Sind Radfahrer links?

Am Foto oben seht ihr das Fahrrad des MAC, edel aufgestellt vor dem edlen Restaurant „Il Buco“ im nicht überall edlen St. Georg, gegenüber des Waschsalons, den der MAC mit klassisch-Ikea-blauer Tragetasche am Gepäckträger jeden Freitag mit ebendiesem Rad ansteuert. Seit mehr als einem Jahr hat der MAC kein Auto und macht alles mit dem Rad. “Macht” ist das richtige Wort, denn es ist mehr als Fahren. Die kurzen Wege in St. Georg ohnehin, aber auch weitere Ausfahrten auf die Schanze (3001 Kino, Café Unter den Linden), nach St. Pauli (Café Geier) ins Univiertel (Ponybar, Abaton, MASCH), aber auch ins fernere Lokstedt (WOCHENENDER), nach Altona (El Brujito), an Elbe oder Alster. Also überallhin, in der kleinen Welt des MAC.

Vor kurzem geriet er, der MAC, in eine Fahrrad-Demo am Klosterwall. Der Pulk (?) war vor der Ampel zum Stehen gekommen und der MAC ärgerte sich zunächst nur über die unübersichtliche Situation. Irgendwie kriegte er dann mit, dass die Radlerhorde (?) nur stehen geblieben war, damit die hinterher-kommenden Mitradler aufschließen können. Da aber von vorne alles von der Polizei bewacht war, wagte der MAC nicht, völlig alleine über die riesige Kreuzung zu radeln und blieb neben Teilnehmer*innen der Demo einfach auch stehen. Erst als es dann wieder losging und auch der MAC sein Rad wieder in Bewegung setzte, merkte er, dass er sich  sozusagen in die erste Reihe der Demo geschummelt hatte.

Heissa! Nach der anfänglichen Angst, nicht schnell genug zu sein, die sich bald als grundlos erwies, war der MAC nun mit jedem zurückgelegten Meter stärker erfasst von der Faszination der gemeinsamen, kollektiven Ausfahrt, die mit dem Wort Fahrrad-Demo ganz unzulänglich beschrieben ist. Es ist wie Demo, nur das das ganze mehr Schwung hat, mehr Dynamik, mehr gemeinsames Atmen und Keuchen und Schwitzen, ein wuchtigeres, physischeres Gefühl von „Masse“ und damit natürlich auch Macht. Martialische Beats von den Lautsprecherwagen heben das Adrenalin– die Straße gehört  erstmal uns – und wem die Straße gehört, dem gehört bald auch alles, oder nicht? Dem MAC fallen Bilder aus der Vergangenheit ein, als er als sehr junger Mann, mit 14, Maoist war, sich von der chinesischen Botschaft in Wien Mao-Bibeln, Mao-Buttons und Aufkleber („Nicht für die Schule, für das Volk lernen wir“) und Peking-Opern auf bunten Single-Schallplatten holte – und davon träumte,  mit seinem Fahrrad mit den Massen der Fahrräder mitzufahren, die in China den Verkehr ausmachten, das hätte der junge MAC toll gefunden. Kein Führerschein und trotzdem mitten auf der Strasse.

china, handicraft
In China gehören Fahrräder zur Revolution. Gescheitert ist sie jedenfalls nicht an den Fahrrädern

Die stumme Macht im Staat

Ein, zwei Kilometer fuhr der MAC mit, hoch Richtung Reeperbahn, löste sich dann aus der Demo und wie erst Euphorie, Begeisterung und Identifikation gewachsen waren, war es nun die Nachdenklichkeit. Was war komisch an dieser „Demo“, sofern sie eine war? Es gab keine Parolen. Zurückdrängen des Autoverkehrs, mehr Sicherheit für Fahrradfahrer, bessere und mehr Radwege, die Forderungen an die Politik sind klar und stehen in jedem Parteiprogramm, AfD weiß ich nicht. Eventuell wird diesen Forderungen mit Fahrrad-Demos mehr Nachdruck verliehen, ohne dass sie zum millionstenmal angesprochen werden müssten. Ca. 80 Millionen Räder gibt es in Deutschland (doppelt so viele wie Autos) und ca. 40 Prozent der Deutschen nutzen das Fahrrad täglich. Die Radfahrer sind eine so große Gruppe, dass sich alle Parteien um sie kümmern müssen. Eigentlich sind sie eine Macht im Staate, allerdings eine stumme.  Würden beide Gruppen, die Autofahrer und die Radfahrer Parteien gründen, sie wären in etwa gleichauf. Auch in Fragen der Mobilität zerfällt die Gesellschaft in zwei etwa gleich große Hälften. Wie aber ticken die Radfahrer politisch, über die Radfahrer-Bedürfnisse hinaus? Darüber weiss man wenig. Sind sie links? (Dann wären wir ja viele !) Oder lassen sie sich zur Zielgruppe der Linken erklären? Ein wie großer Teil von ihnen wäre bereit, Karl-Marx-Das-Kapital-Lesekurse zu besuchen, wie der MAC das tut? Sind sie, zumindest potentiell, ein Motor der Veränderung? Kann man mit dem Rad Revolution machen? Oder bilden sie nur, weil sie schon so viele sind, einfach den deutschen Mainstream ab, auch politisch? Auf der anderen Seite ist Fahrradfahren (vor allem, das Fahrrad als Hauptverkehrsmittel zu nutzen) in Zeiten des Klimawandels ein politisches Statement, ob ausgesprochen oder nicht, nicht nur wegen Null-Emissionen sondern auch wegen der mit der Abkehr vom Automobil verbundenen Abkehr von Ressourcenverschwendung und Überproduktion.

