Heute geht es dem MAC nicht so gut. Schreibt man sowas in einem Blog, keine Ahnung. Die Zukunft, dieses schwarze Fragezeichen. Sie hat doch längst begonnen. Oder habe ich noch etwas Zeit? Heute morgen sagte ich zu Eva, ich fühle mich, als ob eine Schlinge um meinen Hals läge, die „sich“ jeden Tag enger zu zieht. Wer zieht denn dran? Kann ich ihm (dem „wer“) in den Arm fallen? Kann ich noch Dinge in die Hand nehmen? Dieses doofe „noch“, geht das gar nicht mehr weg? Meine Zukunft gestalten? Ungewiss. Unwahrscheinlich.
Im „Mann auf der Couch“ hatte ich geschrieben: „Ich kann doch machen, was ich will, ich bin frei. Das sagt man mir oft in letzter Zeit. Wie kommen die Leute auf die Idee? Ich kann erzählen was ich will, niemand wird es überprüfen. Aber ich bin meinen Dämonen Rechenschaft schuldig, das können die anderen nicht wissen.“ * Das war vor drei Jahren. Hat sich nicht viel geändert.
Nach außen funktioniere ich, mit Humpelgang immer angeschlagen wirkend, beim Sitzen nicht zu merken, alles in allem schon okay. Die Projekte laufen, auch nicht schlechter als früher. Es kommen sogar noch neue Aufgaben dazu, MASCH, meine wieder entdeckte Liebe zum Linkssein, zum Marxismus. Ich möchte da mehr machen, aktives Mitglied sein, biete mich an, mit MASCH eine neue Veranstaltungsreihe ins Leben zu rufen.
Mir gefällt es unter Marxisten. Unter Marxisten muss man kein Geld haben. Unter Marxisten kann man leicht schmuddelig sein. Unter Marxisten ist es normal, ein alter weißer Mann zu sein. Anderseits sind Marxisten auch ein misstrauisches Volk. Und klar bin ich auch hier ein bunter Hund, so wie ich es überall war.
Wer mich kennt, wundert sich, oder auch nicht. Ah, jetzt Marxismus. Nach HiFi, Psychoanalyse, Content Marketing- und was war noch alles? Jetzt Marxismus. Und damit will er sich retten? Das war jetzt phantasiert, ich weiß nicht, was meine Freunde denken, habe wenig Kontakt. Mit ein, zwei Ausnahmen. Eine war ein alter Freund, der diese Woche zu Besuch war. Zu Besuch sein, sagt man das noch? Bei mir ist es ohnehin was seltenes, egal ob haben oder sein. Wir saßen bei mir zu Hause auf der kleinen Terrasse, die den Blick frei gibt auf einen trapezförmigen Ausschnitt des blitzblitzblauen Frühlingshimmels an diesem Nachmittag. Wie im Knast, sagt Eva zu meiner Terrasse. Der Eindruck wird vielleicht verstärkt durch das vorhängende Gitternetz, damit die Tauben nicht alles vollmachen. Finde ich aber nicht, wie im Knast.
Also, der Freund:
„Uns jetzt sag noch mal, Michael, was hat es mit diesem marxistischen Verein auf sich, in dem du jetzt bist? Die … .“
„Die MASCH. Marxistische Abendschule, ja. Nicht Arbeiterschule, die gibt es auch, ist aber eher Konkurrenz. Meine Truppe gibt es seit 30 Jahren. Die Marxistischen Arbeiter-Abendschulen haben eine lange Tradition, gibt es in vielen Städten. Früher gehörten sie zur DKP. Den Verein, bei dem ich bin, gibt es in der Form seit 30 Jahren in Hamburg.“
„Mmmmh. Und was macht ihr da?“
„Der Kern sind Kapital-Lesekreise. Ich bin in einem, da lesen wir gemeinsam und unter Anleitung den ersten Band des „Kapital“, über ein Jahr hinweg in wöchentlichen Online-Treffen. Es gibt aber auch andere Kurse und Versanstaltungen. Wir – ich sage jetzt mal: wir – verstehen uns als Bildungseinrichtung.“
„Bildung?“
„Klar. Wir versuchen, Menschen die Marx´schen Inhalte nahe zu bringen, auf dass sie sich in Folge, selbst ermächtigen können, ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das ist der Kern. Und das ist genau was ich suche und brauche. Außerdem kann ich mit vielem an meine Jugend anschließen, ich saß schon als 18jähriger in Wien in Kapital-Lesekreisen, mir fehlte aber damals die Geduld. So schließt sich ein Kreis, und das fühlt sich gut an. Oft denke ich, ich war mit 18 gescheiter als jetzt.“
Ich war zufrieden mit mir, wie ich das gesagt hatte. (Oder jetzt nur so hingeschrieben?)
