Revolution und Kommerz

Karl Heinz Dellwo, der für die vorletzte Ausgabe dieses Blogs am 24. Februar 2023 den Beitrag „Schlimmer als Wahnsinn“ zur Verfügung stellte, bat den MAC um folgende Korrekturen. Im bestehenden Blogpost sind sie noch nicht durchgeführt, jetzt erstmal hier, weil sich das heutige Thema auch daraus entwickelt – vielleicht etwas tangential, aber am Ende doch. Im Beitrag ging es um die unheimliche Online-Auktion eines abstrakten Bildes von Gerhard Richter („Abstract“, H.M., 1977), das im Online-Auftritt der Auktion mit einem „echten“ Holger Meins Foto seiner Aufbahrung (Obduktion?) beworben wurde. Dellwo schreibt:

Michael,

Bei dir ist ein Schreibfehler im Text: Die Online-Auktion war nicht 2021 sondern 2012. Und das Foto ist das Aufbahrungsfoto von Holger Meins. Es gibt noch das Obduktionsfoto. Und auch anderes ist – aus meiner Sicht – nicht präzise. Die Palmers-Entführung wurde nicht von »Ablegern der ‚Bewegung 2. Juni‘ gemacht, sondern von dieser selbst. Das waren die vom 2.Juni, die übrig geblieben sind nach einigen Verhaftungen.

LG KH

Die Palmers-Entführung – und der MAC

In unserem kleinen MAC-Lesekreis wollen wir uns heute mit dem weiteren Werdegang des jungen, linken Mann auf der Couch befassen, anhand eines weiteren Auszugs aus „Mann auf der Couch“, beginnend auf Seite 265 des schönen Buches.

Darin angesprochen ist die weitere Zeit in Günther Nennings Neue Freie Presse und Neues Forvm und die danach, ab 1977 in der Redaktion von „Ohne Maulkorb“, einer aufmüpfigen Jugendsendung des Österreichischen Rundfunks, die dann auch bald eingestellt und durch das rechte (aber viel erfolgreichere) Magazin „okay“ ersetzte wurde, das immerhin den immer grinsenden Moderator Helmut Frodl hervorbrachte, der es ein paar Jahre später mit einem grässlichen Mord zu noch größerer Berühmtheit brachte (steht auch irgendwo in MAC).

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Polizei-Fotos: Zwei der Palmers-Entführer nach der Verhaftung

Gegen Ende seiner Lehrzeit bei Günther Nenning wurde der junge MAC ganz am Rande aber doch aufregend in die Entführung des Wiener Strumpffabrikanten Walter Michael Palmers verwickelt, die am 9. November 1977 durch die Bewegung 2. Juni in Wien stattfand –  wie, erfahrt Ihr im gleich beginnenden Text. Wenn die Entführung auch nicht durch eine „österreichischen Ableger“ der Bewegung 2. Juni durchgeführt wurde, so wurden dafür doch eine Reihe österreichischer Helfer engagiert, die der junge MAC aus der linken Szene kannte, teils auch, weil sie seinen Platz und sein Telefon in der Redaktion des Forvm für ihren „Arbeitskreis Politische Prozesse – Politische Gefangene“ (APG) mitbenutzten.

Mit einem Abstand von mehr als 40 Jahren zur Entführung selbst und etwa drei Jahre nach  ihrer Beschreibung für „Mann auf der Couch“, ev. auch im Lichte (?) des neu erwachten politischen Engagements (naja, Leseskreis) des MAC ließe sich die Frage stellen (vom wem?) nach der heutigen Einschätzung (so ein Wort von damals) der damalige terroristischen Aktion. Der Original-Text im MAC gibt dazu nicht viel her, ist eher biografisch-protokollarisch gehalten und überlässt die Bewertung dem Leser.

Antwort auf die Gewaltfrage, ha!

Nun – wie war das, wie ist das mit der Gewalt? Dass die Häftlinge der RAF (Meinhof, Baader und viele weitere) „politische Gefangene“ waren, darüber bestand Einigkeit im Umfeld des jungen MAC und er hinterfragte das damals auch nicht weiter. Dass sich Günther Nenning mit diesem Sprachgebrauch, der auch ins Neue Forvm eingezogen war unwohl fühlte, gab er grantelnd (Wienerisch für übellaunig) zu erkennen, ließ die Redaktion aber gewähren. Es gab auch keine große Diskussion, als der „Arbeitskreis … Politische Gefangene“ zeitweilig die „Räume“ des Neuen Forvm mit benutzte.

