“Wir leben in protofaschistischen Zeiten”

BEST OF SUSAN NEIMAN, Teil I, Gespräch

Susan Neiman zu Gast im ROTEN SALON HAMBURG – am Montag (5.2.) war es soweit. Exakt 100 Interessierte waren gekommen, um im Grossen Hörsaal des Instituts für Sozialkökonmie an der Uni-Hamburg, die „Anti-Woke-Thesen“ der US-Philosophin live zu hören. Moderiert wurde der Abend von Michael Hopp (MAC, ROTER SALON) und Tobias Reichardt (MASCH). In einem zweiten Teil, hatte das Publikum Gelegenheit, Fragen zu stellen.
Der MAC Blog bringt in zwei Teilen eine Auswahl der interessantesten Aussagen der „Links ist nicht woke“-Autorin

Wir brauchen wieder eine Einheitsfront, eigentlich

„Mir liegt wirklich sehr viel daran, die Botschaft dieses Buches zu verbreiten. Ob es mir gelungen ist oder noch gelingen wird, weiß ich nicht. Meine Ängste habe ich zum Schluss des Buches kurz ausgedrückt. Wir leben in protofaschistischen Zeiten. Man redet von Populismus, man redet von autoritärer Regierung oder rechter Regierung. Wir sollen es beim Namen nennen. Einer meiner Freunde, ein indischer Historiker, sagt, wenn wir warten, das Kind beim Namen zu nennen, bis die Konzentrationslager gebaut werden, wird es zu spät sein. Wir haben das Problem in Indien, wir haben das Problem in China, wir haben das Problem in Israel, wir haben das Problem ein bisschen weniger in der Türkei, in Russland. Und leider, leider, wollen die Hälfte der US-Amerikaner einen Mann zum Präsident wieder wählen, den die  amerikanischen Medien inzwischen Faschist nennen. Er hat selbst gesagt, er wird Diktator, am ersten Tag. Wir haben ein weltweites Anstehen des Protofaschismus.
Die verstehen sich blendend untereinander, ja. Die Rechtsradikalen treffen sich, kooperieren. Die wissen genau, wie sie sich stärken, wie sie voneinander Argumente übernehmen. Und die Linke und die Linksliberalen – zerfetzen sich. Das war der Grund für mich, dieses Buch zu schreiben. Ich weiß wirklich nicht, ob es ein Beitrag zur Einheitsfront ist, oder nicht. Es war meine Hoffnung, zu sagen, hey! Eine Einheitsfront hatte die Faschisten  ja schon 1932 verhindert. Heute brauchen wir sie wieder. Es ist wirklich an der Zeit, dass alle linksliberalen Menschen die wahren Gefahren sehen und sich nicht zerfetzen in dn Streitereien um Identität und Wokeness.“

2402 rotersalon c lisanotzke 01 1
Podium v.l.n.r. nicht politisch gemeint: Tobias Reichardt, Michael Hopp, Susan Neiman. Foto: Lisa Notzke

Hilft die Woke-Debatte der Rechten?

„Die Reaktionen auf mein Buch in den verschiedenen Ländern sind sehr unterschiedlich. Nächstes Monat bin ich auf Veranstaltungen in Spanien, Portugal und danach in Chile und Brasilien. Mich wundert ,wieso alle über das gleiche Thema sprechen. Das ist natürlich ein Phänomen, das an US-amerikanischen Universitäten begann. Und auf einmal kommen Interviewfragen aus Spanien oder Brasilien und wollen meine Einschätzung, warum die Harvard Präsidentin Claudine Gay zum Rücktritt gezwungen wurde, ein extrem schwieriger Fall. Meine erste Reaktion war, haben Sie nicht andere Probleme in Brasilien? Aber gut, es ist ein internationales Phänomen. In Frankreich ist es ein bisschen anders, denn Frankreich versteht sich als Geburtsort der Aufklärung und hat den Universalismus und die anderen Prinzipien zur Staatsdoktrin gemacht. Und da ist es ein bisschen komplizierter. Und zwar so kompliziert, dass mein französischer Verleger Links ist nicht woke gar nicht veröffentlichen wollte. Jetzt bin ich in Frankreich bei einem anderen Verlag. Der Verleger hatte Angst, wie viele Freunde von mir, dass ich von den Rechten instrumentalisiert werde. Und das wird mir manchmal vorgeworfen. Hey, hast du nicht Angst, den Rechten zu helfen? Im Grunde genommen ist woke ein Schimpfwort geworden. Ich kenne kaum noch jemanden, der sich als woke bezeichnet.“

