“Viele Linke fühlen sich heimatlos”

SAVE THE DATE: Am Montag 5. Februar kommt Susan Neiman in den ROTEN SALON HAMBURG. Anmeldung: https://roter-salon-hamburg.de/

LESEPROVIANT BIS DAHIN: Die Philosophin Susan Neiman im Interview mit der „Neuen Presse Frankfurt“  über die Auswirkungen der Woke-Bewegung

Die Abspaltung von Sahra Wagenknecht von der Linkspartei macht es deutlich: Die Linke ist heillos zerstritten. Das liegt auch an der Woke-Bewegung (vom englischen „woke“ – wach, gemeint ist: politisch wach gegenüber Diskriminierung). Die US-Philosophin Susan Neiman erklärt im Interview, warum diese Bewegung im Kern erzkonservativ ist und wo die Gefahren liegen

Frau Neiman, wie ist es dazu gekommen, dass die Identitäre Bewegung sich aus der Linken entwickelt hat?

Neiman: Als 1991 der real existierende Sozialismus zusammenbrach, war das der entscheidende Moment. Danach ging man davon aus, dass jedes Projekt, das nach internationaler Gerechtigkeit für alle strebt, direkt in den Gulag führt. Und wer noch etwas mit Gerechtigkeit am Hut hatte, hat sich auf kleine Kämpfe konzentriert, etwa gegen Rassismus, Sexismus oder Homophobie. Ich verwende allerdings den Begriff Identitäre Bewegung nicht. Er geht davon aus, dass unsere Identität auf zwei Merkmale reduziert werden kann: unsere ethnische Herkunft und unser Geschlecht. Und genau über diese Merkmale können wir am wenigsten bestimmen. Das ist menschenverachtend. Wir alle haben mehrere Identitäten, und die meisten sind selbst gewählt. Ist der Gedanke, dass man auf unveränderliche Merkmale reduziert wird, nicht konservativ? Absolut. In diesem tribalistischen Denken glaubt man, dass man nur tiefe Verbindungen zu Menschen des gleichen „Stammes“ haben kann, etwa der gleichen Ethnie oder des gleichen Geschlechts. Das ist eine konservative Idee. Links sein heißt dagegen, dass man Verbindungen und Verpflichtungen auch Menschen gegenüber hat, die nicht aus dem gleichen Stamm sind. Woke wird getrieben von sehr linken Emotionen, etwa sich auf die Seite der Unterdrückten zu stellen. Dabei merken die Anhänger jedoch nicht, dass sie von erzreaktionären Ideen unterminiert werden.

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Sie schreiben, dass von den Woken die Aufklärung inzwischen kritisch gesehen wird…

Das hat mich auch sehr verwundert, als ich es 2006 das erste Mal gehört habe. Den Aufklärern wird Eurozentrismus, Kolonialismus oder Rassismus vorgeworfen, aber das ist historisch falsch. Es waren linksliberale Intellektuelle, die diese Zustände aufs Schärfste kritisiert haben. Wie unterscheidet sich die Auffassung von Fortschritt bei der Woke-Bewegung und bei der Linken? Die Woke-Bewegung will zwar Fortschritt wie die Linke. Doch dafür muss man glauben, dass Fortschritte in der Vergangenheit bereits erzielt wurden. Wenn etwa heute behauptet wird, wir lebten noch im Patriarchat, stimmt das einfach nicht. Unsere Gesellschaft ist noch sexistisch. Ich habe aber große Fortschritte bei der Gleichberechtigung, beim Kampf gegen Rassismus und Homophobie erlebt. Wer nicht erkennt, dass wir weitergekommen sind, wird keinen Mut haben, weitere Fortschritte zu machen. Oder man begnügt sich mit Symbolpolitik und streitet sich über Worte. Wenn es um Worte geht: Ein Aspekt der Woke-Bewegung, der in Deutschland hohe Wellen schlägt, ist die Gendersprache. Werden dadurch auch manche Linke abgeschreckt? Ja. Viele Linke haben das Gefühl, politisch heimatlos zu sein. Gerade die Gendersprachen-Debatte ist sehr provinziell. Jede Sprache hat völlig andere Regelungen, daran macht sich die Gleichberechtigung nicht fest. Im Englischen etwa ist es genau umgekehrt, da darf Meghan Markle nicht „actress“ (Schauspielerin) genannt werden, sondern muss „actor“ (Schauspieler) heißen, weil das als feministisch gilt. Ich finde es auch komisch, wenn ich „Philosophin“ genannt werde. Das kommt mir sexistisch vor.

Sahra Wagenknecht hat ebenfalls die Gendersprache kritisiert. Wie sehen Sie ihre Abspaltung von der Linken?

Sie hat etwas Richtiges gesehen, und in einem Punkt gebe ich ihr Recht: Einer Frau, die ihre Miete nicht von ihrer Ostrente bezahlen kann, wird nicht mit einem Genderstern geholfen. Aber ich würde sie nicht wählen wegen ihrer außenpolitischen Haltungen, etwa zu Europa oder zum Ukraine-Krieg.

Ist den Grünen oder der SPD der Kontakt zu den einfachen Leuten verlorengegangen?

Ja, und das ist ein Problem. Ich sehe, dass in beiden Parteien Leute verwirrt sind von der Woke-Bewegung und meinen, sie müssten da mitmachen. Und sie begreifen nicht, wie problematisch das ist für eine echte Linke. In vielen Ländern, auch in Deutschland, ist die Rechte auf dem Vormarsch. Liegt das an einer Spaltung der progressiven Kräfte? Ja, teilweise. Mein Buch soll ein Aufruf sein, dass sich Linke und Liberale nicht in Kleinkämpfen verzetteln, sondern merken, wo die wirkliche Gefahr ist und worauf es ankommt. Es geht nicht darum, ob nun das Proletariat, eine Ethnie oder ein Geschlecht sagt: „Jetzt bin ich dran.“ Sondern darum, dass soziale Rechte Menschenrechte sind, die für alle gelten. I

INTERVIEW: PIA ROLFS, zuerst erschienen in Frankfurter Neue Presse, 25. Oktober 2023

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