Corona der Seele

Am Jungfernstieg demonstrieren 10.000e wahrscheinlich toller junger Menschen gegen die AfD und die Rechte. Der MAC ist stolz, dass seine 17jährige Tochter dabei ist. Er selber sitzt allein zu Hause und bildet sich ein, an diesem Blog arbeiten zu müssen. Der MAC ist nicht gut ins Neue Jahr gekommen. Dauernd krank, dauernd friert er, die Füße nass, er hat nicht die richtigen Schuhe. Gestern hat er sich auf eine Veranstaltung der MASCH geschleppt, es ging auf eine recht abgehobene Art um Universalismus, ob der nur ein Vorwand zur Unterdrückung sei, oder doch ein politischer Handlungsrahmen. Die Veranstaltung  an der Uni Hamburg war gut besucht  und die nächste ist schon die Premiere des ROTEN SALONS mit Susan Neiman, bei dem es um ähnliches gehen wird. Der MAC, Erfinder der Reihe ROTER SALON, hat Lampenfieber, mehr als sonst, viel mehr, dass alles nicht klappen könnte, oder nicht so, wie es sollte oder wie es seinem eigenen, wie immer überhöhten Anspruch genügt. Doch gestern sprang auf den MAC nicht mal der MASCH-Funke über, der MAC ist müde, von innen müde. Ein Corona der Seele (gab es überhaupt ein anderes?).

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Lass uns auf andere Gedanken kommen! Musik!

Lass uns mal etwas ablenken. Auf andere Gedanken kommen. Musik? Wer das MAC Buch gelesen hat (oder auch die Folge “Ich war audiosexuell vom 12. Mai 2023), der weiß, das auch das Thema für den MAC kein einfaches ist, sondern ein von überhöhter Ambition vergiftetes, auf jeden Fall unentspanntes. Ein weites Feld des Aufbruchs, der Hoffnung und schließlich des Scheiterns. Warum so grosse Worte? Diese Tragik? Das Überhöhen von Banalitäten? Aber doch in dem Ehrgeiz, ehrliches Zeugnis abzugeben vom inneren Empfinden. Kann daran etwas “falsch” sein? Unreflektiert geblieben? (Wie mit dem Musikhören für den MAC alles begann, könnt ihr heute nochmal nachlesen, das berühmte Kapitel „Musik hören I.“ aus dem „Mann auf der Couch“ kommt gleich in Anschluss an diesen Text.)

Die Plattensammlung – zu groß und ein ewiges Fragezeichen, was soll geschehen damit? Der Plattenspieler, zu alt, schon zu viel reingesteckt und rumgebastelt dran, dass ihn noch je jemand zum Klingen (der „Klang“, das war der Maßstab, das Ideal, das unerreichbare) bringen könnte. Dazu kommt, der MAC hat gar kein Geld mehr für Teile, und für neue Platten auch keines.Die alten stehen aber noch da, eine Tonne (ich weiß nicht, ob es so viel ist) in schwarzes Erdöl eingegossener Erinnerungen oder Lebensmomente, das hat auch was Unheimliches, Bedrückendes. Jede Platte ist mit etwas verbunden (deshalb kann sie nicht weg) und sei es nur das bescheuerte und manchmal auch beschämende Moment ihres Erwerbs.  Was sollen all die aufeinandergestapelten Kisten (von denen sich der MAC nicht trennen kann, auf keinen Fall!) bedeuten, für wen? Man kann die Platten auch noch abspielen, das stimmt! Und eigentlich ist es ja der Sinn einer Sammlung, dass sie auch Vorrat bietet für schlechte Zeiten, wenn kaum noch neue Platten nachkommen.

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Naja

Im Grunde. Im Grunde alles Scheisse! NÖ, kann doch nicht sein!

