„Es liegt für alle auf der Hand, dass es so nicht weitergeht“

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Gespräch mit Paul Sochacki, Gründer der Zeitung „Arts of the Working Class“, die mehrsprachig erscheint und großteils auf der Straße vertrieben wird. Sie ist in Berlin, London, Los Angeles, New York, Helsinki, Vienna, Graz, Quito, Toronto und Neu Delhi erhältlich. Mit 70.000 Exemplaren gehört sie zu den auflagenstärksten Kunstzeitungen. Michael “MAC” Hopp traf Paul Sochaki am letzten Wochenende auf der Indiecon im Hamburger Oberhafen. Das Interview fand zwei Tage später per Video statt, nachdem Paul nach Berlin zurückgekehrt war

Was mich am meisten begeistert, ist euer Titel! Wie fasst ihr „working class“auf? Marxistisch?

Als Künstler sind mehrere Perspektiven auf den Titel „Arts of the Working Class“ relevant und augenscheinlich. Im Wort artwork wird schon die Abstraktion von Arbeit sichtbar, eine Abstraktion, die  in der Kunstgeschichte viele Wandlungen vollzogen hat, bis hin zu einer immateriellen Arbeit, deren Wert vertraglich fixiert ist und mit dem spekuliert werden kann. Gleichzeitig ist aus einer marxistischen Perspektive jeder Mensch der Arbeiterklasse angehörig, der darauf angewiesen ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Fürwahr birgt die Arbeiterklasse viele feine Unterschiede in sich und es entstehen immer neue Gruppen, denn der Klassenkampf gegen das arbeitende Subjekt ist am effektivsten,  wenn er  beständig ausgeweitet wird. Unsere Zeitung verkaufen oft Arbeiter*innen an andere Arbeiter*innen, auch wenn die gesellschaftliche Konditionierung den Anschein erwecken will, man müsse sich abgrenzen, gehöre anderen Schichten an. 

Wie lange gibt es „Arts of the Working Class“ und was ist die Idee?

„Arts of the Working Class“ gibt es seit gut fünf Jahren. Die erste Ausgabe war ein Experiment, das bewährte Konzept der Straßenzeitung explizit als eine Sprachform im Kunstbereich zu etablieren. Die Kunst ein kultureller und sozialer Bereich, in dem durch Konkurrenz und Verknappung der Mittel nur sehr wenige etwas verdienen können. Wir wollen mir „Arts of the Working Class“ zeigen, dass Geld als auch Aufmerksamkeit anders verteilt werden können.

Um bei der Zeitung zu bleiben – du sagst „Straßenzeitung“. Was genau verstehst du, auch im Hinblick auf den Vertrieb, genau unter diesem Begriff? Wird die Zeitung konkret von Obdachlosen vertrieben?

Dass Zeitungen allgemein von Straßenverkäufern vertrieben werden, ist nun praktisch nicht mehr gegeben. Erst Anfang der 90er formten sich große Netzwerke aus Straßenzeitungen, sozialer Arbeit und sozialen Infrastrukturen, die notwendig waren, um die Folgen von Obdachlosigkeit, Drogenkrise etc. abzufedern. Seitdem steigt die Zahl der Menschen, die ohne Obdach oder drogenabhängig sind, immer weiter und alle Maßnahmen reichen nicht aus. Es müsste eigentlich in allen ökonomischen Bereichen ein Umdenken stattfinden. Wie können Menschen, die rausfallen, aufgefangen werden? Ich habe 20 Jahre Erfahrung im Kulturbetrieb und habe auch da gesehen, wie die Fehler und Fallen strukturell eingebaut sind.

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Die Kunstzeitung im Vertrieb auf der Strasse – ein wichtiges Element des Konzepts

Du hast im Prinzip zwei Gruppen, die Obdachlosen und die prekären Künstler, die unter Umständen teilweise schon nah dran sind an der Obdachlosigkeit. Was bedeutet das für das Selbstbewusstsein der Künstler? Viele prekäre Künstler gehen vielleicht noch Anschauungen nach, sie seien – zumindest potentiell – was „Besseres“. Oder haben sie es sich in einer Art Opferrolle eingerichtet? Geht es darum, sie durch Aufdecken der Situation in ein kämpferisches Subjekt zu verwandeln, also mittels Selbstermächtigung aus der Opferrolle rauszuholen?