Als es dann aber soweit war und die Zeitungen voll damit und die Wiener Innenstadt mit Polizei, erkannte Nenning die Gefahr, die sich aus der Nähe der Entführer zu seiner Redaktion ergeben könnte und gab tags drauf die Anweisung an alle Mitarbeiter, man solle nicht mit der Presse sprechen und auch im Bekanntenkreis die Klappe halten. Tatsächlich und eigentlich erstaunlich, kam es nie zu einer Berichterstattung, die den „linken“ Verlag als Brutstätte des Terrorismus denunziert hätte, etwas, das in Deutschland wahrscheinlich passiert wäre. Entweder hatte dies mit der Recherche-Schwäche schmalbrüstiger österreichischer Medien zu tun, oder doch mit dem Gewicht des Gewerkschaftspräsidenten und TV-Moderators Günther Nenning, der schon seit Jahren für seinen Verlag das Geschäftsprinzip verfolgte, mit den Mächtigen gut zu können.

Dem jungen MAC, dem der Schreck selbst in die Glieder gefahren war, schien die verordnete Duckmäuserei plausibel, vor einer Einvernahme durch die Polizei oder sowas wie Beugehaft womöglich hatte er richtiger Schiss. Nein, großer Held war er nie, schon früher nicht bei „Spartakus“, wo er sich einen mächtigen Schraubenschlüssel in die Stiefel stecken sollte, um sich gegen Nazis am Rande einer „Öffnet die Heime“-Demonstration wehren zu können.

Die sympathisierende Grundhaltung, die auf der Voraussetzung der (zu Unrecht) „politisch Gefangenen“ beruhte, aus der sich logisch die Notwendigkeit der Befreiung ergab, die wiederum durch die Entführung von Repräsentanten des kapitalistischen und imperialistischen Systems erpresst werden müsste, aus einer Art Notwehr – all das passte schon und war okay. Der MAC kann sich nicht erinnern, dass es in seinem Umkreis dazu große Diskussionen gegeben hätte. Als dann in Deutschland der „Radikalen-Erlass“ kam, der den „Sympathisanten-Sumpf“, wie es BKA-Chef Horst Herold nannte, austrocknen sollte, verfestigte sich die Haltung noch und die Solidarität mit den „Sympathisanten“ (wenn man sich schon selber nicht als solcher fühlte, war politisches Kleingeld, das wir alle immer in der Tasche hatten.

Leichte Zweifel gab es eher, ob es mit Walter Michael Palmers den richtigen getroffen hatte.

Die knallgrün/goldene Palmers-Marke galt eigentlich eher als sympathisch, schon Omi hatte ihre „Schlüpfer“ da bezogen. Später mietete sich der „Wiener“ in dem von Max Fabiani im Jugendstil erbauten Gründerhaus der Firma Palmers in der Wiener Lehargasse ein – das wiederum deshalb, weil die Wäschekette Palmers Kunde der Werbeagentur GGK war, die wieder den „Wiener“ finanzierte, und damit also auch dessen Chefredakteur, den MAC.

Palmers machte in den 80er Jahren von sich reden, mit einer aufsehenerregenden, von Feministiinnen als sexistisch gebrandmarkten Kampagne, die tolle Frauen in preisgünstigen Dessous zeigten, mit schlüpfrigen Zeilen wie „um entzückende 29,50“ oder „Trau-Dich-Doch“, die von WIENER Herausgeber Gert Winkler getextet waren und von WIENER-Fotografin Elfie Semontan fotografiert. Naja, so war das, tief mit den Stiefeln des Revolutionärs tief waten im kapitalistischen Kommerz.

Sex und Karriere

Auszug aus „Mann auf der Couch“,

In dieser Zeit schrieb ich das:

wia mi des anfäut

michael ist oft in konfliktsituationen

er weiß zum beispiel genau dass das leben so wie er es jetzt

führt nicht weitergehen sollte

verstandesmäßig hat er die für ihn nachteiligen

Konsequenzen

dieses lebensstils längst erkannt

doch es gibt eine kraft in ihm die ihn daran hindert (den lebensstil) zu ändern

Die Neue Freie Presse war längst eingestellt, dem Verlag ging es nicht gut. Ich blieb dann noch zwei Jahre in der Redaktion des Forum, hatte aber weniger Kontakt mit Günther, der mich an den »geschäftsführenden Redakteur« Michael Siegert abgegeben hatte. Während ich in der Neuen Freien Presse schon ein wohlbestallter Kronprinz war, musste ich im Forum wieder ganz unten anfangen.

