Armut muss ein Schrei sein!

Und so fing für den MAC, also für mich, der Tag heute an, bei WhatsApp:

06:33 Hast du schon ein Blog Thema? (E)

06:33 Armut (M)

06:35 Deine Armut? Innerliche Armut? Allgemeine Armut (E)

06:38 Ob ich/wir „arm“ sind, oder was das ist (M)

06:44 Ich finde Arm ist, wenn man innerlich keinen Halt hat (E)

06:46 Arm ist aber auch, wenn man zu wenig Geld zum Leben hat

– das ist mittlerweile jeder fünfte in Deutschland (M)

06:46 Denen kannst du nicht mit Seele kommen (M)

06:47 Eigentlich bist du doch sehr religiös geprägt – von Seele ist es nicht weit zu Gott (M)

06:48 Vielleicht (E)

06:51 Ging gestern auch im Freud-Kreis darum. Freud sagt, die Bedürfnisse des Menschen sind unendlich vermehrbar (M)

06:51. Zu dumm, dass ich das Reclam verlegt habe. Jetzt kann ich nicht richtig zitieren (M)

Und weiter ging er so, der Tag, ich bin in die Badewanne (Wanne? So viel heißes Wasser? Und es macht dich schlapp!) und dann runter ins Caravela, weil ich immer kurz an die Luft, aufs Fahrrad und unter Leute muss, bevor ich irgendwas anfangen kann. Der Galao, ich nehme immer den großen, kostet da 3,80, ich gebe immer vier, was ich aber durch meine Treue-Stempelkarte auszugleichen trachte (trachte?). Trotzdem weiß ich, dass Eva den morgendlichen Café-Besuch luxuriös findet – stimmt ja auch, sind in der Summe 20 Euro für alle Wochentage … mithin LUXUS und meiner Lage nicht angemessen, aber ich müsse ja wissen, wofür ich mein Geld ausgebe, aber offenbar wüsste ich das eben nicht. Eva hat recht.

Meine Lage. Mein Geld. Was ich weiss, und was nicht. Bin ich arm? Oder nicht? Ich habe 1.200 Euro im Monat für persönlichen Bedarf. DAS IST VIEL. Deutlich mehr jedenfalls als Millionen andere. (Miete ist schon bezahlt dann, weil ich im Büro wohne, auf 160 Quadratmetern, Luxus, auf 160 Quadratmetern, wo ich auch mein Archiv, meine Bücher und meine Platten horten kann, nochmal Luxus, wer müllt sich heute noch so zu …  die ganze Büro-Konstruktion geht genau genommen nicht mehr lange so, da insgesamt zu teuer.)

download
Sieht der MAC nur mehr von aussen: Michelle Records in Hamburg

1.200 Euro. Viel. Trotzdem komme ich nicht aus damit und fühle mich stark eingeschränkt. Kann keine Bücher und Platten kaufen, das ist das Schlimmste. Komme kaum klar mit Geschenken in der großen Familie. Jede Reise, auch zu den Kindern, ist ein Problem. Kann eigentlich nicht in Urlaub fahren. Und wehe es passiert irgendwas mit Gesundheit! Oder ich brauche einen neuen Tonabnehmer für den Plattenspieler.

Das konkrete Unbehagen an der Kultur – alles ist so teuer!

Es gibt so eine Lüge mit Kultur. Wer sind die Menschen, die sich all die Kulturware kaufen können, auf die man, sofern man noch Zeitungsleser ist (leiste mir täglich die SZ, lese die anderen im „Unter den Linden“), täglich verrückt gemacht wird? Das Buch, die Platte, der Film, das Konzert, das Theater. Wenn man dafür, sage ich mal, 100 bis 200 Euro im Monat im Budget stehen hat, hat man praktisch so gut wie nichts live erlebt, nichts gemacht, nichts gekauft. (Ha! Hier verraten sich meine zu hohen Ansprüche! Es gibt auch gratis Veranstaltungen, Bücherbörsen … und wer kauft heute noch Musik, streamen kostet einen Bruchteil …) Da ich mir einbilde, dieser Welt der Kaufkultur irgendwie anzugehören, fühle ich mich da besonders ausgeschlossen, ausgrenzt. Also, wer sind die, die das leben können, was im Feuilleton irgendwie selbstverständlich vorausgesetzt wird? Alles so bürgerliche Menschen, bei denen seit Generationen alles easy ist? Wird wohl so sein.

