Traum 11*: Jokerman

Ich gehe auf unser Büro in der Fettstraße zu, vielleicht am Ende einer Mittagspause (gab es damals noch), auf der linken Straßenseite, von der Schanze herkommend, nicht von der Christuskirche. Ich beginne unscharf zu sehen, als würde ich schwindelig. Als das Bild wieder schärfer wird, erkenne ich, dass sich die Straße steil vor mir aufwölbt, eisig und glietschig, wie eine mörderisch steile Rodelpiste. Es war plötzlich tiefer, kalter Winter geworden, aber ich hatte keine Empfindung von Kälte. Es war unmöglich, diese Gletscherpiste hochzukommen, das war klar, Hopp und Frenz Content House konnte ich nicht mehr erreichen. Doch die Bühne, die gerade noch die Fettstraße gewesen war, verwandelte sich weiter. Die Gletscherpiste ging jetzt an ihrem oberen Ende in eine Art Glasdach aus Eis über, ich war sozusagen am Grund eines nach oben abgeschlossenen Aquariums. Das Glasdach war begehbar, ich sah von unten Menschen (eigentlich nur die Schuhe) darauf gehen, ganz ohne Aufregung. Ich fand alles ganz okay, empfand keine Angst. Es dauerte nur ein paar Momente, bis das Glasdach einbrach. Bruchstücke von Eisflächen, die Menschen, die gerade noch darauf gegangen waren, sie stürzten auf mich ein. Ich hatte immer noch keine Angst. Und irgendwie auch Glück, denn von dem, was auf mich einstürzte, wurde ich nicht begraben, weil der Boden unter mir nachgab und mich das Gewicht hineindrückte und schließlich hindurch. Unter mir war noch eine Art Welt, in die ich mich nun von oben reinzwängte, wie bei einer Geburt, teils auch über Geröllpisten nach unten purzelnd, aber alles ohne Verletzungen und Schmerzen.

Eher dachte ich die ganze Zeit, ich komme durch, viele Change, okay, aber ich komme durch. Als ich mir, irgendwie am Boden angekommen, Eis und Staub von der Jacke klopfe,  bemerke ich, in welch schlechtem Zustand diese Welt ist. Bilder aus Mariupol. Aber egal, ich muss zu Every Film, unserem Partner für Videoproduktionen, bin mit Pedro Zund, einem ihrer Chefs verabredet. Ich stolpere durch Ruinen auf der Suche nach der bekannten Stahltür, die sonst zu Every Film führt. Da ist sie. Pedro öffnet. Business as usual, denke ich, bis ich realisiere, wie er ausieht: Tiefe, blutunterlaufene Ringe unter den Augen, eine große rote Beule auf der rechten Seite der Stirn, ausgeschlagene Zähne. Wer hat Pedro so zugerichtet? Söldner der Wagner-Truppe? Ich? Ich hatte im wirklichen Leben Streit mit ihm, war zornig und aggressiv. Ich bekomme schon Angst vor mir selbst. Alles tut mir leid, so leid. Pedro, kannst Du mir verzeihen? Ich habe jetzt das meiste von meiner Gelassenheit verloren. Ich muss weiter. Ich habe vergessen, wo hin. Ich stolpere durch weitere Ruinen. Das ist doch meine Welt, Agenturbranche, oder das war sie. Wie in „Planet der Affen“. Jetzt beginnt der Boden unter mir wieder nachzugeben, und ich wache auf.

* Diesen Traum träumte der Mann auf der Couch am frühen Morgen des 23. März 2023, nach einer schlechten Nacht. Im Laufe der folgenden 48 Stunden wirkte der Traum wie ein Medikament. Der Mann auf der Couch erzählte den Traum Eva, mit allen Risiken die eine Nacherzählung in sich trägt, aber was wäre die Alternative? Eva reagierte weniger begeistert. Schade, dass Doktor Von tot ist, dachte ich, sie hätte mich mit ein, zwei kurzen Bemerkungen aus dem Traum wieder rausgeholt oder in der Story anderes gesehen, als ich es vermag. Die Interpretation erfolgt wie immer auf eigene Gefahr, dies gilt auch für die Leser dieses Blog, sofern sie sich darin üben wollen.  M.H.

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Ein anderer Weg zur Seele: Mandala, nach C.G. Jung

Ein Traum wie ein Joker

Auszug aus „Mann auf der Couch“, ab Seite 131, Textem Verlag, Hamburg, 2021

Ich wusste es zwar und hatte Freuds Traumdeutung zu Hause stehen, trotzdem hatte ich es über Jahre nicht richtig kapiert: Das Besprechen der Träume ist das Wichtigste in der Psychoanalyse – und es ist etwas, davon bekam ich dann doch eine Ahnung, das immer hilft. Das ist selbst dann so, wenn man es nicht gleich bemerkt oder ein Traum zunächst unverständlich oder sinnlos scheint und auch die Besprechung kein Ergebnis bringt, jedenfalls nicht für den Moment. In der Betonung von Traumdeutung unterscheidet sich die Psychoanalyse von allen anderen Therapierichtungen.

