“Das einzige, das uns noch vereint, ist der Wunsch nach dem neuesten iPhone”

Nachbericht zu Susan Neiman im ROTEN SALON HAMBURG, Teil II. – Fragen aus dem Publikum

Mit genau 100 Gästen war die Premiere des ROTEN SALON Hamburg am 5.2. ein schöner Erfolg, dass damit nur jeder dritte Platz besetzt war, drückte beim ehrgeizigen Veranstalter, der gemeinsam mit Tobias Reichardt von der MASCH moderierte, etwas die Stimmung. Das Publikum zerfiel auffällig in zwei Gruppen, eine ältere und eine jüngere, mit sehr unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema „Links ins nicht woke“. Während die „Wokeness“ den einen, die studieren, seit Jahren vertraut ist, war das Phänomen den anderen weitgehend neu und seine Bedeutung für die Linke nicht offensichtlich.
Um solche Differenzen ein wenig auszugleichen, werden die Veranstaltungen des ROTE SALON auf diesem Blog, der mit der Website des ROTEN SALON verlinkt ist, mit Inhalten begleitet. Artikel, Interviews oder anderes Material, die hier erscheinen, sollen es Interessenten ermöglichen, sich ohne großen Aufwand vor der Veranstaltung zu informieren. Zusätzlich bietet der der Blog – wie heute – eine Nachberichterstattung, für alle, die nicht genug bekommen können, sollte es solche geben, und für die, die nicht kommen konnten, aber trotzdem interessiert sind.
Wer sich die Zeit nimmt und in diesem Blog etwas umsieht, findet die insgesamt sechs Beiträge, die Susan Neiman und ihrem Buch gewidmet waren. Der sechste und letzte Beitrag heute gibt Publikumsfragen wieder – und was Susan Neiman darauf antwortete.

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“Werden die Woken hier nicht über einen Kamm geschoren?

FRAGE: „Sie haben jetzt mehrfach gesagt, Stammesdenken führt zu Gruppendenken. Ich habe mich die ganze Zeit während der Veranstaltung gefragt, ob sie das nicht auch ein bisschen tun in ihrem Buch?  Natürlich sind tolle Beispiele drin, wo es schwierig ist,  aber ich glaube, es ist ein bisschen unfair, alle Woken über einen Kamm zu scheren. Es gibt doch so viele Ideen, die sich gar nicht so widersprechen, wie Sie sagen. Man kann sich ja doch einsetzen, dass mehr Frauen auf Panels sitzen und trotzdem Menschenrechte verteidigen. Also diesen Widerspruch, den sie da aufmachen, den finde ich ehrlich gesagt, auch ein bisschen einfach. Ich  würde eher fragen wollen, ob sie in Teilen dieser woken Bewegung, nicht auch Aspekte sehen, die den Fortschritt auch erzielt haben oder mit erzielt haben.“

SUSAN NEIMAN: „Ich sehe die Woken nicht als meine Feinde. Gar nicht. Das Problem mit dem Begriff Woke ist, dass er eine inkohärente Mischung ist von Emotionen und Gedanken. Und die Emotionen teile ich, habe ich immer geteilt. Man möchte im Zweifelsfall auf der Seite der Unterdrückten stehen. Man möchte aufstehen für die Menschen, die marginalisiert sind. Man möchte die Verbrechen der Geschichte also korrigieren und Unrecht eingestehen. Das sind alles Emotionen, die woke Menschen teilen, die jeder linksliberale Mensch auch teilt. Das Problem ist, das versuche ich, in dem Buch zu zeigen, diese Haltungen werden von einer Reihe von theoretischen oder philosophischen Annahmen unterminiert, die vielen Menschen gar nicht klar sind. Und deshalb sind wir alle so verwirrt, und fragen uns, warte mal, das war doch eine gute Idee, dass mehr Frauen vertreten werden in der Gesellschaft in verschiedenen Positionen. Wieso ist daraus ein Automatismus geworden, der nur auf die Genitalie kuckt und nicht auf den Inhalt? Ja, weil es einfacher ist. Es fordert mehr Zeit und Energie, sich mit den Gedanken von jemandem auseinanderzusetzen, als nur zu identifizieren, ist er oder sie weiblich oder männlich oder divers. Es ist nicht so, dass ich alle Wokies in einen Topf werfen will.. Ich möchte eigentlich ganz wenig davon angreifen. Und ich denke, den richtigen Ton getroffen zu haben, wenn junge Menschen mir gesagt haben, ach, ich habe da noch nie eine Kritik von links gehört, da ist was dran, da war immer etwas, das mich gestört hat. Und ich bin nicht mit allem einverstanden, was sie schreiben, aber ich sehe schon, dass bestimmte Exzesse, die ich problematisch fand, aus einer Reihe halb bewusster Annahmen gekommen sind, die eigentlich sehr reaktionäre Herkunft sind. Da ist  zum Beispiel der Glaube, dass Begriffe wie Fortschritt und Universalismus europäische Begriffe sind, die entstanden sind in dem Wunsch, koloniale Herrschaften aufzubauen. Das ist an vielen Universitäten inzwischen eine Binsenweisheit, dass das der Fall sein soll. Wer aber tatsächlich auf die viel verschriene Aufklärung schaut, der sieht, der Vorwurf des Eurozentrismus kommt aus dem Herzen der Aufklärung selbst. Natürlich ist Eurozentrismus ein Problem. Natürlich müssen wir die Welt aus der Perspektive möglichst verschiedener Kulturen betrachten, auch kritisieren. Aber wir müssen bessere Prinzipien finden gegen den Eurozentrismus vorzugehen, als einfach den Spieß umzudrehen. Was wir jetzt haben, ist ein umgekehrter Eurozentrismus, dass alles, das aus dem Westen kommt, schrecklich ist und alles, was aus dem Nichtwesten, wunderbar und frisch und unschuldig und gesund. Das ist genauso dumm und genauso binär wie die altmodische Neunzehntesjahrhundertidee, alles, was nicht aus Europa kommt, ist barbarisch und nicht zivilisiert. Hat das geholfen? Gut.“

