Die schwarze Krähe

Sitzt auf meiner Schulter. Eine schwarze Krähe sitzt auf meiner Schulter. Auf meiner rechten Schulter. Noch nicht so lange, aber doch schon eine Zeit. Nicht erst seit gestern. Vielleicht habe ich sie lange nicht bemerkt, obwohl das Vieh recht schwer ist, in diesen Tagen. Bemerkt habe ich sie eigentlich erst, nachdem sie andere bemerkt haben. Andere, die in letzter Zeit so an mir vorbeischauen. Mit einem leichten, gleich wieder unterdrückten, gleich wieder unter Kontrolle gebrachten Erschrecken. Bilde mir  plötzlich, sie, die anderen, sehen die Krähe. Könnte auch sein, sie gucken nur auf meine blondiertes Haar. Oder mein müdes Gesicht. Die Hundefalten unterm Kinn. Oder nehmen plötzlich Witterung auf bzgl. meiner (nicht guten) Ausstrahlung, Aura. Billiges Rasierwasser. Mit dem stimmt was nicht. Der ist schlecht drauf. Im Wolfsrudel werden kranke Tiere einfach zurück gelassen. Sie riechen krank. So ist es unter den Menschen auch. Und jetzt noch die Krähe, wie will man auch umgehen mit einem, der eine Krähe auf der Schulter sitzen hat? Krähen sind ungut, verschlagen, aggressiv. Gefühllos. Vor allem: machen Angst, schrecken ab. Das ist neu an meinem Zustand: Dass jeder die Krähe jetzt sehen kann. Dass ich sie nicht mehr kontrollieren kann. Dass sie entscheidet, wann sie da hockt, und wann nicht.

Sie ist schwer. Bis zu 1,5 Kilo steht im Tierlexikon. Meine hat mehr. 10 Kilo, schätze ich. Ihre Krallen gaben sich in meine rechte Schulter, so macht sie mir noch das Jacket kaputt. Mein Körper wird von rechts oben belastet, runtergedrückt. Der rechte Fuß ist ohnehin kaputt, unter dem zusätzlichen Gewicht schmerzt er noch mehr. Ich hinke, die Krähe auf der Schulter schwankt mit. So jemand kann nur allein sein, schwankend, mit Krähe, obwohl, jetzt hat er ja Gesellschaft. Ha! Manchmal ist die Krähe auch weg. Nicht da. Ich vergesse sie dann. Aber ich spüre immer, wenn sie angeflogen kommt. Indem sie aus dem Flug abbremst, schiebt sie unter ihren Flügeln einen Windhauch her, der erst meinen Nacken erreicht, bevor sich ihre Krallen in die rechte Schulter graben. Wie soll ich es beschreiben, es ist immer ein Reiz von vorne, etwas das meine Augen sehen, das sie anlockt. Zum Beispiel, wenn ich spätnachmittags, düster, in meine leeres Büro komme, da ist dann so ein Licht. Misch-Licht. Innen: Tageslicht-Lampe, durch die Fenster: Wintertrübnis. So ein Licht. So ein Licht, das auf mich wirkt wie Gift.  Als würde man mir ein Lähmungsmittel in die Venen jagen. Oder das, was sie in Texas bei den Hinrichtungen nehmen. Vielleicht kommt die Krähe dann, um mir zu helfen. Könnte sein. Seh es doch mal so, alter MAC!

Eva sagt, ich solle die Krähe einfach nicht mehr füttern, dann käme sie auch nicht mehr. Ich sei ja ohnehin Last-süchtig, Scham-süchtig, sowas wie die Krähe käme mir gerade recht! Ich verstehe gar nicht, wovon sie spricht, weil ich die Krähe ja ohnehin nicht füttere. Oder es nicht merke. Dann wäre das die Krankheit. Dauernd etwas gegen sich selbst unternehmen. Das war ja die letzten Jahre besonders krass. So viele Chancen, alle vergeben. Wer hat hier das Kommando? Wer setzt mir den ekligen Vogel auf die Schulter?  „Der Mensch ist nicht Herr im eigenen Haus“, hat Sigmund Freud gesagt.* Auf wen trifft das mehr zu, als auf mich? Und meine Krähe.

* Herr und Haus: Am 7. 12. 1938 erklärte Sigmund Freud in einem BBC-Interview, der Mensch sei nicht „Herr im eigenen Haus“, viel mehr ist er in allen wichtigen Entscheidungen beeinflusst und gesteuert vom Unbewussten und den Trieben.

Kommentar verfassen

Scroll to Top
Scroll to Top