So abgefuckt! JAAA. Aber was wird gehört? Da der MAC nie etwas einfach nur so machen kann, hat er auch dazu ein Vorgehen entwickelt. Meist lässt er sich von Meldungen in Medien (etwa, wenn ein Album wiederveröffentlicht wurde oder ein neues des jeweiligen Künstlers erschienen ist) oder Social Media Spots oder Zufallsfunden bei You tube inspirieren, zieht dann, mit einer Taschenlampe bewaffnet, das Album aus der Reihe raus, hört es an – tut es aber nicht gleich zurück, sondern legt es zu einem Stapel, der auf dem mit einem Fell belegten Pseudo-Empire-Thron gleich vor dem HiFi-System (wir sagten HiFi-System, nie Anlage) lehnt und da nach und nach zu einer kleinen Sammlung anwächst, mit der der MAC dann eine Zeit lang „lebt“, wie er sich selbst sagt, also, abgesehen von gelegentlichen Ergänzungen, bedient er sich dann nur daraus. Warum das?  Es entsteht eine Art „Sinn“ oder „Halt“ (wenn ich mir´s recht überlege, das ganze Leben des MAC dürstet nach „Sinn“ oder „Halt“ …), jedenfalls ein besseres Gefühl, als deprimiert (und mit zu wenig Strom in der Taschenlampen-Batterie) vor der Sammlung zu stehen, die einem im Grunde nichts mehr sagt und von der man in Wahrheit auch nichts mehr hören will.

Im Grunde. Im Grunde alles scheisse. Nö. Das kann nicht sein. Welche Platten sind es denn, die der MAC dann somnabul aus der Sammlung fischt? Wie wäre es, hier ein paar Beispiele zu präsentieren – und damit vielleicht den Anfang  zu machen für eine wirklich abgefuckte, abgedrehte, irgendwie sinnlose, sich jedem Verwertungs- oder Einordnungsinteresse widersetzenden MUSIKKOLUMNE, die niemandem etwas beweisen muss, die nicht gut und für nichts gut sein muss, sondern einfach herzhaft egal, oder scheisse, oder  großartig (eher nicht) wie immer das gefunden wird oder auf komplett ignoriert: „Ein paar Platten, einfach so, also einfach nicht“, so könnte sie heißen.

“Ein paar Platten …” geht los im MAC Blog am 26. 01. 24

Musik hören I

Auszug aus: Michael Hopp, Mann auf der Couch, Textem Verlag 2021, ab Seite 319

Ein wichtiger Teil meines Lebens, um es ganz zurückhaltend zu sagen, sind Schallplatten und HiFi-Technik, also Plattenspieler, Verstärker, Lautsprecher. Eva würde mein »Hobby«, ein Wort, das am Aussterben ist – mein Vater hatte eine Zeitschrift mit diesem Titel abonniert – als Sucht bezeichnen. Als etwas nicht so Harmloses.
Es stimmt, ich zeige Entzugserscheinungen, wenn ich keine Platte kaufen kann oder nicht Teile, Tonabnehmer, irgendwelche Netzteile oder Spezialkabel anschaffen kann für das HiFi-System, so nenne ich es, weil ich gerade kein Geld habe, was immer wieder mal vorkommt.
Entzug bedeutet, missmutig sein, mit Eva Streit anfangen, zwanzig Mal am Tag daran denken. Kein Geld: Das ist immer relativ. Die finanzielle Situation muss schon sehr angespannt sein, dass ich sie wirklich als Hinderungsgrund ansehe.

         Im Allgemeinen finde ich immer Wege, Ausreden, Rechtfertigungen vor mir selbst, wie es eben bei einer Sucht ist. Es gibt ja auch ganz billige Second-Hand-Platten, die man sich genau genommen immer leisten kann, die so viel kosten wie einmal im Imbiss essen, Kartoffel bei Kumpir oder Döner bei Sel, auf die ich ja auch verzichten könnte.
Es ist doch immer die Frage, wofür man Geld ausgibt. Es gibt auch befreundete HiFi-Händler, die erst später die Rechnung schicken.
Die Sauferei war auch nicht umsonst, oder? HiFi ist doch besser als Saufen, oder?
Seit meiner ersten Single zu Weihnachten 1964, »And I Love Her« von den Beatles – ich bekam sie am Heiligen Abend, durfte sie nur ganz leise abspielen –, sammle ich Schallplatten, ohne Unterbrechung, auch in der Zeit, als die Vinyl-Schallplatte auszusterben drohte. Heute besitze ich viele tausend Langspielplatten, nie habe ich eine CD gekauft, was natürlich auch ein Platzproblem ist und in der Folge womöglich ein soziales. Werde ich mir den vielen Platz, all die verbauten Regalmeter, auch immer leisten können? Sieht nicht danach aus, aus heutiger Sicht.