Was der MAC täglich auf der Straße erlebt, zahlt eher auf die Mainstream-These ein. Es gibt alles bei den Radfahrern, gemütliche Hollandrad-Sonntagsfahrer*innen (stark im Rückzug) wie herrische Raser und Drängler in windschnittigen High-Tech-Outfits. Das Tempo auf den Radwegen und irgendwie auch die Rücksichtslosigkeit steigen mit den E-Rädern und mit den Lastenrädern, die ihre Kindersärge wie Rammböcke vor sich herschieben. Soziale Unterschiede zeichnen sich immer deutlicher ab auf den Radwegen. Wenn der MAC auf einem geschenkten und dann nach und nach instandgesetzten Arbeiter-Fahrrad mit drei Gängen (Torpedo-Schaltung) unterwegs ist, wird er von x—fach teureren, in jeder Hinsicht besseren (und sichereren, und leichteren) Carbonflitzern überholt, in denen das gesammelte Know How von BMW steckt. Eine eigene Spezies sind die Luxus-Lastenradler geworden, die ihre Klimascham beruhigen, indem sie viel Geld für Räder ausgeben und sich aus dieser moralischen Überlegenheit auch erlauben, mit ihren viel zu mächtigen Gefährten andere zu gefährden und zu behindern. Und die in Eppendorf, die haben wenn es regnet, eh noch einen SUV in der Garage steht, aber das sagen wir nicht weiter.

Naja, irgendwie doch nur Kapitalismus as usual? Sieht so aus. Aufgebaut hat den MAC ein Artikel in der Wochentaz, der auf umfassendere Art einen Überblick gibt darüber, was am Fahrradfahren tatsächlich politisch ist.

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Fahrrad-Forscher Jody Rosen träumt von einer autofreien New York-City

Interview: Warum wird das Fahrrad nicht mehr eingesetzt, um Macht auf der Strasse zu zeigen?

Gespräch mit dem US-amerikanischen Autor Jody Rosen über das Fahrrad als politisches Instrument

wochentaz: Herr Rosen, Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, „der heutige Fahrradboom” sei „ohne Frage der größte in der Geschichte und hat unzählige Millionen Radfahrer fast überall auf der Erde mitgerissen” Haben wir etwa wirklich den Peak der Fahrradbegeisterung erreicht?

Jody Rosen: Nein, das sicher nicht: Wir leben immer noch in einer Welt der Autofahrer. Aber die Fahrradinfrastruktur bessert sich in einigen westlichen Metropolen langsam, denken sie nur an London und Paris. In Paris plant die Bürgermeisterin gerade Fahrverbote für Autos im historischen Zentrum ab 2024. Zudem ist die Entwicklung von Bikesharing bei Weitem noch nicht abgeschlossen.

Wie ist es in Ihrer Heimatstadt New York?

In New York City sollte schon 2019 die Mautgebühr für Autofahrer eingeführt werden, es hat Jahrzehnte gedauert, das durchzusetzen. Jetzt endlich, endlich wird die City-Maut für Manhattan kommen. Wir werden sehen, wie sehr das den Stadtteil-auch was, die Feinstaubbelastung angeht – entlastet und wie positiv sich dies auf den Verkehr auswirkt.

Müssen die Autos ganz raus aus den Städten?

