Stunde der Wahrheit

Der ROTE SALON HAMBURG am Montag  zum transcript-Buch „Digitalisierung von Gegenmacht“ war ein schöner Erfolg. Was darin angesprochen wurde, ging weit über eine Buchvorstellung hinaus und enthält den dringenden Appell an die Linke, sich nicht in Identitätspolitik zu verirren, sondern nicht länger die Genossen alleine zu lassen, die in den aktuellen Arbeitskämpfen stecken, etwa im digitalen Sektor.
Hier eine kleiner „Klimabericht“ über die Veranstaltung und eine Nachbemerkung einer Besucherin, die selbst in der Gewerkschaft aktiv ist.

Und ein DANKESCHÖN an Niels Boeing und das „Wohl oder Übel“, die unser Gastgeber waren!
Den ganze ROTEN SALON gibt es am Sonnabend beim Sender FSK – und heute hier schon als Link: frei-radios.net/130013
HINWEIS: Das FSK (Freies Sender Kombinat) ist auf Spendern oder noch besser, Fördermitgliedschaften angewiesen. Alle Infos: https://www.fsk-hh.org/unterstuetzen

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Niels Boeing, Gastgeber des ROTEN SALON im Wohl oder Übel in der Wohlwillstrasse auf St. Pauli. Der Gründer des „Stadtteilwohnzimmers“, Salons und Art Stores ist ansonsten Diplom-Physiker und Technikjournalist. Er schreibt für die ZEIT und das ZEIT-Wissensmagazin sowie für andere Nachrichtenwebsites, Zeitungen und Zeitschriften wie etwa „Technology Review“. 

Aufgewacht! Wer tut eigentlich was gegen die Sklavenmärkte im digitalen Sektor?

Optimismus und Pessimismus, Zuversicht und Niedergeschlagenheit – das liegt heute oft nahe beisammen und es ist eine Art der Realitätsbewältigung, zwischen den beiden Polen hin- und herspringen zu können. Das ist der Eindruck, dender ROTE SALON Hamburg zur „Gegenmacht“, die Kurierfahrer in den Lieferdiensten entwickelt hätten, vermittelt hat.

Ohne dies beabsichtigt zu haben, brachte ich im Grunde mit meiner ersten Frage an die Gäste Falko Blumenthal und Martin Seeliger die Illusion ins Wanken, die sich aus der Lektüre des Buchs ergibt: „Das Gespräch ÜBER die Rider in trauter linker Runde, beinhaltet die Gefahr, sie als Projektionsfläche zu missbrauchen, als neues, ersehntes revolutionäres Subjekt, sowas eben wie eine neue Arbeiterklasse – die Formulierung, die wir auch in den Ankündigungen des ROTEN SALON verwendet haben. Ich mag solche romantischen Formulierungen, aber jetzt mit etwas Abstand denke ich, das war vielleicht etwas hochgegriffen. Frage an Gewerkschaft und Sozialwissenschaft:  Lassen sich die Rider überhaupt als homogene Gruppe beschreiben – und wenn ja, als was für eine?“

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Martin Seeliger leitet die Abteilung Wandel der Arbeitsgesellschaft, am Institut für Arbeit und Wirtschaft der Universität Bremen und ist dort stellvertretender Direktor. Arbeitsschwerpunkte sind Politische Soziologie, Arbeitsbeziehungen und Cultural Studies

Falko Blumenthal und Martin Seeliger zeigten sich aus der Erfahrung heraus – trotz punktuell erreichter Streikerfolge – skeptisch, was die „Politikfähigkeit“ der diversen Gruppen grossteils prekär Beschäftigter anbelangt, Seeliger machte die Repräsentationsproblematik auch an kulturellen Differenzen deutlich: „Spontaneistische oder linksradikale Ansätze vertragen sich nicht mit einer auf Langfristigkeit und Kontinuität ausgerichteten Gewerkschaftsarbeit der kleinen Schritte.“
Im Raum lag schnell die Vermutung, dass der digitale, oft Kapitalmarkt-getriebene Sektor mit Riesen wie Nvidia, Google oder Amazon  Arbeitsmärkte für Millionen geschaffen habe – und damit die in der „alten Wirtschaft“ europäischer Prägung erreichten Standards für Arbeitnehmer in vielen Bereichen krass unterlaufe. Fernöstliche Chip-Fabriken, Edelmetall-Minen oder „Content-Legebatterien“ (in unserer Branche) erinnern fatal an den Manchester-Kapitalismus zu Zeiten von Marx und Engels, mit dem Unterschied, dass es im Moment keinen Karl Marx gibt, der ein „Kapital“ für den digitalen Kapitalismus schreibt und aus der Analyse die „Gegenmacht“ entwickelt.

