Nachtragend

Blog 04.August 2023: Marx im Homeoffice

Der MAC denkt sich, klar sind die Hauptursachen der Kapitalismus und die Klassengesellschaft, doch kommen heute spezifische, neue Faktoren hinzu, die uns depressiv machen. Am 04. August war hier von der isolierenden, entsolidarisierenden, trübseligmachenden, masturbationsfördernden, jedenfalls üblen Wirkung des Home-Office die Rede, das genau genommen eine Folge der Corona-Epidemie ist. Viel zu lesen war zuletzt auch von der schlechten psychischen Verfassung der jungen Menschen in Deutschland, die Isolation und Homeschooling doch nicht so ohne weiteres wegsteckt haben.

Für den MAC ist Homeoffice eigentlich nur Homeschooling für Erwachsene, doch während bezüglich der Schüler ein bestimmtes allgemeines Verständnis darüber herrscht, dass man ihnen übel mitgespielt hat, wird am genauso krank- irre- und dumm-machenden Homeoffice unvermindert festgehalten.

Der für die wissenschaftliche Leitung der Shell Jugendstudie bekannte Sozialforscher Klaus Hurrelmann hat nun sehr einleuchtend diagonistiziert, in welchem Ausmaß die Gesellschaft  nach Coronoa traumatisiert ist – und wie das den Aufstieg der rechtsradikalen AfD fördert.

Die Fragen hat die taz gestellt, die das Interview am 3. August online stellte. Hier ein Auszug:

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Klaus Hurrellmann 79, ist Sozialwissenschaftler. Nach langer Tätigkeit an der Universität Bielefeld ist er aktuell Senior Professor of Public Health and Education an der Berliner Hertie School

taz: Herr Hurrelmann, Sie kritisieren, dass die Bundesregierung die mentale Verfasstheit der Bevölkerung viel zu wenig berücksichtigt – auch dadurch habe die AfD derzeit leichtes Spiel. Was meinen Sie damit?

Die Coronapandemie hat bei allen Altersgruppen zu schweren Einschnitten des normalen Lebensrhythmus geführt. Viele Menschen haben das Gefühl, aus dem Tritt geraten zu sein, die Kontrolle verloren zu haben, sie sind erschöpft. Man kann eine Analogie zum Krankheitsbild der posttraumatischen Belastungsstörung ziehen.

Da weiß man, dass das wahre Ausmaß einer Belastung sich erst zeigt, wenn man die akute Krise eigentlich schon hinter sich hat. Einen solchen Effekt beobachten wir in allen Altersgruppen, bei jungen Leuten besonders stark. Wir haben es mit einer psychisch sehr belasteten, sehr erschöpften Bevölkerung zu tun. Die bräuchte jetzt eigentlich Ruhe. Aber stattdessen stehen wir vor den nächsten Krisen: Klima, Krieg, Inflation, vielleicht auch noch eine Fluchtbewegung. Auch diese Krisen können von einem Individuum nicht mit eigenen Ressourcen bewältigt werden. Es ist die nächste Überforderung.

Bei der posttraumatischen Belastungsstörung handelt es sich um ein klar definiertes Krankheitsbild aus der Psychiatrie – kann man das so einfach auf die Gesellschaft übertragen?

Traumatisierung ist eine Befindlichkeitsstörung, die sich darin äußert, dass Menschen unter sehr hohem Stress, unter Hilflosigkeit und starker Belastung leiden. Sie kommen mit ihren Lebensherausforderungen nicht zurecht, weil sie aus dem Rhythmus geraten sind. Es ist ein Gefühl von Ohnmacht. Die Belastungssymptome gehen in drei Richtungen.

In welche?

Zum einen nach innen. Deswegen haben wir so eine starke Zunahme von psychischen Störungen, von Angst- und Essstörungen und Depressionen. Dann gibt es Druck nach draußen, eine Zunahme von Aggressivität, auch von politisch extremen Haltungen. Und drittens gibt es Sucht als Ausweichstrategie, um sich Entlastung zu verschaffen: die Zunahme bei einigen legalen und illegalen Drogen, aber auch bei Videospielen oder überhaupt der Nutzung von digitalen Geräten.