Opfer gibt es mehr oder weniger in allen Bereichen. Im Kunstbereich vielleicht besonders viele, gleichzeitig als Stigma des Scheiterns tabuisiert. Die Probleme beginnen bereits beim Kunststudium, wie es konstruiert ist, auf welche Marktnischen es ausgerichtet ist und wie wenig Kapazität diese haben, welche Ideologien es vermittelt, und wie weit diese hermetisch isoliert sind. Praktische wie theoretische Werkzeuge zielen auf marginale Märkte und nicht auf die verbindende Realität.

Es gibt sicher auch  Bereiche, wo die Konkurrenz, die aus der Vereinzelung kommt, den Unterschied macht. Wie Flüchtlingswellen z.B. auch immer wieder mißbraucht werden, um Konkurrenz zu schaffen auf dem Arbeitsmarkt, um Löhne zu drücken und Leute noch abhängiger zu machen. Im Kunstbereich gibt es extrem hohe Konkurrenz. Aus der Sparte der fünf Prozent, für die es noch gemäßigte Privilegien gibt, fällt man schnell heraus. Bei den Unternehmensberatungen gab es mal einen Trend,  Kunst als Beispiel der Optimierung zu nehmen, weil man hier in vielem so weit voraus ist, etwa in Exklusion und Selbstausbeutung, was für Profitmaximierungen sehr attraktiv erscheint.

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Paul Sochacki (im rosa Pulli) mit dem Redaktions- und Verlagsteam der im Frühjahr 2018 in Berlin gegründeten Straßenzeitung
»Arts of the Working Class«: Amelie Jakubek, Elisa Fuenzalida, Dalia Maini, Ido Nahari, Giorgia Belotti, Pauł Sochacki, María Inés Plaza Lazo (v.l.n.r.)

Die Zeitung behandelt die Themen Armut, Reichtum und Kunst, die auf den ersten Blick unterschiedlich sind. Nach meiner Beobachtung ist es so, dass den Studenten sehr früh vermittelt wird,  dass über 90 Prozent nicht von der Kunst leben werden können und dann unter Umständen prekär leben müssen. Es wird aber nicht gesagt, dass das die Folge einer strukturellen Ausbeutung ist. Wie würdest du den Ausbeutungsfaktor beschreiben? Ich würde ihn so beschreiben, dass der Kunstmarkt die Vielfalt benötigt, die von dieser Breite von prekären Künstlern produziert wird. Die ausgebildeten Künstler erzeugen einen Wert, werden aber für diesen Wert nicht bezahlt, während der Kunstmarkt den Mehrwert abschöpft, davon aber nichts abgibt, sondern die Verantwortung an den Staat oder die Öffentlichkeit abgibt, damit diese die Leute auffangen. Kann man das so sehen?

Die Idee, dass der Kunstmarkt Werte und Vielfalt produziert, ist ein bourgeoiser Trugschluss. Der Kern des Kunstmarktes ist bestimmt durch Moden und Uniformitäten. Durch die Konkurrenzsituation und den Überfluss an Arbeitskraft im Kunstmarkt entsteht eher ein Wenigerwert. Es gibt diese Ideologie, dass durch Konkurrenz etwas Besseres geschaffen wird. Dem ist aber nicht so. Durch Konkurrenz wird nur der Preis gedrückt. Dann kommt noch der Effekt der Spekulations-Pyramide hinzu, was bedeutet, weniger Wert für alle, deren Kunst kein Spekulationswert zuerkannt wird – denn die Spekulationskunst zieht das Geld aus dem eigentlich schon überschaubaren Markt. Insofern leben wir in einer Wenigerwert-Produktion. Und der Kunstmarkt macht nichts anderes, als den Schaden, den er anrichtet, auf den Staat abzuwälzen.

Was wäre die Konsequenz daraus? Müsste der Kunstmarkt und nicht die öffentliche Hand, die prekären Künstler finanzieren? Also etwas abgeben, von den Gewinnen, die gemacht werden?

