Die guten Vorsätze waren schnell verflogen. Das wirkliche Leben hat mich ab Tag 1 nach der Reha wieder aufzufressen begonnen.* Das wirkliche Leben? Wirklich? Leben? Es ist interessant, wie wenig Einfluss ich auf das alles habe. Interessant? Oder eher: tragisch. Oder: komisch? Ich bewundere den jüdischen Humor. Woody Allen. Wer im Leben vom Planen oder gar vom „Gelingen“ ausgeht, ist dumm. Gott ist da, ja, aber er macht sich doch nur über dein Scheitern lustig. Diesen Humor verstehe ich, ich wünschte, ich könnte ihn mir aneignen, wie eine Brille aufsetzen, und auf die elend lange und dann doch zu kurze Reihe von Tagen und Nächten, Stunden und Minuten gucken, die jeweils einzeln hinzukriegen sind, jede Zeiteinheit ein Berg, auf den ich rauf muss, oder ich wate durch das Moor daneben. Mit Distanz, mit HUMOR. Naja, nicht so das Ding von MAC und mir. Oft weiß ich um 9 Uhr 40 nicht, was ich um 9 Uhr 46 tun soll. So schlimm? So lustig!
Dann gibt es noch den Körper. Die „Gesundheit“. Mein Gott, ich könnte Vorträge halten über Gesundheit, würde mir da wer zuhören? Vielleicht! Zum Beispiel, warum ich mir gerade einbilde, mir maßlos viele Apfeltaschen (Nur hier), Kirschkörbchen (Backwerk), Tafeln Schokolade (Milka XXL, 270 Gramm um 2,40!), Majestätische Schokobananen (Casali), Manner Schnitten in der Tüte (Manner), Saure Drachenzungen (Hitschies) oder auch Saure Pommes (Haribo) „gönnen“ zu können. Das Argument: mir wird nicht schlecht davon. Und wenn, greife ich zu Colafläschen (Haribo), die den Magen sofort wieder einrenken. Zweites Argument: ich werde nicht dick davon. Naja, zumindest nicht auf den ersten Blick sichtbar, mein Oberkörper ist eine Ruine, sagt Eva, die ihn kennt, die Schultern werden immer schmaler, die Mitte nur seitig (Schwimmreifen) breiter, also das schlimmste. Beim Sex ziehe ich das T-Shirt nicht aus, das tat ich aber auch ohne Schwimmreifen schon), das will aber wieder keine(r) wissen, I know.
Ein Panzer kennt keinen Schmerz
Als Gegengewicht zu dieser Fresskur, zu dieser Folter für meinen Verdauungsapparat und Stoffwechsel (naja, ist es das wirklich?) steige ich NICHT auf den Hometrainer und buche KEINEN Reha-Sport, wie es mir in der Bückeberg Klinik so dringend empfohlen wurde. Warum? Mann weiß es nicht. U. U. hänge ich der alten, von Klaus Theweleit gross dokumentierten Männerphantasie an, der zufolge der männliche Körper ein Weltkriegs-fester Panzer sei, eine Waffe – „Der Körperpanzer der Männer wäre demnach ihr Ich“ ist ein Theweleit-Zitat, das im Internet sofort zu finden ist, ohne in dem 1.200-Seiten Wälzer herumzublättern.** Allerdings, zugegeben, braucht diese Körpermaschine mit ihrer Muskel-Bewaffnung auch Training, Wartung und Pflege, deren Ergebnisse heute dann eher bei rechtsradikalen Aufmärschen ausgestellt werden. Bedeutet, ich adaptiere die Phantasie für mich nur in der Dimension, dass so ein Panzer-Männerkörper auch unendlich strapazierfähig sein muss, ein Panzer eben, der keinen Schmerz kennt. Oder den Schmerz liebt. Ein Panzer merkt ja erst, dass er ein Panzer ist, wenn sein Tank getroffen wird – Baaaaam! Die masochistische Variante gibt es auch, den Schmerzensmann, der dürre Jesus Christus mit seinen fünf Wunden. *** Gegen seinen Körper rücksichtslos sein, das ist doch auch ein Satz, den es gibt. Ja, das bin ich.
Wann ist ein Mann ein Mann?