In meinen Träumen ist New York City eine autofreie Stadt. Aber alle Experten plädieren für ein reichhaltiges Angebot an Transportmöglichkeiten: U-Bahn, Bus, Fahrräder, Motorroller und sogar einige Autos für Fahrten, bei denen man ein Auto braucht. Realistischerweise erkennen wohl auch die meisten Fahrradaktivisten, dass eine grünere, sauberere Art von Autos vor allem für den Transport auch weiter eine Rolle spielen muss. In Deutschland zeichnet sich in den meisten Umfragen überhaupt keine klare Mehrheit für autofreie Innenstädte ab.

Glauben wir nicht nur aus unserer linksliberalen Blase heraus, dass diese angestrebt werden?

Sicher ist viel Wunschdenken bei den Radaktivisten dabei. Selbst in den linksliberalsten Städten ist noch viel zu tun, um die Menschen davon zu überzeugen, ihren autoorientierten Lebensstil aufzugeben. Meiner Meinung nach ist es der falsche Ansatz, eine „klare Mehrheit” für autofreie Innenstädte zu suchen. Es gibt viele wichtige Maßnahmen, die von Kommunen ergriffen wurden und die zumindestanfangs keine Unterstützung in der Bevölkerung fanden – das Rauchverbot in Bars und Restaurants hier in New York ist ein Beispiel aus der jüngeren Geschichte. Was wir brauchen, sind visionäre Führungspersönlichkeiten, die auch bereit sind, sich politisch angreifbar zu machen, um die Städte besser befahrbar, sicherer und nachhaltiger zu machen.

Zuletzt gab es große Entwicklungsschritte beim Fahrrad. Das E-Bike boomt, das Lastenrad hatte seinen Durchbruch. Wie wird sich das Fahrrad Ihres Erachtens in Zukunft entwickeln?

Die Entwicklung des E-Bikes hat die Fahrradkultur weltweit verändert – und wird sie weiter verändern. Es ist eine der wichtigsten Entwicklungen in der Geschichte des Fahrrads. In vielen Gegenden der Welt wer. den gerade E-Bike-Sharing-Programme eingeführt. Pendler, die zur Arbeit fahren wollen, haben bislang bei längeren Strecken vielleicht gezögert, zum Rad zu greifen – weil es anstrengend ist und man verschwitzt bei der Arbeit ankommt. Mit dem E-Bike kann er solche Strecken aber ganz bequem bewältigen. Ich nehme jetzt selbst auch gelegentlich das E-Bike. Ich wohne in Brooklyn. Es ist irre, wie schnell ich damit über die Brooklyn Bridge nach Manhattan sausen kann! Das E-Bike ist eine erstaunliche Maschine. Ich glaube, es kann eine Menge Fahrradskeptiker bekehren.

Was bewirkt der Boom der Lastenfahrräder?

Immer mehr Lieferfahrzeuge in den USA sind Lastenfahrräder, viele davon wahrscheinlich E-Bikes mit Tretunterstützung. Auch Amazon nutzt in den USA schon E-Bike-Lieferfahrzeuge. Sicher, Amazon ist ein mindestens problematisches Unternehmen- aber das ist dennoch eine positive Entwicklung. Lastenfahrräder sind nun einmal energieeffizienter, schneller und günstiger und lohnen sich deshalb immer mehr für Unternehmen.

In Ihrem Buch preisen Sie das Fahrrad als Symbol für Individualität und Freiheit. Genau das ist aber für die meisten Menschen in der westlichen Welt weiterhin das Auto.

Zweifelsohne ist das Auto für viele ein Freiheitssvmbol. Ich spreche in meinem Buch vor allem von der ersten Hochphase des Fahrradbooms Ende des 19. Jahrhunderts. Damals hat das Fahrrad den Menschen ein neues Ausmaß von persönlicher Freiheit und Mobilität verschafft. In gewisser Weise hat es diesen Status behalten: Das Gefühl, das man als Kind bekommt, wenn man zum ersten Mal auf ein Fahrrad steigt und plötzlich Autonomie und Bewegungsfreiheit erfährt – das vergisst man nicht. Auch wenn man auf einem Fahrrad draußen in der Natur unterwegs ist, ist das ein anderes Freiheitsgefühl als mit dem Auto.

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Fahrräder spielte eine wichtige Rolle in der Geschichte der Frauenbewegung

Sie schreiben über die misogynen Aspekte in der frühen Geschichte des Fahrrads. Frauen, die Fahrrad fuhren, wurde ein „Fahrradwahn” attestiert. Das erinnert ein bisschen an den Hysteriediskurs bei Sigmund Freud.