         Ich kann sagen, mir wurde das Vinyl in die Wiege gelegt. Es kommt schon in meinen frühesten Erinnerungen vor und begleitet mich mein ganzes Leben. Es hat mit dem Wunsch nach Aussöhnung, nach Verbindung zu tun, zwischen Vater und Mutter, Technik und Kultur, Zwanghaftigkeit und Sich-fallen-Lassen, sehen wir alles noch.

Mein Großvater, wie er jedes Mal, wenn mein Vater ging, »Junge, komm bald wieder« von Freddie Quinn auflegte und weinend auf die drehende Platte starrte. Meine Mutter, die, bevor sie ausging, und sie ging oft aus, Edith Piafs »My Lord« auflegte und, während die Platte lief, beschwingt das Kostüm für den Abend vorm Spiegel probierte. Für mich hatte das auch eine bittere Seite, denn ich wusste – sie ist gleich weg.
Schon als ich vier, fünf war, ließ sie mich für sie Platten auflegen, was mich sehr stolz machte – wenn es gelang. Wenn ich aber, was schon mal vorkam, den Tonabnehmer neben der Platte absetzte und es dieses furchtbare Geräusch machte, lief ich hysterisch schreiend weg – mit beiden Händen an den Ohren, was auch den Schmerz der Ohrfeige linderte, die ich dann oft kassierte, wie man damals sagte. Wenn alles wieder gut war und ich meine Mutter artig fragte, durfte ich zwischendurch auch mal eine Märchen- oder Kinderliederplatte spielen.

         Doch bald eröffnete ich mir eigene Wege, Platten zu hören. Die Eltern meines Schulfreunds Stefan waren berufstätig, und so konnten wir an den Nachmittagen die Musiktruhe im Wohnzimmer benutzen. Da wir zusammengenommen nur circa 30 Singles hatten, spielten wir die entsprechend oft, dafür hatte der Plattenspieler übrigens auch eine automatische Vorrichtung. »Wild Thing« von den Troggs etwa gerne zehn bis fünfzehn Mal hintereinander, dazu wippten wir mit dem Kopf, bis uns schwindlig wurde bzw. erste psychedelische Gefühle entstanden. Manchmal unterbrachen wir das Plattenspielen, um zusammen zu wichsen, auch das gab den Nachmittagen eine besondere Atmosphäre.

         Meinen ersten eigenen Plattenspieler bekam ich mit zwölf von meinem Vater, der bis heute eng verbunden bleiben sollte mit diesem Gerät, das auf so wunderbare Weise die Sinnlichkeit und Schönheit (der Musik) mit Technik (der Wiedergabe) aussöhnt. Etwas, das meine Eltern sonst eher als Widerspruch repräsentiert hatten, die weiche, sinnliche, aber eher untüchtige Mutter und der harte, ungeduldige Techniker-Vater.
Diese aussöhnende Wundertechnik hat für mich bis heute nichts von ihrer tröstenden Faszination verloren, im Gegenteil, je älter ich werde, desto mehr Trost spendet sie mir. Jedes Mal, wenn sich die Nadel (der Diamant!) in die Rille senkt, tröstet mich mein Vater und tut damit etwas, das er im wirklichen Leben nie tun konnte. Okay, das ist jetzt vielleicht etwas dick aufgetragen. Jedenfalls ist es mit meinem Vater verbunden. Während die Liebe zu den Platten direkt aus der Kinderwelt herrührt, hat die später dazugekommene Faszination für HiFi-Geräte eher mit Erwachsenwerden zu tun, mit der Sehnsucht, dem Vater nahe zu sein bzw. etwas zu finden, das die Nähe ermöglicht.

