dunstkreis hinaus ist also nötig. Die Stärke der Arbeiterbewegung hing jedoch – auch wenn dies die Spaltung der Arbeiterbewegung in das sozialdemokratische und kommunistische Lager letztlich nicht verhinderte – historisch stets mit der Existenz großer eigener Medien wie dem 1876 unmittelbar nach SAPD-Gründung ins Leben gerufenen „Vorwärts“ und Karl Kautskys kleiner, nie die Auflagenhöhe von 10.000 überschreitende, aber eminent wichtiger Theoriezeitschrift „Neue Zeit“ (1883-1923) zusammen, in denen man nicht nur kollektiv Botschaften nach außen sendete (vor 1914 betrug die Gesamtauflage aller sozialdemokratischen Massenorgane 1,4 Millionen), sondern auch Richtungsauseinandersetzungen wie den Streit über die „Agrarfrage“ (1894/1895), den „Revisionismusstreit“ (1896-1898) oder die „Massenstreik“-Debatte (1905/1906) kanalisieren und halbwegs im Zaum zu halten vermochte. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Entwicklung der KPD ohne das kommunistische Medienimperium von Willi Münzenberg – mit der „Roten Fahne“ als zentralem Sinngenerator der Partei und unzähligen hierum gruppierten Massenzeitschriften wie der „Arbeiter-Illustrierten-Zeitung“ nicht zu begreifen.

Das heißt nun freilich nicht, dass die kriselnde Linkspartei heute über gar kein Umfeld mehr verfügt. Neben den unmittelbar aus der Partei gestalteten Portalen wie „Links bewegt“, gibt es im Dunstkreis der Partei schließlich noch ein breites Feld an unabhängigen linken Zeitschriften wie die kritischen, linken Wissenschaftsorgane „Das Argument“, „Prokla“ und „Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung“, linke Buchverlage wie VSA, Papy Rossa, Dietz, Schmetterling, Westfälisches Dampfboot und bertz+fischer, monatlich, vierteljährlich usw. erscheinende linke Zeitschriften wie „konkret“, „LuXemburg“, „Sozialismus“, „Jacobin“, die „Blätter für deutsche und internationale Politik“, „Analyse & Kritik“, „Welttrends“, „Berliner Debatte initial“ oder „makroskop“, linke Online-Plattformen wie „Nachdenkseiten“, „Telepolis“, „Kritisch lesen“, „Klasse gegen Klasse“ und die „Freiheitsliebe“ (die sehr parteinah war, aber deren Chefredakteur mittlerweile ausgetreten ist), linke Wochenzeitungen wie „der Freitag“, „Jungle World“, „Ossietzky“ oder die schweizerische „WOZ“, Tageszeitungen mit mehr oder weniger Sympathie für die Linkspartei wie das „ND“, die „junge Welt“ oder die „taz“ usw. 

Aber ohne eigene zentrale und verpflichtende Medien passiert es unweigerlich, dass auch diese Medien und vor allem die im engeren Sinne von der LINKEN gestalteten dezentralen Plattformen wie die „Freiheitsliebe“, „Links bewegt“ usw. in die über die bürgerlichen Medien ausgetragenen Streitigkeiten hineingezogen werden, sich – statt Kommunikation für Gegenhegemonie nach außen zu betreiben – zunehmend nach innen richten, letztlich zu Echokammern von zunehmend gegensätzlichen Strömungen, Lagern, Karriere-Netzwerken und politischen Beutegemeinschaften werden, die man außerhalb der Parteistrukturen kaum noch versteht, und die damit die Krisen- und Zerfallsprozesse eher verschärfen.

