Peter Weibel ist tot. Ich, der MAC, gewöhne mich doch nicht an das dauernde Sterben. Alle sterben, wer wird eigentlich geboren? Peter Weibel, Medienkünstler, steht in den Nachrufen. Künstler auf jeden Fall, wenn das mit einer inneren Freiheit zu tun hat. Medien, ja, egal. Digital war er uns allen immer weit voraus. „Der Weibel“ hatte richtig Lust auf Zukunft, in meiner Generation ist das nicht so häufig. Er redete so schnell und fast unverständlich, weil sein Kopf praktisch immer am Explodieren war. Trotzdem konnte er sich auf auf Menschen einstellen. In den 70er und 80er Jahren in Wien, ich damals bei Günther Nenning im Neuen Forum und später im WIENER, konnte ich ihn immer anrufen, immer fragen, er hatte für jede Geschichte Zeit – „tolle Geschichte, Michl, das wird eine tolle Geschichte“. Ich konnte ihn sogar anrufen, wenn ich nicht wusste, wie man sowas Neues schreibt – damals gab es noch kein Internet. Geduldig und ohne jeden Vorwurf buchstabierte er das Wort vor. Er sah nie auf die Uhr – und hatte immer Zeit, vielleicht ist das der Trick. Obwohl er unmöglich Zeit haben konnte, neben den Dutzenden Projekten, Arbeiten, Professuren … was das alles war, sollen andere aufschreiben. Zeit nahm er nicht zur Kenntnis – obwohl er anderseits jeden Text auf den Tag genau abgab.
Und er war so freundlich! Prinzipiell freundlich! Immer freundlich! Auch nicht das Normale in unserer muffigen Truppe. Er war auch cool, Vorbild, role model. Der verrückte Professor (er war schon ganz früh Professor), den jeder mochte. Der die tollsten und interessantesten Frauen hatte, Valie Export, für die er sich als Hund durch die Wiener Fußgängerzone führen ließ („Aus der Mappe der Hundigkeit“, Wien, 1968), Susanne Widl (die ihn um zwei Köpfe überragte), Schauspielerin, Model, Kunstsammlerin, Muse, Mäzenatin und nicht zuletzt Inhaberin des „Café Korb“ am Wiener Lugeck, in dem ich „Interviews“ mit Peter Weibel abhalten konnte (also, ihm zuhören), ohne danach den Großen Braunen zu bezahlen. Und den Gipfel der Coolness erklomm Weibel lässig, als er in den 80ern mit dem Hotel Morphila Orchester im Handumdrehen auch noch Rockmusiker wurde, Wiener Avantgarde (Aktionismus, Gerhard Rühm) mit Wiener Rocktradition (Novaks Kapelle) aussöhnte, mit einem lauten, hämmernden, redundanten Velvet Underground-Auftritt, Weibels Genuschel plötzlich in einem angriffigen, punkigen Ton. Hier das Video zum Hotel Morphila-Hit „Dead In The Head“.
Zuletzt war er, so schien es, voller Lebensmut. Er stand vor der Pensionierung als langjähriger Leiter des ZKM in Karlsruhe. Die Übersiedlung seiner Millionen Bücher und monströsen Zettel- und Mappen-Landschaften aus Karlsruhe nach Wien, wo er den Ruhestand (?) verbringen wollte, war ein öffentliches Problem, das in der Süddeutschen Zeitung erörtert wurde. Er wollte in Wien einen Bücherturm errichten, in der Mitte einen Aufzug zum Wohnen. Zum Unterschied von praktisch allen anderen Peter Weibel-Projekten sollte dieses nichts mehr werden. Danke, Peter, für alles, es war so viel.