Aber, nein, ich bin nicht arm. Oder doch? Oder auch am Weg dahin? Es stand schon im MAC zu lesen, ich war schon seit längerem in Panik (wenn insgesamt auch viel zu spät, um noch gegensteuern zu können) vor der ALTERSARMUT, aber, alles in allem betrachtet, steht mir dieser Zustand ziemlich unausweichlich bevor (ausser, dieser Blog macht mich noch berühmt!), wenn ich zB krank werde, von heute auf morgen. Es kann auch leicht eintreten dann, dass ich mehr keine richtige Wohnung mehr leisten kann, da ist dann weniger die Frage, wo meine Bücher und Platten lagern, als ich selber, nachts.

Naja, wollen wir nicht schwarzmalen! Beim Thema Armut ist der dümmste Trost noch gefragt. Arm sein, richtig arm, das will keiner, da schaut man weg, eben auch sich selbst als Armer will man nicht sehen. Will ich nicht sehen, kann ich auch nicht sehen. Da fehlt mir die Vorstellung. Das kann ich nicht mal hierhinschreiben.

Dass die Vorstellung fehlt, das ist wahrscheinlich das Bürgerliche bzw in meinem Fall Kleinbürgerliche (die besonders kämpfen, nicht abzurutschen und dann auch politisch ungut werden). Wer wirklich arm ist oder aus wirklich armen Verhältnissen kommt, der konnte und kann es sich nicht aussuchen und jongliert nicht mit „Vorstellungen“ herum. Aber es gibt auch die Idee einer bürgerlichen Armut oder die einer „abstiegsbedrohten Mittelschicht“, arm kann man auch werden, wenn man vorher reich war und dann alles verzockt, oder Drogen oder Alkohol (oder Depression?) können arm machen.

Ich hätte auch gar nichts dagegen arm sein, wenn ich alles hätte! Alles? Also, meine Bedürfnisse zumindest weitgehend erfüllt wären. Bedürfnisse? Wahre, falsche? Echte, eingebildete? Künstlich erzeugte? Häuser und Autos sind mir egal. Teuer essen gehen finde ich nerv- und affig. Ich wäre aber gerne großzügiger. Ich würde gerne weiter mit all meinem Zeug leben.

Wie ist es mit Liebe? Ist die nicht der wahre Reichtum? Eva, das denkst du? Und dein Vater hat es zumindest gepredigt.  Ist die Liebe auch ungleich verteilt? Kein Geld kann auch die Liebe belasten und wenn ich jetzt die ganz große Leinwand aufspanne würde da stehen,  dass es kein richtiges Leben im falschen gibt und damit auch keine Liebe (die wäre das richtige Leben) im Kapitalismus (der wäre das falsche). Es lässt sich ja nicht bestreiten, so wie der Kapitalismus den Menschen von sich selbst entfremdet , so kippt er auch jede Menge Gift in die Liebe!

Und die Bedürfnisse? Meine doch vielleicht unschöne Sucht nach Büchern, Platten … mein Gott, warum nimmt das überhaupt so großen Raum ein, auch in diesem Text hier? Gestern in der MASCH-Freud-Gruppe hieß es, Freud sage, die Bedürfnisse des Menschen seien prinzipiell unendlich. Und die Erfahrung, dass wir sie nicht alle erfüllt bekommen, universell. Und die Bedürfnisse teils sublimierte Sexualität.

Ich habe ja auch schon im MAC geschrieben (und es stimmt!), dass mich Käufe von Schallplatten depressiv machen können und Erfüllungen von materiellen Wünschen bei mir ein Gefühl auslösen können, in dem Freude und Traurigkeit auf unvergleichliche Art vermischt sind – also nicht wie beim göttlichen KiBa (Geheimtipp im Café “Unter den Linden”), wo man durch das Glas genau hindurch sieht, wo der Kirschsaft aufhört und wo der Bananensaft beginnt, sondern eher wie Spezi.