Ja, aber natürlich geht es in die andere Richtung weil du auf einen sechstelligen Kunstverkauf eine vergünstigte Steuer zahlst und keine Luxus- oder Solidaritätssteuer. Es bleibt nur eine kleine Künstler-Sozialkasse-Abgabe. In sozialistischen Ländern war es so, dass Künstler Anstellungen fanden und ihre Arbeit produktiv genutzt wurde und nicht zu 90 Prozent im Mülleimer landete. Bei uns landet Kunst heute entweder in einem bourgeoisen Salon oder im Mülleimer, weil ein bestimmter Bereich der Gesellschaft ohnehin nicht als Kunde von Kultur gedacht ist. In den darstellenden Künsten ist es noch ein bisschen demokratischer, aber im Kunst-Kunstbereich sind jegliche Demokratievorstellungen nur Anschein. Im Schatten dieses Scheins finden natürlich viele, oft sehr prekär organisierte Projekte statt, die Werte für Gemeinschaften schaffen, aber sehr auf der Hut sein müssen, nicht von Aussen kannibalisiert zu werden.

Du bezeichnest den Kunstmarkt als „bourgeoise”.  Woran machst du das fest?

Es ist eine Struktur, die als kleine bunte, leckere  Torte auf einem sehr großen Eisberg sitzt, der wesentliche Strukturen der kapitalistischen Ausbeutung auf die Höhe treibt. Deswegen ergibt sich ich fast schon die Notwendigkeit, weniger auf den Kuchen zu gucken, sondern eher auf den Eisberg an Strukturen, der darunter liegt. Es mangelt an demokratischen, sozial nachhaltigen Verwertungs- und Entwicklungsformen für Kunstschaffende, wie sie ihr künstlerisches Potential in der Gesellschaft einbringen können. Es ist nur  die eine Tür weit offen – aber da landen 90 Prozent  im Mülleimer, weil es eben am bourgeoisen Rand der Gesellschaft nicht so viel Bedarf gibt, was eine riesige Verschwendung ist. Wir haben auf allen Ebenen Verschwendung – das menschliche Kapital und die Mühe, die da reingesteckt werden, die vielen Bereiche, die leer ausgehen – und alles in allem in einem ein sehr altmodischen, rückständigen, von bourgeoiser Repräsentations- und Produktionslogik geprägten,  institutionalisierten Schneeballsystem.

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Leseprobe: “Wie hängen Fotografie und Kolonialismus zusammen?” Eine redaktionelle Seite aus Nr. 27 der “Arts of the Working Class” zum Thema “Kinships” (Verwandtschaften)

Braucht der Kunstmarkt nicht die Überproduktion? Zum Kapitalismus gehört auch die Überproduktion.

Auf unterschiedlichen Ebenen, von der untersten bis zur obersten, stellt sich die Frage der Funktion von Überproduktion und auch der Entsorgung von Sachen. Sehr viel Kunst, die vor fünzig Jahren hochpreisig gehyped war, ist jetzt vielleicht noch ein Prozent davon wert. Du kannst sehr schöne Sachen jetzt zu Flohmarktpreisen kaufen. Die Frage, ob eine andere Verteilung von vornherein nicht sinnvoller gewesen wäre, ist augenscheinlich. Im Kunstbereich werden einige Logiken des Kapitalismus widergespiegelt. Die Logik des Finanzkapitalismus, aber es gibt auch einige Logiken aus der klassischen industriellen Produktion, zu denen auch die Abwicklung gehört.

Wie wird das auf subjektiver Ebene erfahren? Der Künstler, der prekär lebt, geht auch oft dieser entsolidarisierenden und vereinzelnden Illusion nach, dass er das nächste große Starsein kann. Das ist die Ideologie, oder?

PS: Am Beispiel Berlin – diese Vorstellung haben nicht einmal mehr ein Prozent, denn kaum jemand kann die Realität, die vor der Nase ist, ausblenden. Deshalb liegt es für alle auf der Hand, dass es so nicht weiter geht. Die Leute tun sich zusammen und versuchen alternative, nachhaltigere Formen aufzubauen. Wir sind eine dieser Initiativen und möchten andere inspirieren und ermutigen. Die Leute riechen den Bullshit. Man kann bestenfalls in einem zwielichtigen Bereich bekannt werden und unter Vorbehalt Geld verdienen, aber was soll das Ganze?