Gestrandet im „Café Korb“ und die Folgen
Als ich, der MAC, das Blog-Foto mit den Wiener Künstlern im Café Korb aussuchte, musste ich nicht nur an Peter Weibel denken, sondern auch an meine Zeit im Wien der 70er und 80er Jahre, in der das Café Korb das nächstgelegene zu der Wohnung in der Kleeblattgasse war, die ich damals mit meiner Freundin Ramona und ihrem behinderten Sohn Benni teite. Das Café Korb spielte dabei eine intiale Rolle, weil ich es von da aus geschafft hatte, Ramona ein grosses (entscheidendes) Stück näher zu kommen – als ich eines Nachts im Korb gestrandet war, angeblich oder wirklich ohne eigene Haustorschlüssel. Aus dem Münztelefon rief ich klopfenden Herzens Ramona an, ob ich übernachten könne, ich sei ausgesperrt bei mir in der WG, ein damals übliches Vorgehen, ich weiß nicht, ob es das heute noch gibt (mich ruft nie jemand an und will übernachten). Das sollte dann der Anfang meines Einziehens bei Ramona werden. In der darauf folgenden, im MAC bereits ausgebreiteten Zeit lebte ich ziemlich glücklich mit Ramona und ihrem Kind – und arbeitete bei der Zeitschrift „Neues Forvm“ als Verlagslehrling und Jungredakteur. Den Weg von der Kleeblattgasse in die Redaktion in der Museumstrasse nahm ich meist mit einem alten Klapprad auf mich, aus heutiger Sicht eine formidable Sightseeing-Tour durch die Wiener Innenstadt, was mir damals natürlich nicht auffiel. Tuchlauben – Lugeck (Cafe Korb) – Graben – Kohlmarkt – Michaelerplatz – Burgtor – Hofburg – Heldenplatz – Ballhausplatz – Burgring – Bellariastrasse – Museumstrasse, Museumstrass 5, 1070 Wien, das war die eine Zeit lang heisse Adresse der Redaktion des „Neuen Forvm – Zeitschrift für den Dialog zwischen Christentum und Marxismus“, in der ich Verlags- und Redaktionslehrling war, von 1973 bis 1979.
Von meinen Lehr- und Wanderjahre in der Obhut von Günther Nenning, der damals für sich beanspruchte, eine Art Gallionsfigur der österreichischen „Neuen Linken“ zu sein (aber nur von den Rechten so gesehen wurde), ist in MAC viel die Rede, aber auch in diesem Blog, auch heute wieder. Warum? Na, jetzt sollte eine Antwort kommen. Einerseits … anderseits, erstens … zweitens .. Alsdann, einerseits, weil ich (immer: Euer MAC) stark geprägt bin von dem was ich damals gesehen und gelernt habe, stärker, als mir heute oft lieb ist. Z.B. lebe ich heute in genau so, wie es Günther Nenning damals tat, nämlich im Büro, in der Redaktion. Anderseits … Ich schrieb den MAC im Jahr 2019, vor vier Jahren – und ich schrieb damals über die Zeit meiner Redakteurslehre in den 70ern. Und wenn ich jetzt MAC-Texte, die das tolle Treiben in der Redaktion beschreiben, in diesen Blog kopiere, fällt mir daran eine, heute würde man sagen, von Grund auf toxische Kultur auf, der gegenüber ich beim Schreiben des MAC noch blind war. Diese Selbstanklage mag spät, zu spät kommend wirken, naiv, irgendwie daneben, ja, selbst 2019 mag schon abzusehen gewesen sein, welche Dynamik mit dem neuen Label der „Genderfrage“ und ihrer globalen Wucht verbunden sein würde. Der MAC ist so geschrieben, wie ich es damals erlebt habe, das ist seine Stärke und seine Schwäche zugleich, wenn ich mal so sagen darf. Da ich eher Täter als Opfer war (ohne damals zu merken, Täter zu sein), aus der Täterperspektive (ohne die Rolle bis heute angenommen zu haben). Ich weiß nicht, das ist kompliziert. Auf der anderen Seite machte das „Forvm“ Alice Schwarzer bekannt. Wie war es wirklich? Können wir (wer?) das nicht mehr aufklären, oder wollen wir nicht?