Ich musste jetzt einen Witz machen, nicht, dass das zu schwer wird jetzt kurz vor den Feiertagen. Pfingsten, Gründung der Kirche übrigens, die hat ja so eine ganz eigene Armuts-Rhetorik. Wie ich auf den Titel gekommen bin? Nun, im folgenden TAZ-Artikel findet Ihr noch ein paar Fakten zur Armut hier bei uns, die dramatisch wächst zur Zeit. Natürlich ist es purer Zufall, dass gleichzeitig die Gewinne der Unternehmen wachsen und die Einkommen der Reichen. Die UNGLEICHHEIT in Deutschland wächst und wächst und wächst und produziert immer mehr Armut. Im TAZ-Artikel steht recht eindrücklich, dass diese Armut niemand sehen will und selbst tolle Ansätze, wie der die Kampagne „Ich bin Armutsbetroffen“ (das Wort „arm“ wurde auch hier vermieden), brutal totgeschwiegen werden.

Die Armut braucht eine Stimme, ja, und sie hat keine. Der MAC merkt auch an sich, dass er starke Stimm-Probleme hat, seit die Stufen auf der sozialen Leiter nicht mehr halten. So eine belegte Stimme dauernd, ungut und in der Wirkung auch unsympathisch, so einer Stimme mag niemand zuhören  Vielleicht täte es ihm gut, „Say it loud I am black and I am proud“ – mässig auszurufen „ICH BIN AAAAARM“. Aber – wer will´s hören? Und wäre es ein Zynismus gegenüber jenen, die es wirklich sind? Wobei wir genau diese Differenz hier heute nicht aufgeklärt bekommen haben.

detroit 1970 1
So kann sich der Mensch gegen Armut helfen: Detroit, 1970, Demonstration gegen die Schließung von Autowerken. Jerry Berndt Estate 2020

Ein Erdbeben, und niemand kuckt hin

Die Armut steigt. Doch fast niemand berichtet. Selbst die Betroffenen, die am lautesten sind, werden kaum gehört

Aus: wochentaz, 20.-26. Mai 2023, Seite 16

Von Caspar Shaller

Diese Woche war ganz schön was los. Die Themen der Tagesschau: Bahnunterbrechungen, Flüchtlingsgipfel, Selenski in Berlin, Türkei-Wahl, Bremen-Wahl, Grünes Gewölbe. Welche Schlagzeilen sind Ihnen geblieben?

Eine Meldung von Dienstag schaffte es nicht in die Tagesschau, sie schaffte es auf kaum eine Titelseite: Das statistische Bundesamt in Wiesbaden hat errechnet, dass mehr als jede fünfte Person in Deutschland von Armut betroffen ist oder droht, in sie abzurutschen. Stellen Sie sich vor: 20,9 Prozent der Bevölkerung Deutschlands, das sind mehr als 17 Millionen Menschen, fast so viele, wie in ganz Nordrhein-Westfalen leben. Eigentlich lautet ein Relevanzkri-terium, dass die Wichtigkeit eines Themas proportional dazu steigt, wie viele Menschen betroffen sind. Wenn in Nordrhein-Westfalen ein gigantisches Erdbeben fast alle Bewohner obdachlos machen würde, würden wir wochenlang von nichts anderem hören.

Doch wenn Millionen Menschen zu wenig Geld haben, um ein anständiges Leben zu bestreiten, dann ist das nur noch Alltag. Frei nach Tucholsky: Eine Armutsbetroffene ist eine Tragödie, Millionen Armutsbetroffene sind nur eine Statistik. Bereits im April meldete der Paritätische Gesamtverband, dass in den vergangenen 15 Jahren zwar das Pro-Kopf-Brutto-Inlandsprodukt um 46 Prozent gewachsen ist, aber auch die Armut in dieser Zeit stark zugenommen hat. Die am Dienstag veröffentlichten Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2021, doch schon jetzt wird in der Statistik sichtbar, dass in den ersten Pandemiejahren die Armutsquote so schnell emporgeschnellt ist wie noch nie zuvor in den Erhebungen.

Tektonische Plattenverschiebungen vollziehen sich meist langsam, fast unbemerkt. Doch sie häufen gigantische Gebirge auf. Wenn sie sich schnell bewegen, brechen sich Erdbeben bahn. Was wir gerade erleben, ist ein Erbeben der Armut. Und wir schweigen.

