Mit Haut und Haar

Was bedeutet es heute, linksradikal zu sein, aber erst noch, was bedeutete es damals, als sich der damals 15jährige Mann auf der Couch, in der Blüte seiner Pubertät in den Kopf setzte, „linksradikal“ zu werden, zu sein, mit Haut und Haar. Mit Haut deshalb, weil immer viel Sexualität (viel mehr: sexuelle Wünsche) im Spiel war, mit Haar, weil das wachsen musste.  Das alles im Wien der frühen 70er Jahre, das im nachfaschistischen Dämmerschlaf lag, Schnitzel-selig, aber doch auch hinterhältig, und nun durch die Ausläufer der deutschen Studentenbewegung ein wenig aufgeschreckt wurde. Der junge Mann auf der Couch hatte ein historisches Momentum erwischt und nutzte es, aus welchen Motiven auch immer, das sehen wir uns noch an. Ab 1970, 71 gründete er seine ganze Existenz darauf, linksradikal zu sein, zog in eine Kommune, verzichtete da so weit es ging auf Privateigentum, auch seine lebenslange Tätigkeit als Journalist und Autor fand da ihren Anfang und ihre Prägung.

Was bedeutet das heute noch? Vor allem, was bedeutet es, wenn der Mann auf der Couch, heute 67jährig, sich wieder seiner linksradikalen Wurzeln besinnen will? Zurück in die Zukunft? Das wäre schön. Gibt es unter dem Begriff „linksradikal“ eine Kontinuität (auch das wäre schön) oder hat es schon zu viele Brüche, Spaltungen und Verzweigungen gegeben und das Wort hat keine greifbare, nutzbare Bedeutung mehr? Was sagen die heuten „Linksradikalen“ zu einem wie dem MAC, schmeißen sie ihn raus und wollen sie sich in die Diskussion, die ich hier geführt werden könnte, gerade nicht verwickeln lassen?  Wenn der Mann auf der Couch heute unter den vielen jungen Menschen hockt, die im Hamburger 3001-Kino zur Auftakt-Veranstaltung eines „Bündnis“ gekommen sind, das zum „Aufstandsjahr 2023“ aufruft, kann er nicht umhin, was er jetzt sieht und empfindet, mit den Bildern der Erinnerung abzugleichen, warum sollte er auch.

Dieser Abgleich, der soll heute hier eine Form finden. Im folgenden steht ein Auszug aus dem Roman „Mann auf der Couch“, in dem die Tage und Wochen erzählt werden, in denen die Politisierung des jungen  MAC rasant begann, österreichischerweise fand das Erweckungserlebnis auf einem Skikurs statt. Der Text ist original dem Buch entnommen, nur Zwischentitel sind dazu gekommen. Fußnoten enthalten Quellen und sollen das ganze politisch ein wenig einordnen.

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Mitschüler Georg forderte die Klasse zum Skikurs-Streik auf – und begründete dies mit der Antiautoritären Erziehung. Der Name des Mädchens ist entfallen

Wie alles begann, 1970

In der Schule, dem Gymnasium in der Amerling-Gasse in Wien-Mariahilf, war ich immer schlechter geworden, ich konnte mich auf die Hausaufgaben nicht konzentrieren, schlich dauernd auf die Toilette und rieb an meinem Schwanz herum, was  noch zu nichts führte. Als ich in der dritten Klasse des Gymnasiums war, tauchten ein, zwei Klassen über uns die ersten „linken“ Schüler auf, Georg, Walter und Daniel, sie waren im VJM organisiert, dem Verband Jüdischer Mittelschüler, * was ich exotisch und anziehend fand. Am Skikurs am Salzburger Zauchensee, an dem mehrere Klassen teilnahmen, kam Schwung in die Sache, weil Georg die „kritischen Schüler“ eines Morgens nach dem Frühstück aufforderte, die weitere Teilnahme am Skiunterrricht zu verweigern, und zu einer Versammlung auf dem Zimmer aufrief. Dass Schüler solche Rechte haben, hatten einige von uns schon dem Kleinen Roten Schülerbuch ** entnommen, das unter den Schulbänken gelesen (demonstrativ!) und intensiv verliehen wurde.

Im Zimmer saß der dickliche Junge mit den langen schwarzen Haaren (länger jedenfalls, als ich „durfte“) und einer dicken schwarzen Brille auf der oberen Etage des Stockbetts und las aus Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung von A.S. Neill vor, dem berühmten rororo-Taschenbuch des Summerhill-Gründers. *** Im Rahmen einer antiautoritären Erziehung, stellte der schlaue Georg das Vorgelesene geschickt in den Zusammenhang, könnten Schüler natürlich niemals gezwungen werden, an irgendetwas teilzunehmen, so gesehen sei es auch unser „natürliches Recht“, die Teilnahme am Skikurs zu verweigern und auf dem Zimmer zu bleiben.