„Das klingt plausibel. Aber … warum Marxismus? Ich meine, wenn ich das so konfrontiere mit Ukraine jetzt, oder was die Grünen veranstalten mit Ämterkumulierung – und dass man ja eigentlich weiß, dass das vielleicht tolle Ideen sein mögen, Gleichheit und so, der Mensch aber …“
Ich rutsche ungeduldig in meinem Stuhl hin- und her, schnappe mir vom Teller einen der gerade gekauften Bergpfirsiche (diese platt-gedrückten, ringförmigen), die ersten des Jahres, sicher aus Spanien.
Der Freund sieht mich jetzt sehr interessiert an:
„Siehst du da keine Zusammenhänge?“
„Nö. Was meinst du? Wir können über solche Themen sprechen, vielleicht auch mit marxistischer Perspektive – aber was daran sollte mich abhalten, mich mit Marx zu beschäftigen?“
„Naja.“
„Ich kann dir sagen, was es ist. Es räumt mir den Kopf auf. Wir diskutieren die Texte, die man sich alleine viel schwerer erschließen kann, vielleicht auch gar nicht, und jedesmal ist es mit Gewinn. Vielleicht ist es der Weg der Erkenntnis, des Verstehens selbst. Du hast erst einen Text, den du nicht verstehst, oder du willst Dir die Mühe nicht machen. Und dann helfen dir die anderen durch. Und dann hast du vielleicht was kapiert. Das Verstehen lässt sich ja nur durch erstmal Nichtverstehen hervor locken. Hast du sowas schon erlebt? Es hilft übrigens auch gegen Depression, besser als jede Pille.“
„Guter Tipp. Aber inhaltlich, ich meine das sind ja nicht irgendwelche Texte.“
„Was Marx über den Kapitalismus sagt, ist alles richtig. Und es gibt bis heute keinen – oder kenne ich nicht – der es besser sagen kann. Die analytische Schärfe, das unglaubliche Detailwissen, verbunden mit einem ganz eigenen Humor und durchzogen von einer großen Liebe zu den Menschen, die in jeder Zeile spürbar ist – das macht ihn wahrscheinlich zum Weltwunder. Bin ja weitem nicht der erste oder der einzige, der das bemerkt. Und politisch – der Kapitalismus steckt weltweit in einer Legitimationskrise, das sehen ja selbst konservative Denker. Die Menschen merken, dass er ihre Lebensgrundlagen zerstört, immer grössere Klassenunterschiede, das Klima droht zu kippen, aber auch bis hinein ins Private. Und das ist eine gute Zeit, grundsätzlicher nachzudenken. Und da kenne ich keinen besseren Lotsen als Karl Marx. “
„Stimmt das denn alles heute noch, was er sagt? Ich meine, es ist ja eine Zeit her.“
„Es stimmt, aber es muss weiterentwickelt werden. Daran möchte ich teilhaben. Marx und die Digitalwirtschaft, sowas. Das Kapital ist ja kein abgeschlossenes Werk, auch wenn es so pathetisch daher kommt. Es gibt uns eine Methode an die Hand – und wir sind es, die sie weiterentwickeln müssen. Das geschieht ja auch, wenn auch viel zu wenig.“
„Das mit der Liebe vorhin, das musst du mir erklären.“
„Ich lese gerade, durch eine weitere Gruppe, Marx und Freud parallel … das ist interessant.“
„?“
„Obwohl man vielleicht umgekehrt annehmen würde – Marx ist viel wärmer, er bemüht sich um jeden einzelnen, in seinem Furor, zu erklären, Dinge klar, Zusammenhänge sichtbar zu machen. Er hat erklärt, bis zur totalen Erschöpfung, erklärt, erklärt – mit allem, was es an Mitteln damals gab. Freud dagegen, zumindest im direkten Vergleich, wirkt arroganter, überheblicher, bürgerlicher … vom eigenen Genie überzeugt. Vielleicht stimmt´s nicht, meine „Tante“, die Analytikerin in Hamburg, hätte zu Lebzeiten sicher widersprochen.“
„Marx digital, das ist ein interessanter Gedanke.“
„Fürwahr! Man könnte auch den ganzen Marx in ChatGPT hochladen und daraus eine „Was hätte Marx dazu gesagt?“-App entwickeln.“
„Coole Idee.“
„Naja, hoher Aufwand, weiß ich nicht. In der letzten Gruppe hat einer der erfahrenen Teilnehmer den „relativen Mehrwert”**, den ich nicht und nicht kapiert habe, in einer Excel-Tabelle vorgerechnet. Ich hab´s zwar immer noch nicht ganz kapiert – aber es war ein Riesenspaß!“
* Mann auf der Couch, Seite 555, Textem Verlag, Hamburg
** Karl Marx, Das Kapital, Erster Band, 13. Kapitel, IV. Abschnitt, “Die Produktion des relativen Mehrwerts”, Karl Dietz Verlag, Berlin, 20211