Dabei hat vor einem Jahr ein geradezu heldenhafter Versuch begonnen, diesen abstrakten Zahlen ein Gesicht zu geben und Menschen eine Stimme zu geben, die hinter den Statistiken verschwinden: der Hash-tag #IchBinArmutsbetroffen. Am 17. Mai 2022 postete Anni W. aus der Nähe von Köln auf Twitter:

„Hi, ich bin Anni, 39, und habe die Schnauze voll! Ich lebe von Hartz IV und es reicht ganz einfach nicht! Nein, ich kann keine weiteren Kosten senken. Nein, ich kann nicht auf das spritsparende Auto verzichten.”

Es folgte eine Welle der Solidarität, Hunderte erzählten bei Twitter ihre eigenen Geschichten mit der Armut. Bald formierte sich ein Kern von Aktivistinnen, fast schon eine soziale Bewegung. Sie machen regelmäßige Demos und sind in verschiedenen Städten in Gruppen organisiert. Bald fanden einige der Armutsbetroffen-Aktivistinnen ihren Weg in Talkshows, auf Konferenzen und in Medienberichte. Doch vergangene Woche nun hat die Bewegung ihren ersten Geburtstag gefeiert – und wer hat’s gemerkt? In fast keinem Medium kam dazu ein Bericht, eine Rückschau darüber, was sich getan hat, eine Analyse, einen Blick in die Zukunft, Interviews mit den Aktivistinnen oder Expertinnen, Lösungsvorschläge für das immer drängendere Problem der Massenarmut in diesem Land. Welch Ironie, dass ausgerechnet eine Bewegung, die versucht, den Unsichtbaren in unserer Gesellschaft eine Stimme zu geben, komplett ignoriert wurde.

Was es in die Tagesschau geschafft hat, ist der IGLU-Bericht. Die Internationale Grundschul-Leseuntersuchung hat festgestellt, dass mehr als ein Viertel der Viertklässler in Deutschland nicht auf einem ihrem Alter gerechten Niveau lesen können. Die Meldung schaffte es an dritte Stelle in der Tagesschau. Die Zahl ist seit 2016 rapide gestiegen, von 18,9 Prozent auf 25,4 Prozent. Das wird auch mit den Pandemie-bedingten Schuleinschränkungen zu tun haben, doch diese Erklärung allein ist zu kurz gegriffen.

Die Tagesschau, wie viele andere deutsche Medien, haben  einen noch einfacheren Erklärungsansatz: Die Klassen würden immer „internationaler” heißt es euphemistisch, man gibt der Migration die Schuld am schlechten Abschneiden. Das Thema Klasse – oder neudeutsch „soziale Herkunft” – erwähnt die Tagesschau nur am Rande. „Bildungsfern” lautet da der Euphemismus. Auch hier wird suggeriert: Hauptsächlich ein Problem der Ausländer. Aber in anderen westeuropäischen Ländern, etwa den Niederlanden oder dem Vereinigten Königreich, hat ein viel grösserer Anteil der Bevölkerung Migrationshintergrund. Trotzdem schneiden sie in der Studie viel besser ab.

Nur in Bulgarien hing die Lesestärke noch mehr vom Bildungsgrad und Reichtum der Eltern ab als in Deutschland. Bulgarien ist ein wunderbares Land mit tollen Stränden und voller kreativer Menschen mit erfrischend schwarzem Humor, aber es ist auch ein Land, das dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozialismus von Korruption und Misswirtschaft so zugrunde gerichtet ist, dass die Bevölkerung um ein Drittel abgenommen hat, weil die Lebenserwartung nach dem Kollaps so stark zurückging, wenige Menschen aus Mangel an Zukunftsoptionen Kinder haben wollen und so viele Bulgaren in den Westen auswandern.

Aus westeuropäischer Arroganz kuckt man gerne verächtlich auf die ärmeren Länder in Südosteuropa runter, die von sozialistischer Misswirtschaft und Diktatur in kapitalistische Zerrüttung und Korruption übergegangen sind. Doch welche Ausrede hat Deutschland? Niemand will Armut, behaupten alle, doch trotzdem wird hier die Klassengesellschaft immer unerbittlicher in all unseren Institutionen zementiert.

Kommentar verfassen

Scroll to Top
Scroll to Top