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Bestseller der 70er Jahre: Gab uns den Mut zu sagen, Nein, wie wollen von Euch nicht mehr erzogen werdenc

Nach diesem Morgen war für mich alles anders. Ich hatte die Überzeugung gewonnen, dass es ein Leben und ein Denken jenseits von dem gab, das ich bisher kannte, astronomisch weit jenseits. Daniel, der Stillere von den Dreien, der immer amüsiert wirkte und mit schnellen, wachsamen Blicken über seine randlose Brille guckte, ohne etwas zu sagen, wurde später Zentralsekretär der GRM, der trotzkistischen „Gruppe Revolutionäre Marxisten“, der „Österreichischen Sektion der IV. Internationale“,  **** wie sich die Truppe bei ihren Versammlungen im Café Museum vorstellte. Daniel redigierte schon als 18jähriger das GRM-Organ rotfront. Später wurde er außenpolitischer Korrespondent der österreichischen Tageszeitung Standard. Er, den später alle Dany nannten, oft auch den „roten Dany“, wie Daniel Cohn-Bendit in Deutschland, war mit seinem politischen Auftritt mein Vorbild. Ich hatte immer Angst, nicht so intelligent und gebildet zu sein wie er. Ich denke, das sah Dany auch so, der meine kurz darauf folgenden ersten journalistischen Gehversuche nie der Rede wert fand, er ignorierte das einfach.

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Für Daniel blieb ich wohl für immer der jüngere, etwas unkontrollierte Pennäler vom Skikurs am Zauchensee, einer, der am Abend der Neill-Lesung vor innerer Spannung förmlich explodierte, mit zwei anderen Buben in ein Mädchenzimmer einbrach, die im Schnee vorm Fenster gekühlten Fruchtjoghurts stahl und als Dankeschön Schnee und Eisklumpen in die Kissenüberzüge stopfte.

Es sollte noch einige Zeit so bleiben, dass bei dem Schüler Michael Hopp infantile Pubertätsexzesse und politische Aktion praktisch in eins fielen, aber eigentlich war auch nichts schlecht daran, außer vielleicht der Diebstahl der Joghurts.

Der betreffende Schüler

Zurück in Wien rief ich, in meiner Klasse ziemlich isoliert, ohne mich mit jemandem abzusprechen, eine „selbstverwaltete Schülergemeinde“ ins Leben, die ein „Raucherkammerl“ für die Schüler erstreiten wollte, eine Kampagne, die eines Nachmittags, als wir zum Turnunterricht in der Schule waren, im Einbruch in das „Geografie-Kammerl“ gipfelte, wo wir uns ziemlich idiotisch neben die an Bügeln einzeln aufgehängten, leinwandgroßen Landkarten aufgebaut hatten und unsere „Tschick“ demonstrativ am geölten Holzboden austraten.

Zwar brach kein Brand aus, aber die Schule musste ich dann doch verlassen, was auch eine weitere, von mir mehr oder weniger alleine angezettelte Kampagne mit Flugblättern nicht verhindern konnte, die ich im Heim der katholischen Jungschar in der Bienengasse abgezogen hatte, in das ich sonst zum Tischtennisspielen ging. Ich war sozusagen das revolutionäre Subjekt und Objekt in Personalunion.

IM STETEN BEMÜHEN UM „ORDENTLICHE“ SCHÜLERAKTVITÄT WURDE NUN EIN ENGAGIERTER SCHÜLER SUSPENDIERT *****

Augrund der in den letzten Tagen permanent stattfindenden Kreuzverhöre wurde ein Schüler suspendiert (darf die Schule derzeit nicht betreten). Damit ist die liberale Maske des BG VI., die durch das sogenannte „wohlwollende Verhalten“ der Professoren die Widersprüche der österreichischen Mittelschulen (Lernmotivation durch Leistungsdruck, Auswendiglernen von Fakten, keine Mitbestimmung und demnach Einsicht in die Inhalte und Verhaltensweisen, teilweise sinnlose Unterrichtsinhalte, Abhängigkeit von professoraler Willkür, unsicheres Verhältnis zur Sexualität, kein Sexualkundeunterricht) zu verdecken suchte, endgültig gefallen.

Die wahre Ursache für die Suspendierung wird wohl das kritische Engagement (Flugblätter und politische Diskussion in der Klasse) sein. Da die willkürliche Entfernung eines kritischen Schülers jedem demokratischen Verständnis widerspricht, wir der betreffende Schüler sich dennoch im Unterricht einfinden!

Wenn der Herr Hofrat dennoch auf der Suspendierung besteht, wird er höflichst ersucht, vor der Klasse des betreffenden Schülers dies zu motivieren und sich anschließend einer Diskussion zu stellen.

