Marx im Homeoffice

Der MAC hasst Homeoffice.  Er verbindet es mit alleine zu Hause hocken und schlecht drauf kommen, nervigen, ineffizienten, negative Gefühle stimulierenden Videokonferenzen, dem traurigen Auseinanderbrechen von Teams und dem schwindenden Vertrauen in der Zusammenarbeit, was für die kreativen Anteile an der Arbeit Gift ist. Nach Corona schöpfte der MAC wieder Mut, alles werde wie früher, als man noch mehr oder weniger fröhlich im Büro zusammen hockte – aber nichts wurde wie früher. Die Büros blieben leer.

Nun mischen sich beim MAC da viele Motive, die konkreten Erfahrungen beziehen sich auf negative Entwicklungen in seiner Kommunikations-Agentur, die nur teilweise mit Corona und Homeoffice zu tun haben. Der MAC hat die letzten 50 Jahre in Büros verbracht und mit wenigen Unterbrechungen in mehr oder weniger großen Teams. Alles, was in seinem Berufsleben gut gelaufen ist und womöglich sogar erfolgreich war, war Resultat von persönlicher, lebendiger Zusammenarbeit „in Präsenz“, wie man heute hervorheben würde. Von ewigen Live-Sitzungen zum Beispiel, gerne auch mit Streit, gegen die eine Videokonferenz mit ihrer Nacheinander-Reden-Ordnung wie ein depressiver Kasernenhof wirkt. Für den MAC war nie wichtig, was in Konferenzen besprochen wurde, das Eigentliche, hatte er schnell gelernt, wurde auf dem Rückweg zum eigenen Schreibtisch gesprochen, oder eine Stunde später in der Kaffeeküche – während man nach der Videokonferenz völlig alleingelassen dasitzt mit der ganzen Scheiße.

Daheim wurde das Abendessen kalt

Es war die Zeit, als wir eher zuviel als zu wenig im Büro waren. Auf die Männer warteten zu Hause genervte Frauen, sie hatten die Kinder schon ins Bett gebracht und befürchteten jetzt, das von ihnen zubereitete Abendessen könne kalt werden. So gesehen, kommt der MAC aus den Tiefen des vorigen Jahrhunderts und hat sich an das digitale Arbeiten, das ja das Homeoffice erst möglich macht, zwar angepasst, seine zu Markte getragene Begeisterung dafür fehlte von Anfang an die Glaubwürdigkeit, denn jeder wusste, der MAC begeistert sich für ganz anderes. Seine Abneigung gegen das Homeoffice schien in diesem größeren Zusammenhang zu sehen zu sein. Nicht mit der Zeit gegangen, so dachten einige vielleicht.

Das tat dem MAC weh und wie alle „Abgehängte“ lenkte er nicht ein, sondern igelte sich eher ein in rechthaberischem Trotz. Das Homeoffice hatte sich in vielen Berufen nach Corona gehalten, Büros standen leer, der Verkehr ging trotzdem nicht richtig zurück. Junge, gefragte Bewerber bei Firmen begannen das 5-Tage-Homeoffice als Regelarbeitsplatz zur Bedingung zu machen, bevor sie ihre Unterschrift unter den Arbeitsvertrag setzten.

Den MAC erbitterte zunehmend, wie leichtfertig von Partnern und Kunden in seinen Projekten das Homeoffice und die Videoarbeit selbst dann eingeführt wurden, wenn die Mitarbeiter in Hamburg saßen, das Argument der Zusammenarbeit über Distanz, die erst so möglich würde, also gar nicht zutraf. Ihn frustrierte auch, wie wenig Wertschätzung offenbar den alten, durch eine lebendige vor-Ort-Teamkultur geprägten Kreativprozessen entgegengebracht wurde, wenn diese Vorteile nun ohne den geringsten Widerstand aufgegeben wurden – und der MAC sah auch schon das Ergebnis, nämlich das rasche Zurückgehen der Qualität.