Ich kann es offen sagen, es geht wahrscheinlich in einer zu 90 Prozent männlichen Redaktion, die das „Forvm“ damals war, um den Umgang mit Frauen. Es ist klar, dass vieles, was Günther Nenning (und in Folge ich, sein Nachahmer) mit Frauen veranstaltet haben, heute teils schwere Missbrauchs- und Me-Too-Fälle wären. Vieles habe ich im Buch ohnehin sehr offenherzig (zu offenherzig?) ausgebreitet, jetzt erscheint es mir peinlich, hier nochmal nachzuwühlen, nur jetzt im Gestus der Selbstanzeige oder der Beichte. Ich denke nochmal nach.
Wie ich lernte, links zu sein – und was ich dabei lernte
Auszug aus „Mann auf der Couch“, Seiten 254 bis 265
Ich war magisch angezogen von der mächtigen Vaterfigur Dr. Dr. Günther Nenning (gegen die mein leiblicher Vater wie ein Zwerg erschien) und der Geborgenheit einer großen, ideologischen, sinnstiftenden Gemeinschaft, die für alle Fragen des Lebens Antworten bereithielt – ähnlich wie bei »Spartakus«, doch mit dem Unterschied, dass ich in dem Verlag, der das Neue Forum, die »Zeitschrift für den Dialog zwischen Christen und Marxisten«, und die Neue Freie Presse veröffentlichte, viel besser aufgenommen wurde. Ich war zwar auch da der weitaus Jüngste, bekam aber viel mehr Aufmerksamkeit als bei den »Spartakisten«, zumindest im Kreis der jüngeren Mitarbeiter der Neuen Freien Presse.
Für einen linken Journalisten war Günther Nenning in Österreich erstaunlich bekannt, den Rechten in Österreich galt »der Nenning« als Revoluzzer, Verführer der Jugend, als subversiv. Nennings Verdienste waren ein »Volksbegehren zur Abschaffung des Bundesheeres«, die Entwicklung des Neuen Forum zu einem im gesamten deutschsprachigen Raum relevanten Organ der Neuen Linken, mit deutschen Großautoren wie Adorno, Bloch, Habermas, österreichischen wie H. C. Artmann, Ernst Jandl, Elfriede Jelinek und internationalen Stars wie Albert Camus, Herbert Marcuse oder Jean-Paul Sartre. Später verwandelte er sich in einen »Auhirschen« und frühen Grünen, mit der Besetzung der Hainburger Au und der darauffolgenden Etablierung einer ökologischen Bewegung in Österreich.
Heute noch bewundere ich Günther dafür, alle nannten ihn Günther, wie viel er in einem Leben untergebracht hat.
Als Figur der Zeitgeschichte war Nenning ein Meister der Selbstinszenierung und ein begnadeter Netzwerker. Als Präsident der Journalistengewerkschaft selbst Teil des Österreichischen Filzes zwischen Staat, Industrie und Gewerkschaften, der sogenannten Sozialpartnerschaft, gelang es ihm über Jahrzehnte, den Verlag mit politischen Anzeigen über Wasser zu halten.
Zur volkstümlichen Figur wurde er, als ihm Bundeskanzler Bruno Kreisky die Freude machte, den »Doktor Doktor Nenning« als »Wurschtel« zu bezeichnen – allein wie Günther den Doppeldoktor trug, wirkte provozierend und/oder ehrfurchtgebietend im titelfixierten Österreich.
In den 80er Jahren zog es ihn ins Fernsehen, er moderierte die erste deutsche Talkshow, »3 nach 9« bei Radio Bremen, und gründete in Österreich den »Club 2«, der mit spektakulären Auftritten einer masturbierenden Nina Hagen und einem triumphalen Doppelauftritt von Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit so was wie Fernseh-geschichte schrieb. Zur Gründung der irgendwie antiautoritären Jugendzeitschrift Neue Freie Presse, bei der ich meine erste Redakteursstelle hatte, ließ er ein Nacktfoto der Redaktion (inklusive seiner selbst) verbreiten, das im Spiegel nachgedruckt wurde und das Heft für einen Augenblick berühmt machte.