         Heute bin ich von Schallplatten und HiFi gleich stark abhängig. Dass Platten und Plattenspieler bzw. Plattenspieler und Platten, eigentlich in dieser Reihenfolge, zusammengehören, könnte man ja als Banalität ansehen, ist es aber nicht, weil man die beiden Sphären auch als getrennt erleben kann. Hier die spießigen und zwänglerischen HiFi-Freaks, dort die wilde, unzähmbare Musik, die mit dem Vinyl-Sammeln eine üble Domestizierung erfährt.
Und wirklich gibt es viele HiFi-Fans, die nicht ihre Platten, sondern ihre Plattenspieler hören, während es Plattensammler und Musikfans gibt, denen die Abspielgeräte völlig schnurz sind. Mir ist also beides nicht egal, was es nicht einfacher macht.

         Nie werde ich es vergessen, das Ding, das mir mein Vater kaufte, als ich zwölf war, sah aus wie ein Toaster und war eine Art Vorgänger des Walkman: Man drückte die Single in einen Schlitz, als würde man sie toasten wollen. Großer Vorteil: Der Plattenspieler lief auch mit Batterie, war also tragbar und konnte z. B. auch im Park eingesetzt werden. Allerdings brauchte er so viel Batterie, dass mehr als drei, vier Singles hintereinander nie abgespielt werden konnten, bevor sich das Umdrehungstempo brutal verlangsamte.
Als »Sgt. Pepper Lonely Hearts Club Band« von den Beatles 1967 erschien, die erste Langspielplatte, die man haben musste, kam ich mit einem Single-Plattenspieler nicht mehr aus. Mein Vater sah das ein, auch deshalb, weil er es nicht ertrug, wenn ich die wilde Popmusik im Wohnzimmer auf seinem Plattenspieler spielte, und kaufte mir für mein Zimmer ein Philips-Gerät, das mir einige Jahre ein guter Gefährte war – bis ich es an jemand verlieh, an den ich es besser nicht verliehen hätte. Meinem Vater konnte ich mich nicht anvertrauen, weil er prinzipiell der Ansicht war, dass man wertvolle Sachen wie Plattenspieler nicht verleihe. Dass mein Vater in der Hinsicht ein großes Herz haben sollte, zeigte sich Jahre später, als er es nicht ertrug, dass sein Sohn ohne Plattenspieler da sass.

         Im Jahr 1975 holte ich mir in Berlin in der Schwulenszene eine schwere Gelbsucht, oder hatte das Hepatitis-Virus schon mitgebracht, egal, ich fühlte mich zum Sterben, schaffte es mit Müh und Not nach Wien. Nach dem Krankenhausaufenthalt musste ich noch einige Wochen zu Hause bleiben. Alles in allem lebte ich in der Zeit nicht im besten Einvernehmen mit meinem Vater. Das heißt, ich hatte nicht aufgehört, ihn zu provozieren, auf eine ängstliche, zum Teil hinterhältige Art, jetzt eben mit dem Schwulsein. Das war meine Art, ihm näherzukommen, oder ihn dazu zu zwingen, Gefühle zu zeigen, sei’s auch negative.
Umso mehr beschämte es mich, als er eines Vormittags mit mehreren Paketen vor meiner Tür stand, außer Atem, denn ich wohnte in der vierten Etage ohne Lift. Der Inhalt der Pakete: Plattenspieler, Receiver, Lautsprecher. Damals machte mir mein Vater die vielleicht größte Freude, die er mir je gemacht hat, ob ich jetzt schwul war oder nicht. Der Plattenspieler war für jene Zeit hochmodern, von B&O, mit einem nach vorn spitz zulaufenden Tonarm, Elektronik und Lautsprecher waren von Philips. Die Frage, wo denn der alte Plattentoaster von Philips hingekommen sei, hat er mir großzügig erlassen und wir sprachen darüber nie wieder.

         Erst viele Jahre später lud ich ihn zu mir ein, um ihn mit meiner damals neuen Anlage von Linn zu beeindrucken. Linn war eine sogenannte »High-End«-Firma aus Schottland, heute auch noch. Ich erinnere mich noch, die Lautsprecher des Typs Kaan fand er einfach zu klein, obwohl sie wirklich »groß« klangen. Dabei war es gerade das Coole daran, dass sie so klein waren und so laut Musik machen konnten, ohne zu verzerren.