Ich arbeitete weiterhin zur Hälfte bei Franz Jindra im Vertrieb, die weitere Zeit sollte ich nun Siegert bei der Produktion des Forum helfen.

Michael Siegert war ein knorriger Intellektueller, den etwas Geheimnisvolles, Unergründliches umgab. Die langen Haare trug er zusammengebunden zum Zopf. Vollbart, Brille, dahinter wachsame, wache Augen, aber kein Hippie, sondern alles akkurat, gepflegt, immer wohl duftend. Siegert war das, was man damals in feinen Nuancen der Begriffe linksradikal oder Marxist nannte, und damit dem Sozialdemokraten Günther Nenning, der von rechts auch als »linksradikal« beschimpft wurde, in tiefem Hass verbunden.

Das war das Drama fast der ganzen Redaktion. Eigentlich war niemand mit dem Heft als Ganzem einverstanden, es gab aber auch kein anderes Medium, in dem man diese Inhalte veröffentlichen hätte können – zu kleinen, aber doch realen Honoraren, aus Geldern, die Nenning in den weit verzweigten Einflussbereichen der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) einsammelte.

In Konferenzen herrschte prinzipiell dicke Luft, zumal die Linken auch noch in verschiedene Fraktionen – von biederer katholischer Arbeiterbewegung bis zu Anhängern des Wiener Aktionismus – gespalten waren, sich gegenseitig misstrauten und dem jeweils anderen unterstellten, zu große Teile des Hefts zu beanspruchen.

zock festival
Zuviel Aktionismus? In den Konferenzen des “Forum” herrschte oft dicke Luft. Foto: Otto Mühl während des Happenings, Gasthaus “Im Grünen Tor”, Lerchenfelderstraße in Wien. Modern print (2008).

Einig war man sich nur in der Opposition gegen Günther Nenning, dem man unterstellte, er wolle das Heft an die Sozialdemokratie »verkaufen«. Von Jahr zu Jahr frustrierte ihn dieser Vorwurf mehr.

Nenning war zwar Chefredakteur und Herausgeber, aber nach innen nicht besonders beweglich, weil der Verlag nicht ihm, sondern den Angestellten und Redakteuren gehörte, ähnlich wie das bei Klaus Rainer Röhl und der konkret der Fall war.

Die ständige Spannung, die bei jeder Entscheidung in der Luft lag, empfand ich damals als nervig und ich verstand oft einfach nicht, worum es ging – ich nahm es als beginnende Bedrohung meiner sonst so komfortablen Existenz im Verlag wahr, wenn mein Ersatz-Papa Günther mal wieder so gereizt war, dass es sich auf alle übertrug.

Heute verstehe ich, dass diese Spannung das Momentum des Ganzen war, das innere Schwungrad.

Siegerts kleine Wohnung, aus der ich ihn manchmal abholte, wirkte wie eine bewohnbare Bibliothek. Sie war, wie er selbst, blitzsauber und gepflegt und lag gleich um die Ecke der Druckerei Brüder Rosenbaum in der Margaretenstraße, in deren Setzerei wir an einigen Tagen im Monat den Umbruch des Forum machten, von Layout sprachen wir damals noch nicht. Es war die Zeit des Übergangs vom Blei-zum Lichtsatz. Die Stimmung in der Druckerei war schlecht, viele Leute, angesehene Setzer, einige im Selbstbewusstsein, die Avantgarde der Arbeiterklasse zu sein, die edelste Form des Proleten, mussten gehen.

Es gab noch Werkräume, die unter der öligen Schicht des Bleistaubs lagen und in denen die Typen des Bleisatzes mit lautem Knall in die Formen schossen. Und es gab die Räume, in denen schon der lautlose, cleane Lichtsatz angewendet wurde. Als kleiner Titel, mit dem man ohne Risiko experimentieren konnte, wurde das Forum schon früh auf Lichtsatz umgestellt.

Nachts, wenn die Lichsatzräume frei waren, konnten Siegert und ich kommen und die Seiten des Forum zusammenkleben.