Anfangs arbeitete ich noch untertags in der bürgerlichen Buchhandlung und kam immer abends in den linken Verlag, doch bald brach ich die Buchhändlerlehre ab und Günther stellte mich als Verlagslehrling ein, damit das Ganze eine Form hatte. Aber eigentlich fühlte ich mich als Redakteur und war es auch.
Im Verlag arbeitete ich nur ein paar Tage im Monat, immer wenn es darum ging, die schon in Umschläge gesteckten Hefte der Abonnement-Auflagen vom Forum oder von der Neuen Freien Presse nach Postleitzahlen zu sortieren, die Bündel in große Jutetüten der Österreichischen Post zu stecken und dann diese Tüten wie der Weihnachtsmann zu schultern und zur Post zu bringen. Die restliche Zeit war ich in der Redaktion der Neuen Freien Presse.
Die Arbeit im Vertrieb verrichtete ich unter der knorrigen Aufsicht des Vertriebsleiters Franz Jindra, eines früheren Mitglieds der »Kommunistischen Partei Österreichs«, der zum Prager Frühling aus der Partei ausgetreten und wie einige andere Ex-KPler im Forum untergekommen war. Er fühlte sich wohl unter den »neuen Linken« und den Antiautoritären in Nennings Forum-Redaktion. Das schräge Jugendblatt Neue Freie Presse, für das ich gekommen war, hielt er eher für ein Abenteuer, das den ganzen Verlag gefährdete.
Morgens und am Vormittag polterte Franz oft rum und war übel gelaunt, nachmittags und gegen Abend war er meist milde und lächelte versonnen über die Karteikästchen hinweg, woran ich erkennen konnte, dass Robert, der Hausdealer des Verlags, schon da gewesen war.
Franz hatte auf seine alten Tage das Haschischrauchen entdeckt. Dealer Robert sah aus wie ein Doppelgänger von Frank Zappa und fuhr an den Nachmittagen mit einem 20 Jahre alten Bentley mit Vollautomatik und Ledersitzen durch Wien, um seine Kunden abzuklappern. Mit dabei immer seine verwirrend hübsche Freundin Nina, die im Auto wartete, wenn Robert den Bentley in zweiter Reihe hielt. Nina strebte eine Modelkarriere an, das war noch neu damals.
Da es für die Neue Freie Presse, abgesehen von Barbara und Walter, dem Artdirector Klaus Pitter und seiner Freundin, der Grafikerin Eva Gruber, keine richtige Redaktion gab, erreichte ich durch schiere Begeisterung, vor allem aber durch dauernde Anwesenheit, ich war in die Redaktionsräume regelrecht eingezogen, schnell eine bestimmte Wichtigkeit. Als im darauf folgenden Sommer niemand von den älteren NFPlern da war, um das Heft zu machen, wurde ich zu einer Art Chef vom Dienst, ohne dass wir das damals so genannt hätten. Ich »machte« das Heft, so gut ich halt konnte.
Mit der Straßenbahn fuhr ich quer durch Wien, um von Manfred Deix die Druckvorlagen-Originale seines Comics persönlich abzuholen. Deix war immer zu spät, und die Druckerei wartete schon. Während Deix mich in der kleinen Küche warten ließ, pisste mir eine seiner Katzen die Jacke voll. Ich stank so sehr, dass mich der Schaffner aus der Straßenbahn schmiss. Da ich kein Geld hatte, musste ich mit den großen Mappen (die inzwischen auch stanken) unterm Arm zu Fuß zurück in die Redaktion und kam erst spätabends an. Der Druckereitermin war in der Zwischenzeit geplatzt. Aber ich war glücklich, denn ich hatte mein Möglichstes getan.