Zur Diskussion der Zielvorsellungen und zur Einleitung erster Schritte treffen sich die Aktivisten (jeder kann Aktivist werden !!!) und interessierte Lehrer am Samstag, 8. September 1970, 16 Uhr im Café MUSEUM (Operngasse)

Parteigründung

Weil ich mich in der selbstverwalteten Schülergemeinde mehr der weniger als gescheitert empfand, wollte ich einen Gang höher schalten und überredete meinen friedliebenden und eher phlegmatischen Freund Hans, bei dem wir am Plattenwechsler der Eltern am Nachmittag immer Singles von den Troggs, den Doors und Napoleon XVIII. hörten, mit mir eine Partei zu gründen, ja, eine Partei.

Diese Partei sollte gute lateinisch Impetus (Angriff!) heißen und das Konzept verfolgen, ehemalige Nazis aufzudecken, die nach dem Krieg im Schuldienst untergekommen waren. Gerade an der Amerling-Schule gab es davon eine ganze Menge, wie sich über die Jahre herausstellte. Auch mit dem in meinem Flugblatt als Herrn Hofrat angesprochenen Schulleiter hätte es wahrscheinlich nicht den Falschen getroffen. ******

Die. von Hans uns mir an Samstagsnachmittagen gestarteten Impetus-Aktionen erschöpften sich darin, die Privatadressen unbeliebter Professoren zu ermitteln, ihre Wohnungstüren mit Hakenkreuzen und dem Schriftzug „Impetus“ zu besprayen – und Fersengeld zu geben, wie es die Lupo modern, die wir gerade noch gelesen hatten, wohl genannt hätte.

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Kultheft von Rolf Kauka: Der war zwar alles andere als links, aber dem Heft führte für den jungen MAC kein Weg vorbei

Als wir nach einer Aktion an der Wohnungstür unseres Mathematik-Professors Sichrovsky, eines groß gewachsenen, unsicheren Mannes, der im immer gleichen Trevira-Anzug den Unterricht abhielt, die Belvederegasse hinunterliefen, sahen wir, wie er uns auf der anderen Straßenseite entgegenkam, ja, das musste er sein, er war nicht gut zu erkennen, denn auf der Straße trug er einen breitkrempigen Hut, den er in der Schule nicht auf hatte.

Hans und ich, mit hochroten Köpfen, schwer außer Atem, flüchteten in einen Hauseingang und brüllten mit letzter Kraft quer über die Straße: „Sichrovsky, du Sau, wir holen dich, Sichrovsky,du Sau …“

Die darauffolgende Stille lastete schwer auf uns. In gedrückter Stimmung suchten wir noch eine Telefonzelle und informierten die Austria Presse Agentur von unserem Anschlag, indem wir in vorausgeahnter Terroristenmanier eine vorbereitete „Erklärung“ vom Zettel ablasen.

Tatsächlich erschien am nächsten Tag eine kleine Meldung in der reaktionären, der Industriellenvereinigung nagestehenden Tageszeitung Die Presse, während uns die Arbeiterzeitung ignorierte.

Wenige Wochen später starb Professor Heinz Sichrovsky an einem Herzinfarkt und Impetus stellte sein Tätigkeit ein, ohne dass Hans und ich je groß darüber geredet hätten.

* Der Verband Jüdischer Mittelschüler (VJM) hat im Internet keine Spuren hinterlassen. Die Schüler trafen sich in einer Altbauwohnung am Rande des Zweiten Wiener Judenviertels in der Leopoldstadt

**Das Kleine Rote Schülerbuch, Verlag Neue Kritik, Frankfurt 1971. Das in der Haptik an die Mao-Bibel angelehnte Büchlein leitete Schüler zu selbstbewusstem, antiautoritären Verhalten im Schul-Alltag an

***A.S. Neill, Theorie und Praxis der antiautoriären Erziehung, Rowohlt Verlag, Reinbek 1969. Von dem Buch wurden zwischen Dezember 1969 und Januar 1971 650.000 Exemplare verkauft

****Die „Gruppe Revolutionärer Marxisten“ (GRM) bezeichnete sich als „Österreichische Sektion der IV: Internationale“.  Sie bestand von 1973 bis Mitte der 80er Jahre, als sie in der SOAL (Sozialistische Alternative) aufging, die eine wichtige Rolle bei der Gründung der österreichischen Grünen spielte. Aus der GRM gingen in Österreich bedeutende Intellektuelle hervor, wie der Außenpolitik-Journalist Georg Hoffmann-Ostenhof und der linkspopulistische Journalist, Politiker und Aufdecker Peter Pilz

*****Originaltext des Flugblatts, das der 15jährige Mann auf der Couch im September 1970 an seinem Gymansium verteilte. Man beachte die gestanzte linke Rhetorik, die „Widersprüche“ feststellt und in der eine „liberale Maske endgültig gefallen“ ist

******Der Anteil an ehemaligen Nazis unter Wiens Gymnasial-Direktoren war noch in den 70 Jahren hoch und lag bei etwa 50 Prozent

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