Marx lesen macht glücklich

Lieber Günther!*

Knock, knock, knock! Wie geht es Dir da oben? Du hast doch daran geglaubt, an das „da oben“, als alter „Kathole“, wie Du Dich immer genannt hast. Oder nicht? Egal. Ich weiß, Du würdest nur die Oberlippe wie eine Jalousie über deine riesigen Vorderzähne hochziehen, also grinsen, lächeln, lachen und mir die Unterstellung (sollte es eine sein) sofort verzeihen, weil Dir immer egal war, was über Dich geschrieben wurde, bzw. hast Du glaubwürdig so getan, als wäre es Dir egal, was Dir, stimmt auch, im Alter immer schwerer gefallen ist. Gibt es für linkskatholisch-marxistisch-grüne Sozialdemokraten wie Dich ein Betätigungsfeld da oben, oder bist Du zum Nichtstun verurteilt, was das Schlimmste wäre für Dich, denke ich.

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Hermes Phettberg, Moderator der „Phettbergs Nette Leit Show“ (ORF, ab 1994) empfing Günther Nenning in seiner Show und bot ihm wie allen Gästen Eierlikör an

Auf der Partei-Toilette

Das letzte Mal haben wir uns irgendwann in den neunziger Jahren in Wien gesehen, bei einer „Nette Leit Show“ von Hermes Phettberg, zu der Du eingeladen warst. Die Show wurde live vor Publikum in einem wunderbaren 50er-Jahre-Saal der KPÖ (Kommunistische Partei Österreichs) am Höchstädtplatz aufgezeichnet. Wir hatten lange nichts voneinander gehört und es war, bildete ich mir ein, eine Distanz entstanden, ich litt unter für mich typischen Schuldgefühlen, mich so ganz und gar und mit Haut und Haar dem deutschen Verlagskapitalismus unterworfen zu haben. Ich fürchtete, der alte (junge), vor Begeisterung überschäumende „linke“ Michael Hopp könnte an diesem aufgedunsenen Schlipsträger, zu dem ich geworden war, gar nicht mehr zu erkennen sein. Wir trafen uns auf der Partei-Toilette und ich kann mich nicht mehr erinnern, ob ich Dir nachgegangen war oder ob wir uns wirklich zufällig am Pissoir getroffen haben. Als ich ankam, warst Du schon am Pinkeln, es war zu hören, während ich mich noch in Position bringen musste. Ich war aufgeregt und hatte Angst, es würde nichts kommen – aber siehe da, ich strullerte recht entspannt los und schaffte es sogar, während ich die Notdurft verrichtete, mit Dir zu reden, etwas, das mir im ganzen Leben noch nie gelungen war, und ich war damals auch schon Mitte vierzig. Du fragtest mich, ob ich das „Piefkinesisch“ schon erlernt hätte, wenn ich „da oben“ so toll Karriere mache und ich faselte irgendwas von Verantwortung die ich nun trüge, für so viele Mitarbeiter, also etwas, das Du sicher nicht interessant fandest. Deprimiert verließ ich die Toilette und wir sahen uns nicht mehr an diesem Abend.