Das wusste ich, und ich vertrat es auch überheblich in Gesprächen in der Familie oder mit Freunden. Trotzdem verhielt ich mich in den Stunden oft anders, indem ich die beiden Therapeutinnen mit Schilderungen aus dem Alltag überschüttete, in einer dringlichen, Mitleid heischenden, auf Identifikation abzielenden Weise. Gleich zu Beginn der Stunde, ohne die Chance zu nutzen, dass sie vielleicht auch einen anderen Verlauf nehmen könnte.

Mit Doktor Von in Hamburg hatte sich mit der Zeit eine Struktur der 50-minütigen Stunde herausgebildet. Die ersten 20 Minuten ließ sie mich gewähren, um dann den Versuch zu unternehmen, den endlosen Redefluss von seltsam verbittert vorgetragenen Alltagsbanalitäten zu unterbrechen. Meist mit der in eine Pause hinein gestellten Frage: »Haben Sie einen Traum mitgebracht?« Wenn ich zu dem Zeitpunkt der Stunde schon frustriert oder verärgert war, was immer wieder mal vorkam, antwortete ich darauf eventuell mit einem gequälten »Nein, ich träume im Moment nicht, dafür schlafe ich viel zu schlecht« (in der Erwartung, bei Doktor Von den anteilnehmenden Gedanken »Warum schläft er denn so schlecht, der Arme, hilft die Therapie denn nicht?« auszulösen) oder mit einem trotzigen »Ich weiß nicht, ich kann mir meine Träume nicht merken im Moment«.

Es gab eine Phase – es war ein langer warmer Sommer, eine Zeit, die ich damals als zusammenhängend empfand -, als ich die Bedeutung des Gesprächs über die Träume fast übertrieben stark beherzigte. In der Zeit begann ich die Stunden mit der Schilderung eines Traums – ohne Erwähnung alltäglicher Ereignisse, ohne anekdotische Rückgriffe auf die Kindheit. Keine 20-minütigen Intros, sondern sozusagen von null auf hundert. Der Nachteil der Methode war, dass es kaum einen Traum gibt, der sich 50 Minuten am Stück behandeln lässt, sodass sich die Frage nach einem Thema für die verbleibende Zeit stellte. Selten war jedoch ein zweiter aktueller Traum zur Hand. Also kam ich auf meine Alltagsgeschichten zurück, die sich allerdings in der zweiten Hälfte der Stunde schon anders anfühlten. Anders, als wäre ich damit gleich mit der Tür ins Haus gefallen.

Einen Traum aber gibt es, den konnte ich wie einen Joker immer einsetzen, wenn die Zeit in der Stunde lang wurde. Es ist ein Traum, den ich wahrscheinlich als Kind geträumt hatte, und wahrscheinlich die Jahre danach auch immer wieder, romantisch könnte man sagen, es handle sich um meinen »Lebenstraum«, oder um einen zentralen Traum, das klingt fachmännischer. Meine Oma musste ihn sich schon anhören, der Kinderarzt, der Schulpsychologe, die Mitstreiter diverser gruppendynamischer »Gruppen«, die ich in den 70er Jahren besuchte, die erste Analytikerin, die zweite, aber auch über all die Jahre Frauen, deren Nähe ich suchte. Immer erschien mir dieser Traum das geeignete Vehikel, etwas über mich zu erzählen. Und damit eine Wirkung zu erzielen, die Anteilnahme praktisch erzwingt.

Mir fällt es schwer, diesen Traum aufzuschreiben. Gebe ich ihn damit weg? Bei den Analytikerinnen konnte ich ihn immer wieder neu erzählen. Nicht nur, wenn er mir in der Nacht davor erschienen war.

Ein Traum ist keine feststehende Aufnahme, die immer gleich bleibt, wenn man sie abspielt. Ein Traum ist eher wie ein guter Song, der immer neue Verbindungen mit einem selbst und mit anderen eingeht, sich immer wieder neu anfühlt. Der vergangene Traum erscheint einem auch nicht, das klingt zu sehr nach Filmvorführung, nach zurücklehnen und später interpretieren. Ein Traum ist immer live. Der Träumer ist der Autor und der Regisseur und er spielt alle Rollen, er ist alle Rollen. Aber es gibt keine Aufzeichnung, nur die Erinnerung an die eine Aufführung. Ein Traum ist auch keine Story, auch wenn es in der Vermittlung keine andere Form gibt als die der Nacherzählung. Oft hatte ich das Gefühl, dass ich den Traum in der Stunde nicht gut nacherzählt hatte, nicht richtig. Oft vielleicht auch absichtlich falsch, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Und immer auch zensierend, allzu Beschämendes weglassen, die Pornoszenen rausschneiden.