         Die ganze Linn-Geschichte war 1982 losgegangen, und sie gehört unbedingt hierher, wenngleich mir der Ton wahrscheinlich nur ironisch gelingt. Meinen Vater konnte ich damals also nicht richtig gewinnen, er war auch sicher einer, der den alten Plattenspieler sofort auf den Müll geschmissen hätte (und es auch getan hat, soweit ich mich erinnere), um ihn gegen einen CD-Spieler auszutauschen, die neue und angeblich bessere Technik.
In dieser Zeit hörte ich im HiFi-Laden eines Freundes in Wien, der zwei, drei Ausgaben lang auch Chefredakteur des Wiener war und mich zu der Zeitschrift holte, den damals neuen Plattenspieler der damals noch unbekannten Marke aus Schottland, den Linn Sondek LP 12. Um es in einem Satz zu sagen: Der unscheinbare, mit seinem Rosenholz-Rahmen damals schon antiquiert wirkende Player (cooles Wort) holte so viel mehr Musik und schönen Klang aus der Rille der Schallplatte, dass es „mindbreaking“ oder „mindboggling“ war, wie die Schotten knarzten. Auch heute noch, 43 Jahre nach seiner Markteinführung, kann man dem kurz »LP 12« genannten Abspielgerät eine gewisse historische Bedeutung zuerkennen. Mit seinem Erscheinen veränderten sich die Maßstäbe in der Audiowelt und das Musikhören zu Hause bekam für viele einen neuen Wert.

         Gehört so was hierher, Lobgesänge auf ein Gerät zur Musikwiedergabe? Absolut! Denn was ich damals nicht absehen konnte: Ich kam die nächsten 35 Jahre nicht mehr los von diesem Plattenspieler und von noch ein paar weiteren, dazu passenden Geräten, bis heute nicht, und die sogenannte »Audio-Szene« wurde für mich zu einer Arena, in der ich einen aussichtslosen Kampf aufnahm – am Ende gegen mich selbst. Gegen wen auch sonst? Es wäre fantastisch gewesen und wäre es heute noch, in diesem Kampf meinen Vater an der Seite zu haben, er hätte immer alles schnell zusammenlöten können und ich hätte die kämpferische Prosa verfasst, warum alles genau so sein muss und nicht anders.

         Damals, in der ersten Hälfte der 80er Jahre, war die Verteidigung des »Analogen«, wie es der Plattenspieler verkörperte, gegen das Digitale, für das die aufkommende, neue Compact Disc stand, für mich zur neuen Mission geworden. Ich fuhr nach Schottland, lernte Ivor Tiefenbrun kennen, den Gründer von Linn. Der österreichische Freund, der die Geräte importierte, hatte mich auf eine Art Pressereise mitgenommen. Auf Ivors, so durfte ich ihn inzwischen nennen, Boot tuckerten wir durch die Lochs, trugen schwul wirkende enge, blaue Wollpullis mit dem schottischen Wappen und der Marke Linn darauf, betranken uns mit schottischem Whisky der Marke Famouse Sprouse und übernachteten in einem plüschigen Pub direkt am Hafen, mit offenem Kamin und enger, knorriger Holztreppe in die Zimmer. Wir waren nur Männer, störte mich nicht. Wenn sich eine Linn-PR-Dame unter all die allein reisenden Männer verirrte, kam mir das immer richtig gefährlich vor, für sie. Ich weiß aber bis heute nicht, ob HiFi-Fans je auf etwas anderes geil werden als auf Hi-Fi. Fotos von geöffneten HiFi-Geräten, die also ihr elektronisches Innenleben zeigen, nannten wir damals schon »Spreads«, in Anlehnung an die »Spreads« in den US-Ausgaben von Penthouse oder Hustler, auf denen Frauen ihre Schenkel spreizten. Ich konnte immer schon und heute noch auf anderes geil werden. Ich weiß nicht, ob ich das eigens hervorheben muss, aber die Unterscheidung vom »normalen HiFi-Fan« ist mir ja auch in vielem anderen wichtig.