Ohne eigene Leitmedien erfahren Mitglieder nur aus dem Fernsehen, was in ihrer Partei los ist

Ohne eigene Leitmedien begegnet vielen Mitgliedern der Linken der Partei nur noch gefiltert über die großen Medien, und dies führt zu Frust. Die Inaktiven entfremden sich dann von ihrer eigenen Partei, wenn sie schlimmstenfalls von ihrer Partei selten bis gar nichts mehr an Linksoppositionellem vernehmen oder bestenfalls gelegentlich in der „Tagesschau“ noch zahnlos-gefilterte Einlassungen, wie beispielsweise während der Coronakrise linke Politiker immer nur mit den gleichlautenden harmlosen Wortfetzen zu hören: Letztlich trage man die Lockdown-Politik der Regierung ja mit, auch wenn sozial natürlich viel mehr abgefedert werden müsste, vor allem aber solle doch das Parlament einbezogen werden. Woraufhin sich viele Mitglieder fragen, warum ihre Partei so mutlos erscheint. Die aktiven Mitglieder in Orts- und Kreisverband schlagen sich ständig damit herum, dass ihre unermüdliche Basisarbeit schon beim nächsten Infostand am Wochenmarkt durch Aussagen des Spitzenpersonals in den bürgerlichen Medien wieder zunichtegemacht wird. Wenn die Aktiven sich solidarisch in Tarifkonflikte begeben oder bis zur Erschöpfung in der Flüchtlingssolidarität aufreiben und dann Wagenknecht wieder mit Äußerungen um die Ecke kam, die Linke habe sich „von den Arbeitern“ entfernt oder sei naiv für „offene Grenzen“. Oder wenn Parteiprominenz sich für Waffenlieferungen in den ukrainischen Stellvertreterkrieg ausspricht und man vor allem in Ostdeutschland an Infotischen zu hören bekommt, die Linke habe sich von ihren friedenspolitischen Positionen verabschiedet und überlasse das Friedensthema der AfD.

Die Fliehkräfte, die durch die Präsenz der Parteiprominenz in den Talkshows und großen Medien entsteht, zu denen sie ungleichen Zugang haben, werden dabei durch die Spezifik des Parlamentarismus verstärkt. Dieser koppelt erstmal ganz allgemein Parlamentsfraktionen von ihren jeweiligen Parteien ab. Sie entwickeln sich zu eigenen Raumschiffen, weil die Bekanntheit ihrer Mitglieder über die Medien und die Finanzmittel, über die sie verfügen, ihnen eine ungleiche Machtstellung im Verhältnis zur Partei verschaffen. Gerade bei der Linken, die im Gegensatz zu allen anderen Parteien im Bundestag keine Spenden von Banken und Konzernen annimmt, stellen die Mittel der Fraktion die wenigen Mittel der Partei, die sie repräsentieren sollen, bei weitem in den Schatten. Dies verleiht den Parlamentsangehörigen aber natürlich eine besondere Macht nicht zuletzt über ihre Finanzierung von Stellen, Kreisverbandsbüros, Wahlkampf usw. Hinzu kommt, dass sie auch subjektiv sich der Partei und ihren Beschlüssen immer weniger verpflichtet fühlen, weil sie nach 1-2 Legislaturperioden zum Glauben neigen, dass nicht sie der Partei und den unermüdlich ehrenamtlich agierenden Mitgliedern ihre privilegierte Stellung verdanken, sondern die Partei ihnen zu Dank verpflichtet ist.