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Falko Blumenthal ist Projektsekträr in der IG Metall München. Der Poliktikwissenschafter, Berufspädgoge und Gewerkrschaftssekretär begleitet Aktiventeams bei der Gründung von Betriebsräten, berät Betriebsräte und vertritt die Beschäftigten im Aufsichtsrat von Fujitsu. Sein besonderes Interesse gilt der Organisation von Gegenmacht im Digitalen Sektor, für den die Kämpfe der Rider ein aktuelles Beispiel sind

Im SALON ging es immer wieder über die Probleme der Gewerkschaften, unter den neuen Bedingungen wirksam zu werden. Hier überhaupt auf Stand zu kommen, wäre eine historische Aufgabe für die Linke und integrativer, als sich postkolonialistisch oder identitätspolitisch zu verlaufen.
Zuversicht zu stiften versuchte während der ganzen Veranstaltung die Gewerkschafterin Celine Sen, eine Kollegen von Falko Blumenthal in der IG Metall, die gerade von München nach Hamburg gewechselt ist. Für den MAC Blog hat sie ihre Eindrücke zusammengefasst:

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Celine Sen ist Berufspädagogin zur Fördermittelberatung  und war während der Fluchtbewegung 2015 in der Beratung von Betriebsratsgremien aktiv, später hauptamtlich bei der IG Metall, zunächst in Bayern. Heute ist sie Gewerkschaftssekretärin (Bezirksleitung Küste) und steuert ein küstenweites Projekt zur Förderung der Berufsbildung
 

Hingeschaut! In Niederlagen steckt oft auch ein Gewinn!

Von Celine Sen

Es war ein kurzweiliger Abend mit spannenden Ansichten und dem „Theorie/Realitäts-Check“. 
Die These „Ohnmacht der Gegenmacht“, die sich im Gespräch beim ROTEN SALON schnell entwickelt hat, fand ich spannend, wollte aber einzelne Punkte aus meiner Sicht als Gewerkschafterin klarstellen. 

Die IG Metall hat vor 40 Jahren die 35 Stunden-Woche erstreikt, und somit Teilen des Proletariats mehr Lebenszeit verschafft.  Zusätzlich gab es drei Prozent Entgeltsteigerungen -häufig über der Inflationsrate mit höherer Verteilungskomponente- durchschnittlich pro Jahr. Aus diesen und anderen Gründen, sollten hier nicht intellektuell, sondern faktisch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen -zumindest aus meiner Sicht- mitgewertet werden.. 

Die Ohnmacht, die Martin beschrieb, lähmt die intellektuelle Linke seit Jahren und Jahrzehnten. Ziel sollte eben nicht nur ein kontinuierlicher, beschreibender Austausch sein, sondern zu diesem Austausch auch aktives Handeln im Rahmen der Möglichkeiten. 
Die Digitalisierung und deren Hürden werden wir nicht zurückdrehen können, so bleibt es uns nicht erspart, mitzuwirken. Auf einer dermaßen schiefen Ebene erscheint es unmöglich einen geraden Strich zu ziehen… doch sollte es die „Gegenmacht“ wenigstens versuchen. Um Ideen zu verbreiten und eventuelle Mitstreiter*innen zu gewinnen. 