Die Wenigsten sind im Kunstbereich, um viel Geld zu verdienen. Sie wollen sich entwickeln, ein Publikum haben, zu dem sie eine Verbindung haben. Da ist der bourgeoise Kunstmarkt natürlich sehr limitiert. Da gibt es nur eine ökonomisierte Beziehung zum Publikum.

Ist ein verstaatlichter Kunstmarkt wie in der DDR eine Lösung? Also wo Kunst nach Bedarf erhoben wird, eine Planwirtschaft besteht, aber auf der anderen Seite die Künstler sozial abgesichert sind.  

Ich denke, es schafft sicher für viele Menschen mehr Potential und auch mehr Potential zur produktiven Teilhabe. Gleichzeitig birgt alles, was Markt heisst, Risiken, sei es Korruption oder Spekulation. Der Sozialismus in der DDR war nur ein kurzes Experiment, wie auch in den meisten anderen europäischen Ländern, wo man speziell gucken müsste, welche Strukturen besonders hilfreich waren. Manches wurde auch in Westeuropäischen Ländern probiert, weil man mit dem sozialen Gedanken der sozialistischen Länder konkurrieren musste. Da war natürlich eine anderer Situation als der entfesselte Kapitalismus in den 90ern, als letztendlich auch die Obdachlosigkeit explodierte. Es gab dann faktisch keine sozialistische Konkurrenz mehr, der man was beweisen musste. Das wurde schnell in vielen Bereichen sichtbar.

Ich habe gehört, dass sich der Kunstmarkt stark an Gender- und Identitätskriterien ausrichtet. Der weiße europäische Mann ist im Moment nicht so das gefragte Rolemodel für die Kunst, oder? 

PS: Ich denke, der weiße, über 50- oder 60-jährige Mann, ist immer noch das Zugpferd des Kunsthandels. Es gibt die Nische, in der weibliche Positionen zum Zug kommen und von staatlichen Museen angekauft werden – doch oft posthum, um die peinlich einseitige frühere Ankaufspolitik zu kompensieren. Aber es hat sich nicht viel verändert. Man muss sich auch bewusst machen, dass auch schon vor 50 Jahren 70 Prozent der Studierenden weiblich waren. Vielleicht sind Frauen in dem Sinne sensibler, vernünftiger – sie sagen sich, das ist mir zu blöd. Wenn ihr euch das unter Erfolg vorstellt, dann ohne mich. Ich bin einigen älteren Künstlerinnen begegnet, die den Kunsthandel abgelehnt haben, zu dem nicht selten der ständige Umgang mit betrunkenen Männern, die narzisstisch veranlagt sind, gehören kann.

Paul Sochacki (*1983 in Krakau) studierte an der HFBK Hamburg und der Zürcher Hochschule der Künste. Er lebt und arbeitet in Berlin. Jüngst waren Einzelausstellungen des Künstlers bei Exile, Berlin (2018 und 2015), im Künstlerhaus Lauenburg (2014) und in der Galerie Dorothea Schlueter, Hamburg (2013) zu sehen

„Arts oft the Working Class“ ist eine mehrsprachige Straßenzeitung für Armut, Reichtum und Kunst: Arts of the Working Class erscheint alle zwei Monate und enthält Beiträge von Künstler*innen und Denker*innen aus verschiedenen Feldern und Ländern. Sie richtet sich an die Arbeiter*innenklasse, also an alle, und es geht um alles, das allen gehört. Jeder, der sie verkauft, verdient mit. Verkäufer*innen auf den Straßen behalten den vollen Preis. Jeder Künstler, dessen Arbeit beworben wird, gestaltet mit. Arts of the Working Class wird von Paul Sochacki und María Inés Plaza Lazo entwickelt und erscheint für die Straßen der Welt.

Arts of the Working Class,
Lynarstrasse 38, 13353 Berlin.
Bestellungen: artsoftheworkingclass.org/shops/
Kontakt: María Inés Plaza Lazo mi@artsoftheworkingclass.org 
Pauł Sochacki p@artsoftheworkingclass.org  
Preis: 5.00 € online & shop, 2.50 € on the streets

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