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Ivor Tiefenbrun, ca. 1980, Gründer von Linn Products und unfreiwillige Vaterfigur für den MAC

         Loch Tarbert hieß der gottverlassene Küstenort, den ich ein paar Jahre später wie auf einer Pilgerfahrt nochmal besuchte, der aber ohne den charismatischen Ivor viel weniger Wirkung hatte. Ivor Tiefenbrun, ein knorriger Schotte mit Schalk in den Augen, bei dem man nie sicher sein konnte, ob er einen auf den Arm nahm oder nicht, fand mich in meiner Begeisterung und mit meinem Bedürfnis nach Nähe wohl ganz spaßig. Schnell sah ich, dass er sich vor ähnlichen Verehrern kaum retten konnte, und achtete eifersüchtig darauf, seine Aufmerksamkeit nicht zu verlieren.
Dieser Schotte war eine ideale Vaterfigur für mich, er musste mich adoptieren, daran wollte ich alles setzen. Ähnlich wie Günther Nenning, ein anderer Ersatzvater, war er durch und durch ideologisch, rhetorisch in radikaler Opposition gegen den Rest der Welt, in seinem Fall der Audioindustrie, was die anderen herstellten, war »bullshit« oder »crap«. Aber anders als Günther war er auch geschickter Kaufmann, verstand was von Technik und hatte internationalen Glamour und wirtschaftliche Durchsetzungskraft.
Seinen Laden und die Vertriebsorganisation führte Ivor wie eine Sekte, sah amüsiert, wie seine Vertriebsleute und ein Dutzend ihm ergebene Journalisten seine Rhetorik bis in jede Redewendung hinein übernahmen und die Kunde von Linn, dem »mindblowingly« besten Plattenspieler der Welt, dem einzigen, der »sense« mache, über die ganze Welt verbreiteten. Und auch ich war bereit in den heiligen Krieg zu ziehen, für Ivor, für eine bessere Welt, erreicht durch besseren, analogen Klang beim Plattenhören. Die unsympathische und aus unserer Sicht schrill und steril (aus meiner Sicht: kapitalistisch!) klingende CD, die damals schnell erfolgreich wurde, war ein Werk des Teufels. Mir war es mit allem ernst, und ist es heute noch. No Fun.

         Ich hatte gute Voraussetzungen, Ivor zu beeindrucken, und erzielte tatsächlich eine gewisse Wirkung, denn die Zeitungen und Magazine, für die ich damals schrieb, ließen sich gut benützen für Tiefenbrun-Elogen, Linn-Essays, Schottland-Reportagen, also Kampagnen eines analogen Kreuzritters gegen die Mächte des digitalen Bösen in Form größerer und kleinerer journalistischer Texte, für die ich auch noch bezahlt wurde. Ich besuchte HiFi-Messen und träumte davon, eines Tages ein eigenes Linn-Geschäft zu haben, mit integrierter Redaktionsstube. Ich genoss den Vorteil, an die Geräte, die ich mir sonst gar nicht hätte leisten können, stark verbilligt oder sogar gratis zu kommen, zum Test. Der Kampf musste ja immer weitergehen und die Munition waren immer neue, hymnische Artikel, wenn man sich in Glasgow wieder was Neues ausgedacht hatte.

         Ich glaube heute noch, dass dieser Kampf zu gewinnen ist, nur ist inzwischen nicht mehr klar, worum es überhaupt geht. Linn behauptet bis zum heutigen Tag, den besten Plattenspieler der Welt zu bauen, bietet aber auch digitale und Streaming-Technik an, was für mich ein unauflöslicher Widerspruch ist. Der Plattenspieler Linn Sondek LP 12 gibt heute in der höchsten Ausbaustufe ein digitales Signal aus, obwohl es »analog«, mit der Nadel abgetastet wird. Crazy. Entspricht dem heutigen Grundsatz, dass alles digital wird, was digital werden kann.
Ich selber höre strikt analog, obwohl ja auch die Schallplatte heute in mancher Hinsicht digital hergestellt wird, es also eine »reine« analoge Welt gar nicht mehr gibt, wenn man auch aktuelle Musik hören möchte. Auf ähnlich wackeligen Prämissen beruht meine ganze Lebensplanung. Meine Schallplattensammlung, das Futter für den unersättlichen LP 12-Plattenspieler, wächst und wächst und beginnt, mich zu überfordern. Ich kann praktisch nicht umziehen. Was soll daraus einmal werden? Welchen Wert hat die Sammlung, für wen? Wie viel Geld, wie viel Liebe, wie viel Lebensenergie sind darin gespeichert? Oder muss man sagen: begraben?

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