Aus der jüngeren Geschichte fällt mir ein Beispiel ein, wie neue Bündnisse entstehen können – und wie in einem momentanen Rückschlag ein wichtiges Momentum für die Zukunft liegen kann.
Als Margaret Thatcher in Grossbritannien das Streikrecht massiv einzuschränken begann, haben sich die Minenarbeiter zu Protesten getroffen. Diese Proteste wurden massiv von (heute bekannt unter) LGTBQI+ Menschen unterstützt. 
Wie wir wissen, war der Kampf für den Erhalt des Streikrechts nicht so erfolgreich, doch haben Minenarbeiter samt Familien danach die LGTBQI+ Bewegung beim CSD unterstützt. 
Der Kampf um das Streikrecht war verloren, jedoch konnten sich neue Bündnisse finden. Seither sind Gewerkschaften viel offener für Menschen mit anderer sexueller Orientierung und Identität. Das war der eigentliche Erfolg für mich. Veränderung der Gesellschaft!

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Gleich geht´s los – das „Podium“ des ROTEN SALON ist noch leer. Blick von der Strasse ins „Stadtteilwohnzimmer“ des Wohl oder Übel auf Hamburg St. Pauli

Egal wie trüb die Aussichten sind, es gibt immer was zu gewinnen und somit Hoffnung! 
Martins Schwarzmalerei an vielen Stellen umfasst einfach nur ihm bekannte Faktoren, wer hätte sich aber vorstellen können, dass „schmuddelige“ LGTBQI+ sich normalen Streiks anschließen? So folgt meiner Analyse nach, trotz allem, der Hoffnungsbogen🌈

Wir sind aktuell angehalten, mehr zu bewahren und zu verteidigen, absolut. Doch kann sich die Lage schnell ändern, letzte Woche war Trump schon Präsident, heute sieht es eventuell komplett anders aus. 
Auch Gewerkschaften müssen, genau wie die Betriebe und die Menschen die sie vertreten, durch eine Transformation. Wer den Ruf der Zeit nicht hört, wird mit Thesen an der Kirchentüre konfrontiert. 

Die Linke muss verstehen, Menschen suchen nach Beziehung, ob auf Abenden wie wir ihn hatten, oder eben über Social Media. Populismus alleine mit Fakten zu begegnen, bringt nichts … wir sollten Populismus mit Menschen und Beziehung angreifen. Wenn mir jemand sagt, Gewerkschafter*innen gehören weg, frage ich ganz aktiv -mit Fokus auf meine Person- ob das Gegenüber mich persönlich „weg haben“ will. 
Sobald ich mich ins Spiel bringe, reagiert das Gegenüber meist ertappt und überlegt seine Forderungen. „Nein, du bist ja ok, aber die anderen“, heisst es dann – und das sind Sätze, die es  ermöglichen abseits des Hasses  die Kommunikation wieder aufzunehmen.“

3 Kommentare zu „Stunde der Wahrheit“

  1. Vielen Dank für die gute Veranstaltung! Es wäre außerdem auch interessant gewesen, harte Fakten zu dem Thema zu erhalten: Welche Branchen sind genau gemeint? Wie viele Menschen sind betroffen? Wie viele arbeiten dort und wie unterscheiden sich die Bedingungen? Genug Fragen für Nachfolgeveranstaltungen!

    1. Danke, Tobias. Die Fakten stehen eigentlich alle in den begleitenden Beiträgen. Das waaren glaube ich drei recht ausführliche Blogposts.Aber offenbar ist es schwer, den Zusammenhang zu den Veranstaltungen herzustellen. Bei Neiman hatte ich sehr ausführlich anmoderiert, aber gar nicht das Gefühl, damit „durchzukommen“. Naja, es wird sich sicher eine funktionierende Form entwickeln, dauert vielleicht noch ein bisschen

  2. Das Buch dazu leg ich jedem ans Herz. Organising ist ein wichtiger, essenzieller und nicht zu unterschätzender Schritt in die richtige Richtung. Gerade digital gibt es viele Möglichkeiten zum Wissensaustausch, Gruppenbildung und auch Gegenwehr. Diese Möglichkeit gilt es bestmöglichst zu nutzen, gerade um die Stillen, die „Neutralos“ abzuholen. Neutralität und Stille sorgen dafür dass Missstände mehr Macht ausbauen können.

    Man kann nicht nicht politisch sein.

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