»Unsre Lehrer keraten olle umbrocht«, stand auf der dritten Ausgabe der Neuen Freien Presse, am Titel sah man Fritz The Cat, den von uns adaptierten Character von Robert Crumb, wie er mit einem gezielten Schuss seines Geo-Dreiecks einen Lehrer hinrichtet. Es war ein tolles, ein starkes Titelbild, wir waren sehr stolz darauf. Es hing in ganz Wien auf den Litfaßsäulen und erregte auch viel Aufsehen auf der Frankfurter Buchmesse, auf die wir fuhren.
Klaus Rainer Röhl, der konkret-Chefredakteur und Ehemann von Ulrike Meinhof, besuchte uns auf unserem Stand und wir luden ihn zu einer Blattkritik nach Wien ein. »Nicht tüteln, klotzen müsst ihr«, riet er uns mit seiner seltsam hohen Stimme im hanseatischen Singsang, der damals noch neu für mich war. Dabei klotzten wir ja schon, was das Zeug hielt.
Mein Vater, der Günther Nenning aus dem Fernsehen kannte, verabscheute zwar das linke Gewese, aber er war auch promigeil und fand es insgeheim gut, wenn sein Sohn bei dem berühmten »Doktordoktor« unterkam. Allein schon das beeindruckte ihn, der doppelte akademische Grad, über den sich zwar halb Österreich lustig machte, aber mein Vater dachte, da muss er auch was geleistet haben, um gleich zwei Doktoren zu machen, und Leistung zählt.
Auf Günthers weithin bekannte Sexsucht (nannte man damals noch nicht so) anspielend, zeichnete »Ironimus« Gustav Peichl, der Vater des Tempo-Chefredakteurs Markus Peichl, einen »Ps. Ps. Nenning«, der zwei Penisse hatte. Mit solchen Bildern im Kopf machte sich mein Vater eines Tages auf in die Redaktion in der Museumstraße 5 hinter dem Volkstheater und erlag in der Sekunde dem Charme Günther Nennings, der ihm zudem versicherte, sich »um den Buam«, also um mich, kümmern zu wollen. Das tat er dann auch für einige Jahre auf rührende Weise.
Privat und öffentlich, das verband sich hier, auf eine skurrile, hochstrukturierte Weise. Günther hatte keine Wohnung, sondern bewohnte ein großes Zimmer der weit verschachtelten Verlagsräumlichkeiten, mit anschließendem Badezimmer, aber ohne eigene Küche und Toilette. Wenn ich frühmorgens kam, traf ich ihn oft im Bademantel, wenn er mit der Zeitung unter dem Arm auf dem Weg zur Toilette war.
Mein schmales Zimmer lag neben der Küche, die von allen genutzt wurde, mit einem Kühlschrank, in dem Günther Lebensmittel aufbewahrte, die er von Frau Tilde, der Verlagshaushälterin, einkaufen ließ, zweimal die Woche, immer die gleiche Menge ungarischer Salami und gekochten Schinkens. Immer wieder gab es Ärger, weil hungrige Redakteure oder andere Freunde des Hauses den Kühlschrank leer fraßen – ich selbst bediente mich auch einige Male – und Günther dann nichts zum Frühstück hatte. Da ich im Zimmer nebenan war, aber vielleicht nicht nur deshalb, wurde ich zum Wächter über Schinken und Salami bestellt, wusste aber nicht recht, wie ich das anstellen sollte. Am Ende wurde am Kühlschrank ein Vorhängeschloss angebracht und auch ich musste mich selbst versorgen.
Ich saß bei Günther oft schon morgens am Frühstücks-tisch, um die Aufgaben für den Tag zu besprechen. Oft waren auch seine Freundinnen Brigitte, Karin, Gerti oder Linda dabei (immer nur jeweils eine), die übernachtet hatten und sich das Frühstück vielleicht noch etwas privater gewünscht hätten.
Viel Zeit wäre aber ohnehin nicht geblieben, denn wenn um 9 die Sekretärinnen ankamen, die dumme, aber gutmütige Seidi und die schlaue, aber intrigante Ilse, wurde Günthers Schlafgemach mit wenigen Handgriffen in das Chefredakteurs- und Herausgeberzimmer verwandelt und den Freundinnen blieb nichts anderes übrig, als sich durch das Badezimmer, das einen eigenen Ausgang zum Flur besaß, nach draußen zu stehlen.