Schmerz! Yess! The Torture Never Stops, den Song von Frank Zappa hatte ich schon in meiner MAC-Spotify-Playlist, die ich leider nicht mehr finde, sonst bekäme sie hier eine Fußnote. Ein Comeback, er war nie weg, der Schmerz. In der Zwischenzeit ist mein rechtes Sprunggelenk total eingebrochen, Spätfolge der Knochenmarkeiterung, die ich 1968 hatte, 1968! Ich humple, hinke, brauche nachts eine halbe Stunde aufs Klo (Anlaufschmerz!), nur untertags, wenn die wichtigste aller Männerdrogen, das Adrenalin, hilft, kann ich mich halbwegs normal bewegen. Der Schmerz hat zugenommen, seit ich in der Bückeberg-Klinik die Schmerzmittel entzogen habe, rasende Unruhe, schlimme Nächte, nach 14 unguten Tagen war es geschafft – habe mich dafür auch ausführlich feiern lassen, und war danach auch empfänglicher als sonst, offener. Ich war richtig süchtig gewesen, eine Sucht vom Grad einer „mittleren Heroin-Sucht“, sagten die Ärzte – und dementsprechend übel ist der Entzug. Ich meine, du kannst nichts machen. Du kannst nicht lesen, du kannst nicht Serie-gucken, du kannst nicht liegen, du kannst nicht sitzen. Du kannst NICHTS. Du verstehst jeden Junkie, der diesen Zustand vermeiden möchte. Das alles aber nicht mit Koks, H, Crack, Meth, Ecstasy – sondern mit der Hausarzt-Großpackung von Tramadol ****, ein synthetisches Opioid, nahe verwandt den illegalen synthetischen Drogen. Im Prinzip das Zeug, an dem in Amerika jedes Jahr 100.000 Menschen sterben. Also, da war ich nach der Reha durch, das gab mir neue Kraft, wenn mir im Herbst die Sonne auf den Unterarm schien, dann spürte ich das, warm, schön, wow! Aber dann kam der Schmerz zurück. Es gibt eine Operation, da wird das Gelenk mit Schrauben fixiert, der Fuß total steif gemacht, dann ist der Schmerz weg. Sie bedeutet aber: acht Wochen im Rollstuhl, danach erst mobilisierende Reha, bin insgesamt Monate weg vom Fenster. 8 Wochen im Rollstuhl? Dann kann ich nicht mal alleine aufs Klo. Dann bin ich kein Mann mehr. Wann ist man (?) ein Mann? So nicht. Erspare Euch die Details. Das eine auch. Also erstmal nicht unters Messer. Abwarten, ob der Fuß von selbst versteift, das soll er tun, dann ist der Schmerz auch weg, niemand weiß aber, wie lange das dauert. Aber in den Rollstuhl für so viele Wochen? Das muss man sich leisten können, sagt der Hausarzt. Und macht den Witz: „Wie ich sie kenne, kommt dann wieder ein dickes Buch heraus.“ Wie meint er das? Gut? Schlecht? Er empfiehlt, mal abzuwarten. Begleitend: eine „Schmerztherapie“. Was er damit meint: Hydromorphon-HCI 4 mg und Amitriptylin-neuraxpharm. Wieder Opiate, das erste höher dosiert. Wieder Sachen, die mich belämmert machen. Falle ich dann im „Kapital“-Lesekreis zurück, der mir soviel Lebensmut gibt? Was wird aus MAC? Ich lasse das Zeug mal im Schrank, vielleicht hilft es auch so.
* Hey und uff, bin hier auf Kur: „Reha B“, die erste Folge des MAC Blogs ging 4. November 2022 online. Kurz davor hatte ich eine dreiwöchige, stationäre Reha in der Bückerberg-Klinik in Niedersachsen beendet. Auf meinen Wunsch wurde ich da von den Schmerzmitteln entwöhnt.
** Männer und Phantasien: Klaus Theweleit, Männerphantasien, Matthes & Seitz Berlin, 1.278 Seiten, Preis: 48,00 Euro
*** Christus und Wunden: Die „fünf Wunden Christi“ werden in der christlichen Tradition verehrt. Nach dem Johannes-Evangelium wurden sie ihm von Soldaten am Gang zur Kreuzigung (Passionsgang) zugefügt. Die berühmteste: die „Seitenwunde“ in Folge eines Lanzenstichs, unter den Rippen rechts
**** Schmerz und Mittel: Tramadol ist ein synthetisches Opiod, das in der Medizin als Schmerzmittel eingesetzt wird. Von der Grünenthal GmbH wurde die Substanz synthetisch entwickelt und 1977 als Arzneimittel unter dem Namen Tramal auf den Markt gebracht.