Die Kriterien Herkunft und Geschlecht reichen nicht

„Ich möchte mal begründen, warum ich das Wort Identitätspolitik verabscheue und nicht benutze. Es setzt voraus, was argumentiert werden muss. Nämlich, dass unsere sehr vielfältigen Identitäten auf zwei Komponenten reduziert werden können – auf unsere ethnische Herkunft und Geschlecht. Ich bitte jeden Menschen, der hier zuhört, ein Blatt Papier zu nehmen und zehn Komponenten aufzuschreiben. Und ich wette, dass sie mindestens acht Punkte finden, die wichtiger für sie sind als ihr Geschlecht und Ihre Hautfarbe bzw. ethnische Herkunft. Ja. Und interessanterweise sind das die zwei Komponenten, die wir uns selber nicht aussuchen. Okay, bei Gender  gibt es eine große Debatte, ob man das Gender aussuchen kann, ich will darauf nicht eingehen. Aber das Geschlecht sucht man sich nicht aus. So wird man geboren, von bestimmten Eltern, in bestimmten Erdteilen. Dafür kann man nichts. Es ist interessant, unsere Identitäten gerade da festzumachen, wo wir am passivsten sind. Wo wir verwundbar sind, aber vor allem, wo wir einfach nicht aktiv sind. Also diese „Identität“ umfasst weder unser Beruf, noch unsere politische Einstellung. Auch nicht, die Menschen, die wir lieben, oder ob wir Kinder haben oder nicht. Wie unsere Lebensbedingungen sind. Selbst, wenn man versucht, ethnischer Herkunft als bestimmend zu sehen, gibt es so viele Verschiedenheiten. Es ist einfach irre, uns alle auf diese zwei Identitätsmerkmale zu reduzieren. Deshalb benutze ich das Wort Identitätspolitik gar nicht. Wir sind vielfältig, wir sind vielseitig. Teile unserer Identität suchen wir aus. Teile nicht. Aber es kommt immer darauf an, was wir daraus machen.“

2402 rotersalon c lisanotzke 14
Tobias Reichardt (MASCH) stimmt mit Neiman in der Kritik an den “Woken” überein. Foto: Lisa Notzke

Warum hast du nicht eine Frau geholt?

„Woke hat in Universitäten angefangen und ist inzwischen im ganzen Kulturbetrieb.  Die Gatekeepers, die Leute, die im Kulturbetrieb herrschen, die Verleger, die Agenten, die Menschen, die Museen betreiben, sind absolut alle fixiert auf bestimmte Kriterien, die sie gar nicht infrage stellen. Wenn man z.B. Leute nach deren Herkunft aussucht, für eine Tagung, für ein Buch, für eine Jury, für ein Komitee, und das überhaupt nicht nach ihren Ansichten, ihren Leistungen, ist es gefährlich. Nun werden Sie fragen, sollen wir nicht diverser werden? Ja, sollen wir, sollen wir. Wenn ich wollte, könnte ich stundenlang über Sexismus in Deutschland sprechen. Aber ich merke ganz genau, wenn ich eingeladen werde, weil eine Frau gebraucht wird- oder wenn ich eingeladen werde,  weil man was von mir gelesen hat. Auch meine Freunde, die braun oder schwarz sind, spüren genau, woran sie sind. Es ist verletzend, es ist eigentlich eine Zumutung, wenn man Leute einlädt oder bevorzugt, wegen etwas, das sie gar nicht getan haben. Natürlich kann man feinfühlig sein. Als ich zum Einstein Forum kam vor 24 Jahren, habe ich gesehen, wie wenig Frauen da waren. Natürlich habe ich versucht, die Zahl zu erhöhen. Und das habe ich gemacht, über ein Jahr hin die richtigen gesucht.  Aber wenn mich jemand kritisiert, wie kannst du eine Podiumsdiskussion veranstalten, bei der nur drei Männer sind, warum hast du nicht irgendeine Frau geholt, oder einen Schwarzen Menschen?  – dann sage ich: diese drei Männer passen zu dem Thema und ich habe keine Frau gefunden, die dazu geschrieben oder gesprochen hätte. Ich lasse mich nicht von dieser Art von Quoten beherrschen.“