Von den ankommenden Mitarbeitern, denen sie auch mal über den Weg liefen, wurden sie weder begrüßt noch eines Blickes gewürdigt. In ihren Augen waren sie Nutten, die den dummen, geilen Günther ausnutzten und damit den Verlag schädigten. Ich fand Günthers Vielweiberei cool (sagte man damals noch nicht), vor allem den selbstverständlichen, aber auch irgendwie kaltschnäuzigen Umgang damit. Ich lernte von ihm nicht nur alles als Journalist, sondern auch als linker Chauvie.
Einen Zwischenfall gab es mit Linda, die sich eines Morgens weigerte zu gehen, es kam zu einem Handgemenge im Badezimmer, das Seidi, Ilse, ich und zwei, drei andere Mitarbeiter mit anhörten. Plötzlich ging die Badezimmertüre auf und eine verweinte, hysterische Linda, eine junge Lehramtsassistentin aus Kärnten, kam mit einem Päckchen in der Hand herausgelaufen und rief: »Ich bringe mich um, ich schlucke sie alle auf einmal, jetzt bringe ich mich um! Dann können die anderen Weiber kommen, denn dann bin ich tot.«
Und zu den Sekretärinnen: »Ihr könnt den Weibern jetzt alle Termine geben, denn ich bin dann tot!« Günther, noch im Bademantel, folgte ihr nach: »Sie hat die Schlaf-tabletten, verdammt, gib mir die Tabletten!«
Als Linda schon durch die Eingangstür war, brach Günther die Verfolgung ab, weil der berühmte Günther Nenning schwerlich im Bademantel auf der Straße ein Mädchen verfolgen konnte. So übertrug er mir die Aufgabe. »Michael, lauf los«, sagte er, selbst reichlich echauffiert, so hatte ich ihn noch nie gesehen, »sprich mit ihr, beruhige sie, aber vor allem, nimm ihr die Schlafmittel weg.«
An der Haltestelle der Linie 49 am Volkstheater holte ich Linda ein und fuhr mit ihr in ihre Wohnung am Zimmermann-Platz im neunten Bezirk. Es war Freitagmorgen und ich nahm mir den Tag frei, denn ich konnte sie in dieser Verfassung ja nicht allein lassen. Ich behütete siegleich durchgehend bis Montag und war dann schon ziemlich verliebt, vor allem in ihren schlanken Körper, in dem mächtige Kräfte schlummerten. Die Schlaftabletten hatte ich sichergestellt und reihte sie am Montagmorgen ordentlich in Günthers Apothekenschrank ein.
Dienstag kam ich zur Frühstücksbesprechung und Linda saß wieder da. Es war alles ganz normal und dieses Mal ging sie auch ohne Widerrede. Jetzt wusste ich, wie das hier alles lief.
Abends stand ich wieder bei Günther im Zimmer, jetzt vor seinem Schreibtisch, und berichtete vom Tag, was mir gelungen war und was nicht. Er redigierte meine Artikel mit der Hand, mit den lateinischen Korrektur-zeichen, ein »Deleatur« für »gestrichen«, und ließ schon mal von 150 Zeilen nur 30 stehen. Das erste Mal, als mir das geschah, schossen mir die Tränen in die Augen, dann begann ich, meine Texte sozusagen vorauseilend selbst zu streichen und benutzte dabei seine Korrekturkürzel. Jahre später tat ich es bei Redakteuren, deren Chefredakteur ich dann war, die über die Korrekturzeichen staunten, weil sie so was gar nicht mehr kannten.
Ich lernte alles von Günther, alles, vielfach durch Nach-machen. Heute noch ist an meiner Arbeitsweise vieles von ihm geprägt. Den Anrufbeantworter auf meinem Handy habe ich auf die gleiche affige Weise besprochen, wie er das wahrscheinlich getan hätte.