Siegert war unnahbar, streng, mit sich und anderen. Dass er »streng« sei, fantasierte ich vielleicht auch, weil er als 33-Jähriger das Buch De Sade und wir geschrieben hatte, mit dem Untertitel »Zur Sexualökonomie des Imperialismus«, und damit ein De-Sade-Experte war.

Dass ich in seine Wohnung durfte, schätzte ich als Vertrauensbeweis, den ich den anderen voraushatte. Manchmal traf ich da auch auf seine Freundin, ein dürres asiatisches Mädchen, das streng schaute, nie einen Ton sagte und von einem Jungen eigentlich nicht zu unterscheiden war. Sie ging, wenn ich am frühen Nachmittag kam und Siegert Unterlagen aus der Redaktion brachte. Er schlief immer bis in den Nachmittag, da er offenbar jede Nacht zu lesen oder zu arbeiten hatte. Ich kam ihm nur ein- oder zweimal näher, als wir in der Setzerei gegen sechs, sieben Uhr in der Früh von Übernächtigung, Automaten-Kaffee und Cola so aufgedreht waren, dass wir ohne Anlass oder über irgendein komisch angeschnittenes Foto zu kichern begannen, zu lachen, wir konnten uns gar nicht halten.

Siegerts Buch, das in der Linken ein Bestseller war, entwarf ein radikal anderes Bild des Marquis de Sade, der bisher nur als pathologische Figur galt, und sah in ihm einen Ankläger, der die Grausamkeiten des frühen Kolonialismus und Kapitalismus entlarvt, einen »sexualökonomischen Frühsozialisten«, der die Habgier der herrschenden Klassen bloßstellt und die Fragwürdigkeit der Gewaltlust bewusst macht, indem er sie durch Übertreibung verfremdet.

Für mich als 18-, 19-Jährigen war das alles starker, großteils unverständlicher Tobak. Zu den Diskussionen konnte ich nichts beitragen und so hielt ich meist den Mund, zumal ich in der Redaktion als Verlagslehrling, vor allem aber Überlebender der als kommerziell geltenden(und dann doch gescheiterten!) Neuen Freien Presse ohnehin nur geduldet war.

In dem für mich schwierigen Klima damals als Redaktionslehrling, sah ich es als Erfolg an, nach einiger Zeit Buchkritiken schreiben zu dürfen, die Siegert aber meist auf wenige Zeilen zusammenstrich, oder einmal, als Siegert verreist war, einige Überschriften auf der Leserbrief-Seite selbst eintragen zu dürfen. Mit dem Thema Homosexuellen-Bewegung gelang es mir, eine Themen-Nische aufzutun, in der ich keine Konkurrenz hatte.

Ich schrieb eine auf mehrere Seiten ausgebreitete Rezension zu Rosa von Praunheims Sex und Karriere und machte mich damit in der Redaktion unangreifbar. Jede Attacke hätte ich, aggressiv-wehleidig, als »schwulenfeindlich« zurückgewiesen. In diese Falle war auch der mir gegenüber feindselige, aber selbst homosexuelle Josef Dvorak getappt und erwähnte meine Beiträge, wie die meisten in der Redaktion, mit keinem Wort.

In unseren langen Nächten in der Setzerei nannte mich Michael Siegert »Michl« und gab mir knappe Anweisungen, sprach aber auch oft über Stunden kein Wort mit mir, wenn er zum Beispiel einen viel zu langen Text in der Satzspalte kürzen musste oder über Überschriften oder Vorspänne grübelte. Auch die später berühmten Forum-Autoren tauchten meist übel gelaunt in der Nacht in der Setzerei auf, um ihre Texte Korrektur zu lesen oder mit Siegert über die Kürzungen zu streiten. Damals kam es mir nicht besonders vor, erst jetzt im Nachhinein kann ich erkennen, in was für eine gute Schule ich gegangen war.