Was schon in der Pandemiezeit zu beobachten war.

Aber es verschwindet nicht. Und jetzt kommen die Klimakatastrophe, die wir während der Pandemie etwas verdrängt haben, und all die anderen Krisen hinzu. Sie erinnern daran, dass man erst vor Kurzem Ohnmachtsgefühle hatte. Das schafft Unsicherheit und Pessimismus und große Erschöpfung.

Was ist die gesellschaftliche Folge, wenn die Bevölkerung derart erschöpft ist?

Das Gefühl, wir können unser eigenes Leben selbst in die Hand nehmen, wir schaffen das, kommt abhanden. Wir verstehen nicht mehr, was eigentlich los ist, weil es über die eigenen Kräfte hinausgeht. Und dann sucht man nach Unterstützung und Entlastung – und eine Verschwörungstheorie zum Beispiel leistet das. Die gibt mir Sicherheit, weil ich weiß, woran es liegt. Ich habe die Ursache gefunden. Die CIA hat das Coronavirus erfunden, ich kenne den Schuldigen. Der Klimawandel ist nicht menschengemacht, ich kann also nichts tun.

Was natürlich alles Unsinn ist …

… aber es sind befreiende Mechanismen, weil sie entlasten. Solche Mechanismen aktiviert jeder von uns in unterschiedlichen Situationen – dann, wenn das Gefühl überhand nimmt, dass ich keine Kontrolle mehr über mich und mein Leben habe. Nach dem Konzept der Salutogenese des Soziologen Aaron Antonovsky braucht der Mensch aber dieses Kohärenzgefühl.

Dieses Kohärenzgefühl?

Das heißt, dass drei Dinge wichtig sind. Dass ich als Mensch erstens das Gefühl brauche, ich kann die Welt verstehen, dass zweitens die Herausforderungen, die vor mir liegen, machbar sind, und dass drittens das Ganze auch Sinn macht, es sich also lohnt, in die Zukunft zu investieren. Wenn dieses Gefühl Schaden nimmt, dann werde ich pessimistisch, glaube weder an mich noch an die Gesellschaft und suche nach rettenden Strohalmen.

Sie sagen, von dieser Situation profitiert die AfD. Wie funktioniert das aus Ihrer Sicht?

Das ist eine Ausgangssituation, die von der Politik aufgenommen werden muss. Und man muss bisherigen und den jetzigen Regierungsparteien zugute halten, dass sie daran gearbeitet haben, an der Pandemie, am Krieg und an der Klimakrise. Klein-klein und rational. Aber es gelingt ihnen nicht, die Bevölkerung auch emotional mitzunehmen. Das liegt auch an den ständigen internen Debatten. Deshalb gelingt es nicht, in der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken: Wir wissen, wo’s langgeht, es gibt Licht am Horizont. Und davon profitiert eine Partei …

Die AfD, die in Umfragen gerade ein Hoch erlebt.

Ja, ihr Höhenflug hängt auch damit zusammen. In einer solchen Situation sind einfache Antworten auch für Menschen interessant, die nicht zur rechtsextremen Stammklientel gehören. Weil diese einfachen Antworten entlastend sind. Und die AfD bietet solche Antworten, die natürlich zugleich oft untauglich sind.

Entlassen Sie mit einer solchen Pathologisierung die AfD-Wähler*innen nicht aus ihrer Verantwortung?

Man muss mit der Metapher der posttraumatischen Belastungsstörung vorsichtig sein, das sehe ich auch. Aber meine Idee ist ja nicht, diese Menschen zu pathologisieren, sondern zu zeigen, dass Politik mit dieser nachvollziehbaren Verunsicherung und der Orientierungslosigkeit der Menschen umgehen muss. Und das nicht nur rational. Das bedeutet auch, es mit neuen Herausforderungen nicht zu übertreiben.

Was würden Sie der Bundesregierung empfehlen? Was kann sie tun?

Notwendig ist eine ermutigende und ermächtigende Politik, das, was im Englischen so schön Empowerment heißt. Olaf Scholz sollte mit seiner Regierung der Bevölkerung endlich anbieten, was sie dringend braucht: ein Gefühl der Machbarkeit, Verstehbarkeit und Sinnhaftigkeit.