Aber nicht nur Fraktion und Partei lösen sich voneinander ab; die Desorganisation findet auch über die Strukturen des Parlamentarismus selbst statt. Diese sorgen dafür, dass Fraktionen, die gemeinsam kollektiv im Sinne der sozialistischen Weltanschauung und einem sozialökologischen Systemwechsel handeln wollen, plötzlich zu kleinunternehmerischem Handeln gezwungen sind. Dies beginnt damit, dass die Abgeordneten nach eigenem Gutdünken Personal einstellen und bezahlen und dabei miteinander konkurrieren. Besonders ins Gewicht fällt, dass die linke Einsicht in die Totalität kapitalistischer Gesellschaften, die Einsicht in die Tatsache, dass alles mit allem zusammenhängt, aufgelöst wird in Themenbereiche, Aufgabengebiete und Verantwortlichkeiten für (Welt-)Regionen, die als Schwerpunkte mit Sprecherposten untereinander aufgeteilt werden. Das müsste nicht unbedingt ein Problem sein, weil man natürlich von der Warte des großen Ganzen und kapitalistischen Systems auf die Spezifik von Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt-, Sozial-, Renten-, Gleichstellungs- und Außenpolitik, ja sogar auf Sport und Tourismus schauen kann. Aber die Tatsache, dass die allermeisten Berufspolitiker von ihrer Wiederwahl auch ökonomisch abhängen, hat zur Folge, dass man zueinander in objektiver Konkurrenz steht.

Trügerische “Sichtbarkeit” auf X – das nur 10 Prozent der Bevölkerung erreicht und praktisch keine Arbeiter

Die Wiederwahl hängt aber nun einmal auch von der Sichtbarkeit ab. Daraus folgt, dass die Zuschnitte der einzelnen Arbeitsgebiete dann Gerangel mit sich bringen, wer durch sein Thema prominente Redeplätze im Bundestag eingeräumt bekommt. Denn die Aufteilung der Schwerpunkte ist in einer Welt, in der „Das Wahre das Ganze ist“ (Hegel), gar nicht so eindeutig: Spricht beispielsweise zum 8. März, dem internationalen Frauenkampftag, die frauenpolitische Sprecherin zu klassischen Fragen linker feministischer Bewegungen wie das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche und Schutz vor sexualisierter Gewalt, spricht die gleichstellungspolitische Sprecherin in queerfeministischer Perspektive über die Gleichstellung auch von LGBTQIA-Personen oder sprechen doch eher, marxistisch-feministisch grundiert, die rentenpolitische Sprecherin über die Altersarmut- oder die arbeitsmarktpolitische Sprecherin über die Teilzeitfalle lohnabhängiger Frauen in Deutschland? 

Erschwerend hinzu kommt, dass Abgeordnete in der Regel im Unsichtbaren arbeiten. Dass sie mit einer extrem hohen Arbeitsbelastung Raubbau an ihrer Arbeitskraft betreiben, aber ihre Pressemitteilungen, „Kleinen Anfragen“, parlamentarischen Initiativen, Reden usw. es sehr selten in die großen Medien schaffen. Jeder Mensch braucht aber Feedback. Und in Zeiten der digitalisierten Öffentlichkeit und sozialer Netzwerke beschränkt sich das Feedback für linke Parlamentsarbeit oft auf “X“ (ehemals Twitter). Dort aktiv ist aber nicht die Mehrheitsbevölkerung und erst recht nicht die Arbeiterklasse, die im Zentrum sozialistischer Politik steht; denn nicht einmal 10% der Bevölkerung sind bei “X“, nur fünf Prozent nutzen es wöchentlich und nur 2% täglich, und sie rekrutieren sich vornehmlich aus dem sehr kleinen Gesellschaftsausschnitt „Bildungseliten“. Kurz, das Feedback stammt also von anakademisierten soloselbständigen Empörungsunternehmern und X-„Aktivisten“, die glauben, mit täglichen Tweets und ein paar Tausend Followern Politik oder Journalismus zu machen, von bürgerlich-linksliberalen Lobbygruppen für sehr spezifische Partikularinteressen, von rechten Shitstormmobs, die sich mit den linksliberalen Shitstormmobs gegenseitig hochschaukeln, oder gleich von Bots. Das Ergebnis aber ist, dass linke Politiker sich immer vergegenwärtigen müssen, mit welcher beschränkten Öffentlichkeit sie es in den sozialen Medien zu tun haben, und dass sich Erfolg oder Misserfolg des eigenen mühevollen Wühlens nicht anhand der Handvoll Reaktionen aus diesen Kreisen bemessen sollte.