“Ist links nicht mehr als nur das Eintreten für soziale Rechte?”

FRAGE: „Sie haben jetzt öfter den Begriff ´linksliberal´ verwendet – und ich muss sagen, dass ich eine heftge Version gegen ´liberal´ habe. Ich muss ihnen gestehen, ich habe eine ganz harte Aversion gegen Liberale. Das sind für mich Menschen, grundsätzlich, die den Kapitalismus vertreten, und ihn nur etwas moderater gestalten wollen. Sie haben gesagt, wenn ich sie richtig verstanden habe, der Unterschied zwischen woke und und links ist, dass die Linke für die sozialen Rechte der Menschen eintritt. Aus meiner Sicht ist das eine sozialdemokratische Position, wenn ich nicht die Systemfrage darunter auch zur Debatte stelle. Eine Linke ist für mich etwas anderes. Eine Linke für mich ist etwas, das danach sucht, was es grundsätzlich anderes in der Welt geben kann als diesen Kapitalismus, der unser gesamtes Leben inzwischen dominiert und der dazu führt, dass den meisten Menschen die Verhältnisse als naturwüchsig, als nicht veränderbar vorkommen. Und da sehe ich auch diese ganze Wokeness-Geschichte, dass uns allen das andere, ein Äußeres außerhalb des Systems, ein Orientierungspunkt,  verloren gegangen ist und dass man nun innerhalb der Verhältnisse versucht, sich zu behaupten.
Aber letztlich ist da kein emanzipatorischer Gedanke dahinter. Der emanzipatorische Gedanke ist aber auch nicht da, wenn ich links nur in dem Sinne definiere, dass es Eintreten für soziale Rechte ist.

SUSAN NEIMAN: Im Grunde genommen bin ich mit ihnen ganz einverstanden. Also einiges sage ich auch im Buch. Ich habe auch das Jahr 1991 genannt, das Ende der Sowjetunion. Als der Moment, als  die Mehrheit der Menschen, die sich als irgendeine Form von Sozialisten verstanden haben, gesagt haben, okay, es ist alles zusammengebrochen, es gibt keine Alternative. Und das heißt nicht nur, es gibt keinen alternativen Sozialismus, sondern es gibt überhaupt keine Alternative zum globalen Neoliberalismus. Es gibt nichts mehr, das uns vereint, außer dem Wunsch nach einem neuen iPhone. Aber die Idee von einer anderen Lebensweise, die nicht auf Konkurrenz basiert, sondern auf einem gemeinsames Streben nach internationaler Gerechtigkeit – ich halte  diese Idee nicht für gescheitert, aber für viele Menschen ging das 1991 verloren. Es wurde in den frühen 90er-Jahren in der Wirtschaft, in der Politik, aber auch in der Populärkultur viel getan dafür, uns zu überzeugen, dass der Kollaps des Staatssozialismus notwendig war und der Wettbewerb der Systeme, wie es damals noch hieß, endgültig zu Gunsten des Kapitalismus entschieden ist.
Prinzipiell bin ich mit ihnen völlig einverstanden, aber ich lebe auch in der Welt und ich habe drei Kinder, die vermutlich noch länger auf der Welt leben werden als ich. Ich habe übrigens  auch eine Rezension bekommen, die ihrer Kritik ganz ähnlich ist. Sie sagt auch, die Neiman ist gar keine Linke, die ist nur Sozialdemokratin, vielleicht linke Sozialdemokratin, sie redet gar nicht von Revolution. Ich frage dann zurück: Im Hier und Jetzt, mit den Gefahren, die real sind, mit dem wachsenden Faschismus, mit der Klimakrise und vergessen wir nicht, dass es noch Atomwaffen gibt, und Menschen, die jederzeit bereit sind, sie zu nutzen – wollen Sie wirklich jetzt Weltrevolution im Sinne des 19. Jahrhunderts anstreben? Ich weiß nicht, ob jemand glaubt, dass eine gewaltsame Revolution im Namen dieser Ideale, die Sie haben und die ich haben, wirklich irgendwas außer weitere Misere bringt. Ich sehe das nicht. Und deshalb bin ich als etwas pragmatische Idealistin der Meinung, diese Art von neuer Welt werde ich nicht sehen. Wenn  wir wenigstens eine wahre Sozialdemokratie hätten, könnte es auch ein nächstes Stadium geben, das ich nicht erleben werde, aber ich sehe das als das Bestmögliche, was wir unter diesen Zuständen erwarten können. Es war Marx, der gesagt hatte, die Menschen machen ja auch eigene Geschichte, aber nicht die Umstände, die sie machen. Und die Umstände sind so in diesem Moment, dass eine Weltrevolution keine brillante Idee wäre.