Haben Sie eine konkrete Idee?

In der Klimapolitik könnte ich mir zum Beispiel eine Meinungsumfrage vorstellen, mit der die Bundesregierung die Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung vermisst und in der die Bevölkerung sich äußern kann, in welchem Ausmaß Klimapolitik gemacht werden soll. Das wäre ein Signal vonseiten der Regierung, dass sie die Ohnmachtsgefühle der Bevölkerung ernst nimmt und Angebote macht, sie zu überwinden.

Wenn wir Ihre Analogie der posttraumatischen Belastungsstörung noch einmal aufnehmen: Wie kann man eine solche Störung – medizinisch gesehen – eigentlich überwinden?

Alle Erfahrungen aus der Psychiatrie sagen, dass eine posttraumatische Belastungsstörung heilbar ist. Das braucht Zeit, der wichtigste Schritt ist, wieder die Kontrolle über das eigene Leben zu gewinnen. Dazu muss ich das Trauma, was mich umgeworfen hat, verstehen. Ich muss anerkennen, dass es jetzt Bestandteil meines Lebens ist und ich damit leben muss. Wichtig ist dabei, dass ich nicht ständig an das Ohnmachtsgefühl erinnert werde. Deswegen ist es bei den großen politischen Herausforderungen jetzt so wichtig, dass die Regierung mit der Bevölkerung einen Minimalkonsens herstellt.

Also kein Vorpreschen der Grünen mehr wie beim Heizungsgesetz und zugleich mehr Zugeständnisse von der FDP?

Alle müssen Zugeständnisse machen. Sie müssten zeigen, dass sie in der Lage sind, eine große Herausforderung gemeinsam zu lösen. Auf keinen Fall getroffene Vereinbarungen wieder infrage stellen, das unterhöhlt jede Glaubwürdigkeit und jede Verlässlichkeit. Ich glaube, das ist das Schlimmste, was der Ampel passiert ist.

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Szene aus dem “Pornofilm” mit Michel Houellebecq (links), inszeniert vom niederländischen Künstlerkollektiv KIRAC (Keeping It Real Artists)

Blog 02. August 2023: Ein Schritt aus der rechten Ecke

In der neuen Blog-Rubrik „Buch der Woche“ (MACBook of the week, wie sie der MAC scherzhaft nennt) besprach der MAC das neue Buch des von ihm sehr verehrten Michel Houellebecq, „Einige Monate in meinem Leben“, in dem er diverse Medienskandale (Äusserungen zum Islam, Pornovideo) einzuordnen versucht. Ab Seite 100 beschreibt er auch seinen Medienkonsum und bringt in wenigen Sätzen auf den Punkt, wie das Internetals Medium der Information versagt – und (das hängt der MAC jetzt dran:) zur immer weiteren Verrücktmachung der Bevölkerung beiträgt:

“Das Merkwürdigste war, dass sich an meiner öffentlichen Präsenz nicht das Geringste geändert hatte. So gut wie alle hatten mich bezüglich dieses Pornofilms beruhigen wollen, indem sie mir sagten, eine Nachricht jage die andere, bald werde es vergessen sein. So gut wie alle täuschten sich; dieser Pornofilm würde niemals in Vergessenheit geraten. Die Scham, um nochmals Kafka zu zitieren, sollte mich überleben. Es würde nie wieder etwas in Vergessenheit geraten, und seltsamerweise schien ich das als Einziger zu wissen. Beinahe täglich versicherte mir ein Leser, der mir auf der Straße begegnete, mich erst kürzlich im Fernsehen gesehen zu haben. Meine letzten Fernsehauftritte gingen aber auf den September des Jahres 2015 zurück, als Unterwerfung erschienen war. Meine Leser irrten in gutem Glauben, sie sahen gewiss noch weniger fern als die übrige französische Bevölkerung, ich konnte sie verstehen. Ich habe weiter oben von meinen Fernsehgewohnheiten erzählt; sie richteten sich eher auf Sendungen ohne unmittelbaren Aktualitätsbezug. Radio hatte ich niemals gehört, mit Ausnahme der Hitparade (RTL und Europe 1) als Zwölfjähriger. Ich musste irgendwann einmal Zeitungen oder Zeitschriften gekauft haben, vor langer Zeit und wahrscheinlich nicht sehr häufig, ich habe keinerlei Erinnerung daran. Wie informierte ich mich? In sehr geringem Maße durch das Betrachten der Kiosk-Auslagen, das ist meine Flaneur-Seite, hauptsächlich aber wie alle anderen auch über das Internet, will heißen, ich informierte mich gar nicht. Bei einer Internetsuche werden nicht die jüngsten Ergebnisse zuerst angezeigt, es sei denn, die Suchmaschine ist entsprechend eingestellt; meine Leser sahen mich über das Internet im Fernsehen, beinahe so oft, als hätte ich jeden Tag einen Auftritt. Es gab gewissermaßen keine Aktualität mehr.”