Zum Beispiel eben Josef Dvorak, der Satanist mit langem Rauschebart überm weiten, wie ein Umhang getragenen Hemd, der sich von einem unbedarft wirkenden jungen Mann herumchauffieren ließ. Der Tiefenpsychologe, Theologe und Mitbegründer des Wiener Aktionismus, der heute wie der liebe Gott selbst aussieht, genoss einen besonderen Status in der Redaktion, weil er den Kontakt zu den Künstlern des Wiener Aktionismus hielt, wie Hermann Nitsch, Otto Mühl oder Günter Brus, die im Forum teils mit Originalbeiträgen vertreten waren. Nitsch schickte meist Helfer seines Orgien-Mysterien-Theaters vorbei, Mühl glatzköpfige Kommunarden der »AA (aktionsanalytischen) Kommune«, die Kopien der Beiträge abholten, um sie ihren Meistern zur Freigabe oder Korrektur vorzulegen. Meist hörten wir nie wieder was von ihnen, Ärger gab es erst nach Veröffentlichung, wenn von »Fälschungen« die Rede war oder wenn Siegert eine seiner ironischen Überschriften reingesetzt hatte, die den despotischen Gurus zu wenig Ehrerbietung zeigten.

Oder Heidi Pataki, eine Lyrikerin mit echtem Damenbart, die wunderbare Reportagen schrieb, und der Filmkritiker Friedrich Geyrhofer, beides Mitglieder der »Grazer Autorenversammlung«. Obwohl alle wussten, dass die beiden als Paar zusammenlebten, kamen und gingen sie nie zusammen und sprachen sich mit den Nachnamen an, vielleicht nach Vorbildern wie Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, oder, in Österreich, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl.

»Heidi«, fragte Siegert genervt, »weißt du, ob der Geyrhofer auch noch kommt, den Aufsatz zum Radikalen-Erlass einlesen?« – »Nein, wie soll ich wissen, ob der Geyrhofer kommt?« Drei Minuten später stürzte der riesengroße dicke Mann schnaufend zur Tür hinein, suchte sich einen Platz – nie neben Heidi – und fluchte, weil es in der Setzerei verboten war, Pfeife zu rauchen.

Heute liegen beide zusammen in einem Ehrengrab der Stadt Wien auf dem Wiener Zentralfriedhof, ein Foto des Grabes hat jemand auf Heidi Patakis Wikipedia-Eintrag gestellt.

Ein anderes Mal hatte ich Glück, als Günther Nenning im September 1978 einen »Club 2« moderierte, an dem Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, der Philosoph Kurt Sontheimer und auf der rechten Seite der SFB-Chefkommentator Matthias Walden vertreten waren, dem Cohn-Bendit gleich zu Beginn der Sendung eine Mitschuld am Attentat auf Rudi Dutschke unterstellte, ihm, dem »intellektuellen Mittäter mit der »versteinerten Maske«, wolle er nicht die »Hand geben«. Es war eine Sternstunde des Fernsehens. die Welt sah in der Sendung »schäumende Attacken auf die Demokratien«.

Da der Abdruck einer gekürzten Textabschrift in der Redaktion des Forum nicht gerne gesehen wurde – der »Club 2« wurde als »Nenning-Projekt« allenfalls belächelt -, fiel mir die Aufgabe zu, das Video der Sendung abzurippen, einzukürzen – und die so entstandene Version mit Dutschke und Cohn-Bendit abzustimmen. Da mir die historische Bedeutung der beiden nicht recht bewusst war, lud ich sie selbstbewusst nach Wien ein, damit sie sich die »Druckfahnen« ansehen könnten. Mir fiel erst das Herz in die Hose – ein wenig zumindest, ich war schon ein cooler Hund damals, cooler als heute -, als mich »Seidi«, die Verlagssekretärin, auf meiner Durchwahl anrief und »zwei Deutschen«, die für mich da seien, ankündigte, sie hatte die beiden offenbar nicht erkannt. Zwei Deutsche.

Der eine Deutsche, Dutschke, nach dem Attentat hatte er ja diesen irren, starren Blick, im karierten Flanellhemd. streckte mir die Hand entgegen und drückte meine so fest, dass ich fast aufschrie: »Ich bin der Rudi«, sagte er, als ob ich das nicht wüsste. Cohn-Bendit, der das mit dem unsicheren und 15 Jahre jüngeren Wiener hier ohnehin schon drollig fand, sang kichernd vor sich hin, als wäre er der Comedy-Sidekick des strengen Dutschke: »… und ich bin der Dany!« Als wir dann mit der Fahne im Konferenzraum saßen, hatte ich das Gefühl, Dutschke habe Konzentrationsprobleme und Cohn-Bendit keinen Bock, das Ganze Zeile für Zeile durchzugehen. Nach 15 Minuten waren die beiden wieder weg. Keine Änderungen.