Damit nicht genug: Die für die Politik und vor allem linksoppositionelle Politik trotz allem immer relevanter werdende Öffentlichkeitsarbeit – als ein Mittel Gehör zu finden – wird durch den Mangel an zentralen Publikationsorganen noch erheblich verzerrt, weil zum einen ohne die gesellschaftliche Verankerung, strategische Fokussierung und Einheitlichkeit im Handeln, die ein eigenes Medium, eine eigene Zentralredaktion ermöglichen, die Botschaften dieser „Propaganda-Tools“ mitunter kommunikativ ins Leere laufen, da sie sich an einen sehr kleinen, absolut nicht-repräsentativen und schon gar nicht proletarischen Ausschnitt aus der Bevölkerung richten, dazu oft nicht den richtigen Ton treffen und schlimmstenfalls ebenfalls in den innerparteilichen Streit hineingezogen werden, weil sie – wie die offiziellen Twitter-, Facebook-, Instagram- und Tiktok-Kanäle einer linken Partei – natürlich auch umkämpft sind und entsprechend mal von dieser und mal von jener Strömung bedient werden. Oder dass zum anderen Ansätze von Kampagnen über diese Kanäle der Öffentlichkeitsarbeit schnell verpuffen, weil sie intern nicht abgestimmt sind, von unermüdlich, aber letztlich alleingestellt rührenden Einzelpersonen gestartet werden und im Ergebnis niemand mitzieht, womöglich auch, weil sie mitunter als Einzelkämpferaktionen im Eigeninteresse erscheinen, usw. Ob die abgewickelte Linksfraktion also so gut beraten war, auch noch die sicherlich inhaltlich, stilistisch und von ihrer Reichweite zu bemängelnde gemeinsame Fraktionszeitung abzuschaffen, um das Geld für ein attraktiveres Angebot zu nutzen, mag also bezweifelt werden. Denn die Entscheidung verstärkt doch in jedem Fall die Tendenz zur Vereinzelung und Verselbständigung der Abgeordneten.

Das Ergebnis ist, dass auch hier Vielstimmigkeit und Dissonanz zunehmen, einheitliches Handeln und kollektive Führung selten zu erkennen sind und die Fliehkräfte zunehmen, vor allem in einer Krise mit entsprechenden Richtungsauseinandersetzungen und Machtkämpfen. Die allgemeine Aufgabe einer sozialistischen Partei ist es, mit verbindender Klassenpolitik die eingangs besprochene „natürliche“ Spaltung der abhängig Beschäftigten zu überwinden und dem Klassenkampf von oben, der von der „Ampel“-Regierung forcierten Verarmung breiter Volksmassen, einen Klassenkampf von unten entgegenzusetzen. Die Überwindung der Spaltung der Arbeiterklasse jedoch kann niemand betreiben, der selber tief gespalten ist.

Linke Parteien werden auch heute noch gebraucht: als sozialistische Kräfte, die uneingeschränkt die Interessen der werktätigen Massen – von der Arbeitsmarkt- über die Wohnungs- bis zur Rentenpolitik – vertreten. Sie werden als konsequente Friedensparteien gebraucht, die dem Kurs der Bundesregierung hin zu neuem Wettrüsten und einer neuen Blockkonfrontation gegen China Grundlegendes entgegensetzt. Sie werden als sozialökologische Kräfte gebraucht, die dafür einstehen, dass die Klimakatastrophe nicht durch Illusionen vom „grünen Kapitalismus“ abgewendet werden kann, sondern nur durch einen radikalen Bruch. Es gibt für diese linken Parteien einen Platz im Parteiensystem. Aber wenn sie erfolgreich sein wollen, werden sie auch Antworten auf die Medienfrage entwickeln müssen.

Der Autor dankt Kerem Schamberger und Sebastian Klauke für hilfreiche Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Textes.

HINWEIS: Der Text erschien zuerst, in einer kürzeren Fassung, in konkret 05/2024

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