Aus: Michel Houellebecq, Einige Monate in meinem Leben – Oktober 2022 – März 2023, DuMont Buchverlag, Köln 2023

Blog 21. Juli 2023: Vom psychologischen Mehrwert, Marxist zu sein

Hier muss ich nachtragend sein – und zwar in Bezug auf die aufgezählten „Mehrwerte“, Marxist zu sein – wie etwa, ein besserer (weniger ohnmächtiger) Mensch zu werden. Einen ganz wichtigen “Mehrwert” hat der MAC vergessen:

Es werden gemeinsame Rituale ausgebildet, über Codes lässt sich die Zugehörigkeit zur Gruppe signalisieren.

Einer davon: Grußformeln. Der MAC liebt es, die Kollegen (?) aus der MASCH-Gruppe mit „Genossen“ anzusprechen und als Begrüßung oder Verabschiedung ein herzhaftes „Rotfront“ in die Runden zu schicken, wie er es in seiner Jungend bei den Trotzkisten in Wien (GRM-Gruppe Revolutionärer Marxisten) gesehen hatte.

Naja. So selbstverständlich ist das in Wirklichkeit heute nicht mehr, der MAC liebt es mehr theoretisch. Die MASCH-Gruppen sind da eher scheu, meiden generell das Plakative. Aber das muss ja nicht so bleiben … Da hält es  der MAC so wie Herbert Achternbusch mit Bayern: „Ich bleibe solange in der MASCH, bis man es ihr anmerkt …“

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Rudi Dutschke, 1967 in Berlin: Der MAC liebt dieses Foto, deshalb hier schon zum zweiten Mal

Im Blog-Artikel vom 21. Juli war auch Rudi Dutschke angesprochen, als jemand, der zum Marxismus eine eher emotionalen, eklektischen Zugang hatte, sich gleichwohl dazu bekannte. Erst als der Blog-Beitrag längst online war, stiess der MAC auf dieses Zitat – ein Tagebuch-Eintrag vom 30. März 1963:

„Wenn die Geschichte nicht von den Persönlichkeiten, sondern von in der Materie liegenden Gesetzen, so meint jedenfalls der marxistische Geschichtsmythos, gelenkt wird, kann eigentlich nichts schief gehen. Engels nähert den Geschichtsprozess weitgehendst dem Naturprozess an, liquidiert damit die bewusste freie Entscheidung des Individuums, der Gruppe, der Partei usw. – alles wird unvermeidlich; da der Kommunismus, die klassenlose Gesellschaft, beschlossene Sache ist, braucht uns eigentlich die Gefahr eines Atomkriegs nicht zu schrecken. Die Denker solchen Unsinns werden nie die Entfremdung des Menschen aufheben. Entfremdung ist nicht durch die scheinbare Verselbständigung der vom Arbeitenden geschaffenen Waren gegeben, nicht nur durch die Feindlichkeit dieser von ihm produzierten Waren – Entfremdung ist für mich auch Starrheit des Denkens, Geschlossenheit des Denkens. Die Befreiung des Menschen ist nur durch wirkliche Einsicht in die notwendigen Gegebenheiten des gesellschaftlichen Lebens möglich; eine Änderung der Besitzverhältnisse ist nicht gleichbedeutend mit Aufhebung der Entfremdung.”

Aus: Rudi Dutschke, Jeder hat sein Leben ganz zu leben. Die Tagebücher 1963 bis 1979, btb Verlag, München

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