Neben dem Job begann ich, bei anderen linken Zeitschriften zu schreiben, es ging alles ganz leicht, weil ich als Redakteur bei Günther Nenning, der ich ja tatsächlich irgendwie war, ein gutes Ansehen genoss. Was ich schrieb, legte ich in Günthers Postkörbchen- wir kommunizierten im Büro über handbeschriftete A4-Blatter, wobei sich jedes Blatt immer nur auf ein Thema bezog – und ich bat ihn, den Text durchzusehen. Günther Nenning war GN, ich MiHo und heute noch liebe ich diese Kürzel, nur bin ich in der Zwischenzeit zu MH geworden.
Ich begann nicht nur, wie Günther zu sprechen, sondern übernahm auch seinen Schreibstil und lernte seine Unterschrift, weil ich manchmal, wenn er nicht da war, für ihn unterschreiben durfte. Die Unterschrift beherrsche ich heute noch. Ich verliebte mich in seine Frauen und ging mit einigen von ihnen ins Bett.
Gerhard Oberschlick, ein anderer, etwas älterer Assistent, trieb es auch weit mit dem Identifizieren, imitierte Günthers Rhetorik und seine Manierismen beim Schreiben und trug am Ende sogar seine alten Cordhosen auf, bevor er es Jahre später schaffte, Herausgeber der Zeitschrift zu werden und das groß unter dem Logo prangende »Heraus-gegeben von Günther Nenning« in derselben Schrift und Schriftgröße durch seinen Namen zu ersetzen. Vatermord.
Ich lebte in einem Gefühl absoluter Sicherheit; in dem Milieu von Autoren, Künstlern und Intellektuellen, aber auch von Schulabbrechern, Ausreißern, Drogen- und Alkoholsüchtigen, Kleinkriminellen und Behinderten, das sich um die Redaktion gebildete hatte, fühlte ich mich geborgen, es war zu meiner neuen Familie geworden.
Außer zu meiner Oma hatte ich kaum noch Kontakt zu meiner echten Familie, die mir jetzt unfassbar kleinbürgerlich und reaktionär vorkam. Wenn ich kein Geld mehr hatte, ging ich um einen Vorschuss in die Buchhaltung, es waren nie hohe Beträge, ich brauchte damals wenig.
Ich wusste, ich konnte einfach mit allem zu »Günther. kommen, ohnehin galt »Verbote gehören verboten«, und selbst wenn ich jemanden ermordet hätte, so empfand ich es damals, hätte ich nur zum Günther laufen müssen und er hätte es mit einem Anruf beim Justizminister geregelt.
Umgekehrt tat ich alles für Günther, allerdings auch nie ganz ohne Eigennutz und langfristig mit erheblichem Gewinn.
Im Sommer, wenn er auf Ischia weilte, um sein jährliches Buch zu schreiben, durfte ich in seine Räume einziehen, das war so vereinbart, um die Bibliothek aufzuräumen. Nachts, zumindest einige Male ist es vorgekommen, lockte ich Mädchen in den Verlag. Die konnten es gar nicht fassen, wie ich hier an der doch bekannten Redaktions-adresse inmitten der Bücher- und Zeitschriftenstapel hauste – und waren bis zur Wehrlosigkeit fasziniert, was ich natürlich ausnutzte.
Ich schlief mit ihnen und verfolgte sie dann mit verlogenen Liebesschwüren, mit langen Briefen, die ich in Günthers Stil schrieb, oder kannte sie nicht mehr, wenn mir irgendwas nicht gepasst hatte. Bücher, die doppelt waren oder von denen ich annahm, dass Günther sie nicht brauchte, verschenkte ich an die Mädchen oder räumte sie zur Seite und verkaufte sie am Flohmarkt.
Ich trank schon zu der Zeit viel und mein ganzes Leben kam mir rauschhaft vor, oder wie ein Trip, der auch böse ausgehen kann. Ich begann zu spüren, dass mich etwas von innen bedrohte, das eines Tages gefährlich werden könnte.