Bei Marx nachgeschlagen:

“Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen.“
Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte (1852). Zitiert nach: MEW Bd. 8, S. 115.

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In seiner Schrift Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte analysiert Marx den Staatsstreich Louis Bonapartes am 2. Dezember 1851 in Frankreich. Marx weist nach, daß alle bürgerlichen Revolutionen den alten Staatsapparat nur übernommen und zur Unterdrückung der ausgebeuteten Klassen weiter vervollkommnet haben, und stellt zum ersten Mal die These auf, daß das Proletariat den alten Staatsapparat nicht übernehmen darf, sondern ihn zerschlagen muß. Herausgelöst aus den Marx-Engels-Werken ist der Text in vielen Ländern in unzähligen Einzelausgaben erschienen

“Muss am Ende nicht das Profitprinzip weg?

FRAGE: Ich würde gerne als Marxist auf ihre Frage antworten, ob ich immer noch die Idee im Kopfe habe, eine Revolution wie im 19. Jahrhundert zu machen. Also Arbeiterbewegung, Massen von Arbeitern mit Fahnen auf Straßen, die Macht des Kapitals, eine leninistische Übernahme der Regierung. Also, wenn sie mich fragen, ich habe da andere Vorstellungen als die aus dem 19. Jahrhundert. Leninismus muss man historisch sehen. Allerdings möchte ich als Marxist von bestimmten Ideen des 19. Jahrhunderts nicht abweichen, etwa dem Umstand, dass es das Profitprinzip gibt und dass es eine Klasse gibt, die es praktiziert, durchsetzt über Knochen und Tote, immer noch an der Macht ist – und dass es dazu, die Macht dieser Bevölkerungsgruppe, dieser Klasse,  zu brechen, auch am Anfang des 21. Jahrhunderts keine Alternative gibt. Und wenn eine junge Frau wie Greta Thunberg auch erkannt hat, dass die eigentliche Ursache des Klimawandels der Kapitalismus ist, befinde ich mich in Gesellschaft von Menschen, die noch nicht mal 30 Jahre sind und die mich als alten weißen Knacker bezeichnen würden. Da lasse ich mich auch gerne so bezeichnen. Muss ich ihnen ganz ehrlich sagen. Und davon nehme ich nicht Abstand, dass es darum geht, das Profitprinzip zu brechen. Dass man dazu heute etwas anderes braucht, als eine politische Strategie aus dem 19. Jahrhundert, damit bin ich sofort einverstanden.

„Sie haben vollkommen Recht, das Profitprinzip. Das die Erde zerstört, nicht nur die Menschen. Ab und zu rede ich mit Leuten, die auch nach Davos fahren. Die sich ehrliche Sorgen machen, welche Folgen das haben kann – dass mit dem Klimawandel die Ungleichheit so deutlich wird, das die weniger-Gleichen sie kaum überleben können. Das ist ein Grund, dass es möglicherweise zu Veränderungen der Einstellungen kommen kann. Ich wäre sehr froh, wenn es mit Vernunft möglich wäre, das klar zu machen. Manchmal möchte ich einfach Riesenplakate drucken mit einer grossen Zeile MEHR WACHSTUM und darunter die Bilder von den Müllbergen im globalen Süden, denn das ist das, was Wachstum macht. Die Menschen, die nach Davos fahren, die werden sich schon zu schützen wissen. Die Bonzen der Wirtschaft haben sich schon auf eine Weise abgesichert. Es ist eine leise Hoffnung, dass die sagen könnten, hey, es gibt nicht mehr genug angenehme Gegenden auf der der Erde, für mich und meine Kinder und Enkel und deren Familien. Lass uns da mal umdenken. Ich sehe eine kleine, kleine Hoffnung, dass durch Überzeugung etwas geschieht.“

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