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Waren Live-Konferenzen bessser? Aus: Titanic – Das endgültige Satiremagazin

Schwer begreifbar für den MAC blieb auch, wie leichtfertig Arbeitnehmer ihre Arbeitgeber von der Pflicht (und den Kosten) entbunden, ihnen ein Dach über dem Kopf zur Verfügung zu stellen – von einer entsprechenden Ausstattung (Arbeitsschutz!) ganz zu schweigen. In ihren schrecklichen Wohnzimmer-, Schlafzimmer-, Toiletten-Büroecken hockten die Leute jetzt statt auf ergonomischen Stühlen auf irgendwas, ließen sich alle 10 Minuten von ihren Kindern unterbrechen – und hielten dies für einen Riesen-Fortschritt! Work-Life-Balance erfüllt!

Und, fragte sich der MAC, wäre seine eigene Karriere im Homeoffice je möglich gewesen? Nie und nimmer! Würde überhaupt je jemand sich aus dem Homeoffice heraus profilieren, Karriere machen?  Oder sind die heute die heute Ausbalancierten die Verlierer von morgen, weil alles an ihnen vorbei geht und sie in Wirklichkeit nichts anderes sind als die früheren Heimarbeiter mit ihrer geringen Qualifikation?

Fundstück: Friedrich Engels zur Hausarbeit

„Mit der Einführung der Maschinerie änderte sich … alles. Der Preis wurde nun bestimmt durch das Maschinenprodukt, und der Lohn des hausindustriellen Arbeiters fiel mit diesem Preise. Aber der Arbeiter musste ihn nehmen oder andere Arbeit suchen, und das konnte er nicht, ohne Proletarier zu werden, d. h. ohne sein Häuschen, Gärtchen und Feldchen – eigen oder gepachtet – aufzugeben. Und das wollte er nur im seltensten Fall. So wurde der Garten- und Feldbau der alten ländlichen Handweber die Ursache, kraft deren der Kampf des Handwebstuhls gegen den mechanischen Webstuhl sich überall so sehr in die Länge zog und in Deutschland (1890) noch nicht ausgefochten ist.

In diesem Kampf zeigte es sich zum ersten Mal, namentlich in England, dass derselbe Umstand, der früher einen verhältnismäßigen Wohlstand der Arbeiter begründet hatte – der Besitz des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln –, jetzt für sie ein Hindernis und ein Unglück geworden war.

In der Industrie schlug der mechanische Webstuhl seinen Handwebstuhl, im Landbau schlug die große Agrikultur seinen Kleinbetrieb aus dem Feld. Aber während auf beiden Produktionsgebieten die vereinigte Arbeit vieler und die Anwendung der Maschinerie und der Wissenschaft gesellschaftliche Regel wurde, fesselten ihn sein Häuschen, Gärtchen, Feldchen und sein Webstuhl an die veraltete Methode der Einzelproduktion und der Handarbeit. Der Besitz von Haus und Garten war jetzt weit weniger wert als die vogelfreie Beweglichkeit.“ 

F. Engels, Wohnungsfrage, MEW 18, 652

Verzicht auf Trost

Auf noch etwas verzichten die Homeoffice-Fans, das sich nur in der Gruppe von Arbeitenden im persönlichen Kontakt herstellen lässt: Die Ressource des Trostes. Wer tröstet im Homeofffice, wenn es mal Ärger und Verletzungen gibt?  Sollen die Probleme dann in die Familie, ins Private getragen werden? Viele spricht dafür, dass das angeblich moderne Homeoffice eine besonders perfide Art der Ausbeutung ist – die als Vorteil empfunden wird, was andere Arten der Ausbeutung nicht zu träumen wagten.

„Ich habe das Gefühl, in den vier Jahren, die ich jetzt im Homeoffice bin“, so erfuhr es der MAC aus der eigenen Familie, „habe ich in meinem Beruf nichts dazugelernt.“  Eingearbeitet zu werden, sich zu entwickeln, alles, was eine Beziehungsdimension hat – das sind Dinge, die im Homeoffice nicht vorgesehen sind und nicht funktionieren. Auch der gepriesene jederzeit möglich gewordene internationale Austausch, bleibt an der Oberfläche der Abwicklung innerhalb gegebener Strukturen, dringt zum Kern der wahren Arbeit aber gar nicht vor.