Na ja, ich träume nie Porno. Höchstens ein Gefühl von Anfassen oder angefasst werden, aber ohne richtige Bilder.

Mit dem Erzählen von Träumen kann man sein Gegenüber manipulieren. Noch mehr aber sich selbst. Über Träume zu lügen, ist die einzige Lüge, die nie jemand aufdecken kann. Das ist verführerisch. Aber ich muss mich nicht quälen mit solchen Gedanken. Wahrscheinlich ist es so, dass die Analytiker gar nichts anderes erwarten, als ständig Unwahres, manipulativ Nacherzähltes aufgetischt zu bekommen. In der Summe ergeben auch all die Unwahrheiten ein Bild. Und sicher verrät man sich da, wo man es am wenigsten glaubt. Man könnte auch sagen: Ein Traum ist am Ende das, was man daraus macht.

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Mit Mami in der Folterkammer

Ein Traum hat auch keine Länge, die sich in Zeit messen ließe. Als der Traum, um den es hier geht, noch neu war, schien er mir ewig lang. Später wurde er immer kürzer. Das Unheimliche war, dass er immer wiederkam, auch in Versionen, ich während des Träumens aber nicht bemerkte, dass es sich um eine Wiederholung handelte. Erst im Aufwachen konnte ich erkennen, dass es wieder derselbe Traum war.

Nach diesem Muster brauchte es auf der Welt nur einen Film zu geben, denn jedem Menschen käme er bei jedem Mal Ansehen neu vor. So eine Art Fluch. Dazu verdammt, immer wieder … Das Rumpelstilzchen zerreißt sich in der Luft, als die Müllerstochter seinen Namen nennt. Bei meinem Traum hat das nicht funktioniert, es war ihm egal, ob ich Worte für ihn gefunden hatte. Erst in den letzten zwei, drei Jahren ist er verschwunden. Der Traum handelt von Angst, wenn ich es in einem Satz sagen müsste.

Also, raus damit. Was soll schon passieren? Noch eine falsche Nacherzählung. Ich mache es kurz. Je kürzer ich es mache, desto weniger kann falsch sein, rein auf die Menge von Worten bezogen. Das ist die Story, das sind ihre wiederkehrenden Elemente:

Ich bin mit meiner Mutter in einer engen Kammer ein-gesperrt, so etwas wie eine Umkleidekabine im Schwimm-bad. In der Tür der Kabine ist ein Loch und durch dieses Loch steckt eine Hexe einen ihrer langen, dünnen Finger. Ich stehe da mit nacktem Oberkörper und habe quälende Angst, dass der Finger der Hexe meine Brust berühren könnte – das darf auf keinen Fall passieren. Meine Mutter, sie ist kleiner als ich, steht hinter mir, ich versuche, sie mit meinem Körper zu schützen. Der Finger der Hexe kommt immer näher, was bedeutet, dass ich meine Mutter immer mehr an die hintere Wand der Kabine drücken muss. Das kann nicht lange gut gehen. Ich schreie vor Angst – und wache auf.

Jetzt steht er da, der Traum. Ich kann das gar nicht durchlesen. Wie finden Sie ihn, den Traum? Haben Sie jetzt Mitleid mit mir? Habe ich Sie mit meiner Scham angesteckt?

Einmal habe ich diesen Text vorgelesen, öffentlich, vor Leuten, die mich nicht kennen. Es blieb still, während ich las. Die Leute hörten zu. Aber nachher, nach der Lesung, wollte niemand mit mir sprechen. Als ob ich schlecht röche, stänke. Das Interpretieren des Traums ist ja auch irgendwie Scheiße. Nur so viel: Ich bin mit meiner Mutter in einer bedrohlichen, sehr engen Situation. In einer Höhle. In einem Uterus. Das ist schon verkehrt. Ich müsste ja in ihrem Bauch sein, aber sie ist offenbar auch noch Kind. Ich bin damit überfordert, sie zu beschützen, kann es aber auch nicht sein lassen. Nehme ihr auch die Luft zum Atmen, indem ich mich gegen sie drücke. Aber wer ist die Hexe? Und der Zeigefinger, der uns bedroht? Nicht berühren, sonst bist du tot. Nicht berühren.

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