Markus, mit dem ich dann so viele Jahre arbeiten sollte, hatte ich auch im Forum kennengelernt. Er hatte sich im selben Raum, in dem ich auch saß, einen Schreibtisch eingerichtet, um eine Gewerkschaft für Schülerzeitungs-Redakteure aufzuziehen. Es war nicht außergewöhnlich, dass im Forum einzelne Schreibtische auch für andere Aktivitäten genutzt wurden. Ein anderer Untermieter war die APG, Arbeitsgemeinschaft Politische Gefangene, die am 8. Mai 1977, dem ersten Todestag von Ulrike Meinhof, gegründet wurde.

Aus dieser Gruppe um Reinhard Pietsch, Thomas Gratt und Othmar Keplinger entwickelte sich die österreichische Hilfstruppe der »Bewegung 2. Juni«, die aus der Entführung des Wiener Wäsche-Industriellen Walter Michael Palmers 4,4 Millionen Mark erpresste, ein Betrag, mit dem die deutsche Terror-Szene bis in die 80er Jahre gut finanziert war. Die Palmers-Entführung in Wien fand drei Wochen nach der Ermordung von Hanns-Martin Schleyer statt, der Kontext war damit offensichtlich: Der Terror war nach Österreich gekommen und hielt das Land wochenlang in Atem.

Günther hatte immer versucht, die militante Szene aus dem Forum rauszuhalten, diesmal hatte er nicht genau genug hingesehen. Einige Journalisten wussten aber, dass sich die APG zunächst im Forum getroffen hatte – und die Story »Terrornest im Nenning-Büro« hätte den Verlag in ernste Nöte bringen können. Bleich trommelte Günther alle zusammen und wies uns an, nicht mit Journalisten zu sprechen.

Am selben Abend kaufte ich die neue Ausgabe des profil mit der Geschichte zur Palmers-Entführung. Auf Seite 18 war der Erpresserbrief faksimiliert, also das mit Schreibmaschine getippte Original. Ich sah näher hin – und entdeckte ein in der Zeile leicht fliegendes kleines »g«. Es kam mir bekannt vor – von meiner Schreibmaschine im Forum, meiner Olivetti mit Korrekturtaste! Haben die Idioten die benutzt, schlug es wie ein Blitzschlag in mein Gehirn ein. Das ist ja brandgefährlich. Ich traute mich nicht einmal, mit Ramona darüber zu sprechen.

Die Stadt war noch spätabends in einem fiebrigen Ausnahmezustand, überall Polizei, die Anti-Terror-Einheit »Cobra« wurde gegründet. Wurde das Forum schon überwacht, war es vielleicht schon von Polizei umstellt? Ich wollte hin, die Schreibmaschine holen und in den Wienfluss werfen, wie ein paar Jahre vorher das Geschäftsschild meines Vaters, wurde ja auch nie wieder gefunden.

Da fiel mir ein, wie auffällig es ist, spätabends eine Schreibmaschine zu transportieren. Ich brauchte eine große Tasche, in der sie unsichtbar verschwindet. Hatte ich nicht. Außerdem würde ich womöglich Fingerabdrücke hinterlassen. Und was würde ich erzählen, wo die Schreibmaschine hingekommen ist? Es war ja meine, die ich immer benutzte. Ich brach die Aktion ab und hatte eine schlechte Nacht.

Am nächsten Morgen brachte ich sie zum Reparieren in das Olivetti-Geschäft in der Gumpendorfer Straße, im Verlag gehörte so was ohnehin zu meinen Aufgaben.

Es wurde nie nachgefragt. Vielleicht war ich auch nur paranoid. Walter Palmers wurde am Tag vor seinem 75. Geburtstag wieder freigelassen, nachdem das Lösegeld bezahlt worden war. Thomas Gratt rammte sich einen Tag vor seiner Entlassung aus 13 Jahren Haft ein Küchenmesser in die Brust. Othmar Keplinger starb 2010 an Krebs. Dr. Reinhard Pietsch, er schloss während seiner vierjährigen Haft sein Philosophiestudium ab, beschwerte sich vor Kurzem, sein Verdienst sei in der linken Geschichtsschreibung nicht genügend gewürdigt: »Es ist nicht schön«, sagte er bei einer Podiumsveranstaltung in der Kunsthalle in Wien, »nach Jahren rauszukommen, in einer Buchhandlung zu blättern und in einem Band über die ›Bewegung 2. Juni‹ zu sehen, dass man überhaupt nicht vorkommt. Das ist eine Frechheit. Diese Leute gehören vor ein Militärgericht!«

ohne maulkorb
Jugendsendung “Ohne Maulkorb”: Sozialdemokratischer Fernsehfunktionär will den jungen MAC loswerden

Ich wechselte zum Österreichischen Fernsehen, zum linken, ständig an der Kippe stehenden Jugendmagazin Ohne Maulkorb. Ich kam zunächst gut an – bekam dann aber doch mit meinem im biederen, öffentlich-rechtlichen Umfeld umso auffälligeren antiautoritären Gestus schnell Probleme.