2402 rotersalon c lisanotzke 21
Susan Neiman liebt das Gespräch und die Diskussion

Woke ist, zu denken, Grechtigkeit gibt es eh nicht

„Aber es geht nicht nur um Stammesdenken. Es gibt andere Prinzipien, die mir ganz wichtig sind. Ich sage es mal einfach. Links ist Universalismus. Woke ist Tribalismus. Links ist ein Versuch, Gerechtigkeit von Macht zu trennen. Woke ist, zu denken, es gäbe ohnehin keine Gerechtigkeit. Gerechtigkeit sei eine Verschleierung von Machtverhältnissen. Wir wollen an die Macht für unseren Stamm. Und Links ist noch mal, dass man glaubt, dass Menschen, die zusammenarbeiten, Fortschritte erzielen können. Nicht müssen, sondern können. Und Woke ist, na ja, in der Geschichte  jeder Schritt vorwärts hat eigentlich zwei Schritte rückwärts produziert und ist eine kompliziertere Form von Herrschaft.“

Nicht pro-Israel, nicht pro-Palästina

„Am 7. Oktober wurden im südlichen Israel 1400 Zivilisten verschleppt und  teilweise ermordet. Sehr viele Leute, die sich als fortschrittlich verstehen, haben dieses Massaker  sofort als einen Befreiungsschlag von Hamas gelobt. Ich sollte vielleicht noch sagen, ich habe mich seit Jahren sehr engagiert für einen gerechten Frieden in Israel, Palästina. Ich bin als Jüdin, als Antisemitin kritisiert worden, weil ich sage, ich bin weder pro-israelisch noch pro-palästinensisch. Ich bin pro Menschenrechte. Und es gibt Menschenrechte auf beiden Seiten, die verletzt wurden. Das ist eine selbstverständliche Position für mich und meine Freunde. Aber die  Welt hat sich in zwei Teams geteilt, als wäre man beim Fußball. Man ist entweder pro-palästinensisch und das heißt, das Massaker war ein Befreiungsschlag oder der man ist pro Israel. Und dann ist alles, was Israel tut in Gaza okay. Als Vergeltung oder Verhinderung von Hamas. Ich hasse diese Verengung. Ohne jede Kenntnis der Lage in Israel und Palästina sind sehr viele Leute bereit, sich einfach sich in Stämme zu teilen.“

Universalistisches Judentum

„Ich bin israelische Staatsbürgerin und ich habe dort fünf Jahre gelebt. Aber für mich ist die Tatsache, dass ich Jüdin bin … ich sage es einmal so: Es ist wichtig. Aber es ist für mich am wichtigsten, dass ich einen Teil der universalistischen Tradition im Judentum bin. Das geht zurück zu der Bibel. All die großen deutschen Juden, denen man nachtrauert, gehören dahin. Das hat man vergessen in Deutschland, aber weder Moses Mendelssohn noch Karl Marx noch Edward Bernstein noch Albert Einstein waren Nationalisten. Sie waren alle Universalisten. Und dass ich mich in diese Tradition stelle, ist für mich hundertmal wichtiger als die Tatsache, dass ich einige Gene mit Benjamin Netanjahu gemeinsam habe.“