Unsere Sexsucht

Ein weiteres Treffen gab es, ich war auf Wien-Visite und wollte Dir meine damals neue Freundin Eva vorstellen (bzw. vor ihr mit Dir angeben) und hatte, damit das Treffen auch wirklich stattfindet, vorgeschoben, ich wolle mit Dir auch über eine Günther-Nenning-Biographie sprechen, für die ich einen Verlag suchen und sie dann schreiben wollte. In Wirklichkeit war ich viel zu kaputt und konfus damals, so ein Projekt anzugehen und Du schienst das zu spüren, weil Du kaum reagiert hast auf die Idee. Danach hat wahrscheinlich keiner von uns beiden darauf je wieder einen Gedanken verwendet. Diese Begegnung in der Bibliothek der alten „Neues Forvm“-Redaktion habe ich übrigens in meinem Buch „Mann auf der Couch“ beschrieben, das15 Jahre nach Deinem Tod erschienen ist. Ich erzähle darin auf vielen Seiten meine jungen Jahre als Journalist unter Deiner Obhut, in der „Neuen Freien Presse“ und im „Neuen Forvm“, und wie prägend die Zeit in der damaligen „Neuen Linken“ in Wien für mich war.** Ich schrieb auch manches über Dich und Deine Frauen und unterstellte Dir eine „Sexsucht“, was sich aber, so hoffe ich, dadurch relativiert, dass ich mit meinen eigenen diesbezüglichen Schwächen in dem Buch auch sehr offen umgehe.  Auf “Mann auf der Couch” konntest Du nicht mehr reagieren, weil Du schon tot warst, als es erschien – ich bin aber sicher, dass Du es getan hättest, hätte es Dich nicht erwischt in Folge eines Sturzes, wie berichtet wurde – und ich hätte verdammt gerne erfahren, wie Du es gefunden hättest, so wie Du ja viele Jahre meine frühen, grossteils haarsträubenden Artikel geduldig benotet hattest. 

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Karl Marx, Das Kapital, Erster Band – l.: Kautsky-Ausgabe von 1928 aus der Bibliothek von Günther Nenning, J.H.W, Dietz, Berlin, re.: Karl Dietz Verlag Berlin, 42. Aufl., 2021

In den letzten Monaten habe ich besonders oft an Dich gedacht, aus einem romantischen, fast kitschig erfunden wirkenden Grund. Ich habe, 50 Jahre nachdem Du mir die Kautsky-Ausgabe vom ersten Band des „Kapital“ ins Allgemeine Krankenhaus gebracht hast (sie stammte aus Deiner Bibliothek, ein von Paul Flora gestaltete „Ex Libris Günther Nenning“ Etikett klebte auf dem Schmutztitel), wo ich mit einer infektiösen Gelbsucht darniederlag („Lieber Michael, gegen Gelbsucht was Rotes“ stand als Widmung drin), den Dutzende Male mit umgesiedelten Band wieder aus dem Regal geholt, um damit hier in Hamburg an einem Kapital-Lesekreis teilzunehmen. Im Lesekreis der MASCH (Marxistische Abendschule Hamburg), der per Video stattfindet, las ich die Kapitel „Erstes“ bis „Drittes“ in Deiner von Karl Kautsky 1928 herausgegebenen Volksausgabe mit. So gut es sich anfühlte, auf den tiefschwarz tiefgedruckten, inzwischen leicht vergilbten Seiten des von Dir geschenkten, auch am Einband tiefschwarzen Buches mitzulesen, so war es doch mühsam, weil die anderen Teilnehmer des Lesekreises die heute gebräuchliche Ausgabe des Dietz Verlages nutzen. Die Schwierigkeit: In der alten Kautsky-Ausgabe sind die Fußnoten viel länger, so dass die Pagina ganz anders ist, so dass ich den Seitenangaben des Kursleiters („Wir sind hier auf Seite 63, dritter Absatz“) nie richtig folgen konnte. Als im Kurs das vierte Kapitel dran war, entschloss ich mich, eine Dietz-Ausgabe anzuschaffen. Seither geht alles flüssiger und ich komme viel besser mit.

Lieber Günther, ich muss jetzt unterbrechen, bin auch schon müde jetzt. Ich schreib Dir nächste Woche, wie mich meine Rückkehr in den Schoß der Linken verzaubert, verändert, beflügelt, ja ich möchte fast sagen: heilt. Ich denke, das freut Dich.

Dein Michael

* Günther Nenning (1921-2006) war ein österreichischer Journalist, Herausgeber (“Neues Forvm – Zeitschrift für den Dialog zwischen Christentum und Marxismus”), Gewerkschafter und politischer Aktivist. Er wirkte im Spannungsfeld zwischen Kirche, Sozialdemokratie und “Neuer Linker” und war einer der Gründer der österreichischen Grünen. Michael Hopp absolvierte in Nennings Verlag “Schriften zur Zeit” eine Ausbildung als Verlagskaufmann und Journalist.

** Michael Hopp, Mann auf der Couch, textem Hamburg, Seite 254 bis 279

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