Als ich mich weigerte, Änderungen an einem Beitrag vorzunehmen beziehungsweise die nichtveränderte Version in die Sendeleitung schmuggelte, sollte ich rausfliegen und keine Aufträge mehr erhalten. Günther fand dies unerhört (»Was is denn das für ein Depp, ein depperter«, er meinte den Hauptabteilungsleiter), griff zum Telefon und schrieb einen Brief, in dem er an das Gewissen des sozialdemokratischen Fernsehfunktionärs appellierte, er könne doch einen »hochtalentierten jungen Kollegen« nicht an die Luft setzen, der noch dazu der gleichen »Bewegung« angehöre. Mit freundschaftlichen Grüßen … Das war die Grußformel unter Sozialdemokraten, abgeleitet vom Gruß »Freundschaft!«

Der Welpenschutz funktionierte, am nächsten Tag saß ich wieder in der Redaktion. Ein weiteres Mal habe ich den Schutz nicht in Anspruch genommen. Offenbar fühlte ich mich völlig aufgehoben in der Gewissheit, beschützt zu sein, ohne es ständig neu austesten zu müssen. Mehr Vertrauen kann ein Vater nicht stiften, das ist ja schon fast gottväterlich!

Ich hatte einen Vater gefunden, dem ich gefiel.

20 Jahre später, ums Jahr 2000, ich war längst in Hamburg, besuchte ich Günther in Wien, zusammen mitmeiner damals noch neuen Freundin Eva. Wahrscheinlich wollte ich auch ein wenig angeben, am selben Wochenende traf ich mit ihr auch einen anderen Wiener Bekannten, den Künstler André Heller. Wir saßen in Günthers Büro in der Museumstraße in der Bibliothek, die ich früher aufgeräumt hatte.

Günther fragte, ob er Wein bringen solle. »Ihr seid doch Alkoholiker«, witzelte er, seine Augenbrauen waren noch buschiger geworden, »Alkoholiker in Hamburg.«

Günther war alt geworden. Was ich in der Zwischenzeit als Journalist tat, war ihm nicht mehr recht zugänglich. Und ich fand die Entwicklung, die er als Journalist genommen hatte – er hatte sich im Alter auf eine penetrante Art einem engstirnigen und traditionellen Katholizismus zugewandt -, fragwürdig und auf österreichische Art traurig. Ich schlug ihm vor, seine Biografie zu schreiben. Vom Katholizismus zum Linksradikalismus und wieder zurück. Vielleicht auch all die Frauengeschichten.

Und die Geschichten seiner echten Söhne … so unendlich viel Stoff. Er reagierte seltsam unbeteiligt. Ja, ob ich denn die Zeit hätte, das sei ja viel Arbeit.

Der Alkoholiker in Hamburg tat dann nichts daran. 2006 starb Günther Nenning an den Folgen eines Wanderunfalls in Österreich. Seine Bibliothek ist heute im Tiroler Waidring aufgestellt und öffentlich zugänglich.

Bei Doktor Von in Hamburg beklagte ich Schuldgefühle, so viel von Günther Nenning bekommen und ihm nichts »zurückgegeben« zu haben. Sie folgte der Logik nicht, versuchte eher, mich innerhalb der Beziehung zu Günther Nenning aufzuwerten: »Sie waren sicher auch ein wertvoller Mitarbeiter für ihn.«

Die Mischung aus linksradikal und katholisch, gepaart mit der typisch österreichischen, irgendwie skurrilen Prominenz Günthers, war ihr spürbar fremd und sagte ihr nichts.

Vor allem das Katholische. »Glauben ist eigentlich eine Psychose, das wissen Sie ja, denke ich«, sagte sie einmal und ich war erstaunt über die eindeutige, eindeutig wertende Aussage.

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