Das Fahrrad gab den Frauen eine Freiheit, die man ihnen damals nicht zugestehen wollte. Sie waren plötzlich mobil, konnten umherziehen. sich besser vernetzen und schließlich das Wahlrecht einfordern. Das Fahrrad spielte eine wichtige Rolle in der Frauenbewegung, sowohl in den USA als auch in Großbritannien und anderswo im Westen. Sie haben Freud erwähnt, auch das ist interessant: es gab eine Moral Panic, es wurde debattiert, was Frauen mit einem Fahrrad alles anstellen könnten, das Fahrrad wurde sexualisiert. Aus heutiger Sicht ist das lächerlich.

Das Fahrrad war erst auch Weißen vorbehalten, der US-Fahrradverband League of American Wheelmen verbot zunächst die Mitgliedschaft von Nichtweißen. Es gab lange sehr wenig schwarze Radsportler*innen. Ist das Fahrrad auch heute noch ein weißes Fahrzeug?

Ich wäre gern noch mehr um die Welt gereist, um das genauer sagen zu können. Was ich bei der Literatur über die Geschichte des Fahrrads festgestellt habe, ist, dass es sich um eine extrem euro- und US-zentrierte Literatur handelt. Dabei spielt das Fahrrad in Afrika, Asien und Lateinamerika eine wichtige Rolle. Aber in manchen US-Bundesstaaten wird es geduldet, wenn die Polizei Schwarze Radfahrer schikaniert. Ich denke, wir Fahrradliebhaber sollten diese Probleme viel deutlicher ansprechen. Das Establishment der Fahrradaktivisten ist nämlich weiß und männlich.

Sie schreiben über das Fahrrad als Demonstrationsfahr-Zeug. Als Beispiele nennen Sie die Demokratiebewegung in China 1989 oder Black Lives Matter. Die weltweite Bewegung Critical Mass nutzt explizit immer Fahrräder für ihre Demos. Warum wird das Fahrrad nicht noch viel mehr eingesetzt, um die Macht auf der Straße zu erobern?

Es ist sicher das Ziel von Critical Mass, dass das noch öfter geschieht. Das Konzept haben jedenfalls schon einige andere Bewegungen für sich entdeckt.Es gibt Bike Buses in den USA, Barcelona und anderswo, bei denen große Gruppen zusammen durch die Stadt fahren, um von A nach B zu kommen – vor allem Gruppen von Schulkindern. Auch das ist eine Form von Fahrradaktivismus. Es gibt außerdem das Phänomen der sogenannten Rideouts: Über den Hashtag #BikeLife findet man Aktionen vor allem von Schwarzen Jugendlichen, die auf den Straßen New Yorks oder Londons Stunts auf Fahrrädern machen und so den öffentlichen Raum für sich beanspruchen.

Sie schreiben auch darüber, wie man die Energie, die beim Fahrradfahren entsteht, nutzen könnte. Wir reden in Zeiten der Klimakrise viel über regenerative Energien. Sollen wir bald mit Pedalkraft unsere Smartphones laden?

Ja, warum nicht? Im Buch schreibe ich über eine Gruppe US-amerikanischer Aktivisten, die sich in den Siebzigern den Einsatz pedalbetriebener Geräte in Landwirtschaft, Industrie und unseren Häusern vorgestellt haben. Sie argumentierten, dass die Pedalkraft das Potenzial habe, die Umwelt zu heilen und „Millionen” von der Plackerei der traditionellen Arbeit zu befreien. Das war natürlich eine wilde Fantasie. Vielleicht ist das auch ein bisschen weit hergeholt. Aber warum sollte man in der gigantischen Klimakrise, in der wir uns befinden, nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen, um alternative Energiequellen zu nutzen?

Sie haben auch über sogenanntes Slow Cycling geschrieben. Was hat es damit auf sich?

Das ist ein Trend, der auf den dänischen Fahrradaktivisten und Stadtplaner Mikael Colville-Andersen zurückgeht. Er hatte einen Blog namens Copenhagen Eyes, er hat die Phrase „Cycle Chic” geprägt. Fahrradfahren war für ihn ein modisches Statement. Auf Colville-Andersen geht auch der Begriff „Slow Bicycle Movement” zurück. Damit will man der hohen Geschwindigkeit, mit der wir uns alle durch das digitale Zeitalter bewegen, etwas entgegensetzen. Es geht um achtsames, bewusstes, gemächliches Fahrradfahren. Das ist eine Art historische Ironie, denn als das Fahrrad im 19. Jahrhundert aufkam, war es die Geschwindigkeitsmaschine schlechthin.

Jody Rosen, Jahrgang 1969, wohnt und arbeitet in den USA als Journalist und Autor. Sein Buch „Two Wheels Good” veröffentlichte er 2022 bei Penguin Random House.

Quelle des Interviews: wochentaz, 26. August – 1. September 2023

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