1 Kommentar zu „“Wir leben in protofaschistischen Zeiten”“

  1. Danke! Ich bin gespannt auf Teil 2.
    Für mich persönlich liest es sich offen gestanden wenig erbaulich. Leider konnte ich nicht dabei sein, ich hätte gerne mitdiskutiert. Hat sie eigentlich irgendwie belegt, weshalb Identitätspolitik sich ihrer Ansicht nach auf race und gender beschränkt? Mir wäre das völlig neu und Ansatzpunkte wie Intersektionalität bezeichnen doch das genaue Gegenteil? Identitätspolitik bezeichnet doch zB auch der Bezug auf situierte Erfahrungen und Wissen als jüdischer Mensch, das ist weder von race, noch von gender umfasst. Das ist dann ihre Kritik am Begriff Identitätspolitik? Hoffentlich nicht.

    Zum Thema Quoten hat sie immerhin den Punkt, dass tatsächlich oft Einladungen als “Ticket”, also allein gestützt auf Repräsentanz erfolgen. Umgekehrt dürfte es mittlerweile zu sehr vielen (nicht allen) Themen Referent*innen geben, die nicht weiß und männlich sind. Diese Quotenkritik empfinde ich wirklich als falsch. Da kann ich aber im Gegensatz zu dem race&gender-Aspekt immerhin die Argumentation noch nachvollziehen und insofern respektieren, auch wenn ich sie nicht teile.

    Den Teil zu Tribalismus hätte ich interessant gefunden. Ich persönlich teile auch die differenzierte Kritik zB von Max Czollek an Konzepten wie “kultureller Aneignung” und zB die Kritik von Tove Soiland an Queer-Theory. Grundsätzlich bin ich also auch für Kritik an Identitätspolitik zu haben, so sie getragen ist von Respekt und Anerkennung gegenüber den von “woke” adressierten Problematiken. Aber so wie es hier rezipiert wird (kann natürlich daran liegen, dass es nur Ausschnitte sind), ist das doch unglaublich platt. “Links ist Universalismus. Woke ist Tribalismus.” Was ist das denn bitte für ein Niveau? Woke ist die Reaktion darauf, dass viele Menschen, schwule, schwarze, Frauen usw. die Erfahrung gemacht haben und teils heute noch machen, dass der hier hochgehaltene Universalismus (auch der linke) geschweige denn das “einigende Band der allgemeinen Menschenliebe” in der real existierenden Praxis, also jenseits von idealistischen Vorstellungen, wenig Raum für sie hat. Es ist einfach die Forderung, dass alle Positionen als situiert anerkannt und behandelt werden, auch ihre. Das finde ich richtig. Ich persönlich habe auch meine Schwierigkeiten an Formen von Critical whiteness etc., aber das einfach als anti-linken Tribalismus wegzubügeln kommt mir jetzt nicht sehr gewinnbringend und offen gestanden etwas respektlos gegenüber den artikulierten Diskriminierungserfahrungen vor.

    Naja, vielleicht liegt es an der notwendigen Verkürzung einer Zusammenfassung, vielleicht liegt es auch an mir (Stichwort Situierung…). Wie gesagt, ich bin schon gespannt auf Teil 2. Und hoffe einfach mal, dass in der Veranstaltung auf die Argumente derer, die “Woke” richtig und wichtig finden ernsthaft, respektvoll und nachdenklich eingegangen wurde, statt einfach selbst Behauptungen in den Raum zu stellen und sich dann daran abzuarbeiten im Pappkameradenmodus – so liest ich das hier teilweise. Man muss es ja nicht teilen, man kann es ja alles total bescheuert finden, aber das sollte schon der Maßstab sein.

Kommentar verfassen

Scroll to Top
Scroll to Top