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Homeoffice – eine neue, hinterhältige Art der Ausbeutung. Gegen die niemand protestiert

Für „Shit Work“ sollte sich der Mensch zu schade sein

Der wahre Kern der Arbeit, große Worte … was wäre der denn? An der Stelle muss noch schnell gesagt werden, dass der MAC, seit er sich wieder in den Marxismus einarbeitet, die Phase des individuellen Trotzes, die ihn ev. mitunter auch ungenießbar gemacht hat, hinter sich lassen konnte – und nun Entspannung und Trost darin findet, die Dinge wieder in einen größeren Zusammenhang einbinden zu können.  Und die wäre bei Marx – die „Kooperation“, die lebendige Zusammenarbeit von Menschen – das einzige auf der Welt, das Werte schafft.

Der wahre Kern … naja, kann sich ein Workaholic zum Träger des Arbeitsethos erklären, oder sind das doch zwei Sachen? Der MAC hat sich schon dabei ertappt, der Generation Z zu unterstellten, sie habe ein niedrigeres Arbeitsethos, nimmt dann aber mit Erleichterung zur Kenntnis, dass nach einer Umfrage doch 72 Prozent Arbeit als „sehr wichtig“ empfinden. Den Äußerungen der ansonsten tollen Arbeitsforscherin Janis Costas im aktuellen „Spiegel“, „Arbeit wird in Deutschland unglaublich wichtig genommen“, was immer noch der protestantischen Arbeitsethik zu verdanken sei, kann er nicht viel abgewinnen. Arbeit IST unglaublich wichtig, sie ist das, was uns vom Tier unterscheidet, das nur sehr begrenzt kooperieren kann. Und natürlich stimmt es, dass Arbeit heute vielfach „shit work“ ist, die menschliche und natürliche Ressourcen vernichtet und für die sich der Mensch zu schade sein sollte – wenn er sich erstmal im Prozess der Kooperation zu einem potentiell schöpferischen Wesen entwickelt hat.

Im Marxismus geht es um Kooperation, wie ihre Früchte verteilt werden und was das für den einzelnen und für die Gesellschaft bedeutet. Das vielleicht temporare Phänomen des  Homeoffice gab es in Marx Zeiten als „Heimarbeit“ auch schon, natürlich nicht auf digitaler Basis. Ich gucke mal, wie es sich in das große Bild einfügen wird. Ganz entspannt.

„Das Kapital“ nocheinmal gründlich lesen

Eine Hilfe dabei ist ein toller Text des Journalisten und Schriftstellers Robert Misik aus Wien, entstanden im Jahr 2016,  auf Anfrage des Deutschlandfunk, zum 150. Jubiläum des Erscheinens von „Das Kapital“ von Karl Marx (1867, im Verlag von Otto Meissner, Hamburg). Der Deutschlandfunk schrieb damals zu dem Projekt, an dem auch andere Autoren beteiligt waren: Globalisierung, Automation, Finanzcrash, Armutsrevolten, Wachstumsschwäche – die multiple Krise der Weltwirtschaft, die wir durchleben, nimmt kein Ende. Warnungen über die explosiv wachsende Ungleichheit und Mutmaßungen über das Ende des Kapitalismus werden schon längst nicht mehr nur von stehengebliebenen Sozialisten, sondern unter den Eliten der Weltwirtschaftsgipfel diskutiert. Grund genug, „Das Kapital“ noch einmal gründlich zu lesen. Sechs Autoren – Soziologen, Publizisten, Politiker, Philosophen – haben das für den Deutschlandfunk geatan. Ausgehend von jeweils einem Kapitel des Werkes ziehen sie Linien in die Gegenwart und denken über die Aktualität der Marx´schen Theorie nach – nicht marxologisch, nicht akademisch, sondern um ihre Brauchbarkeit zu untersuchen, und das durchaus subjektiv, essayistisch und mit Gegenwartsbeobachtungen durchsetzt. Ihren Blick richten sie auf die politischen Möglichkeiten der Gegenwart, denn darauf, so Marx, kommt es an: Die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern zu verändern.

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Robert Misik bespricht das 11. Kapitel im Ersten Band „Das Kapital“, Karl Dietz Verlag Berlin, 42. Auflage, 2021

Kooperation als Quelle des Reichtums

Robert Misik untersucht die Kooperation als Quelle des Reichtums und der Veränderung. Er ist Journalist und politischer Schriftsteller in Wien

Marxens ökonomisches Werk enthält nicht nur die Kritik des Kapitalismus, sondern, über viele Schriften verteilt, eine historische Anthropologie der Arbeit. Der Mensch, so zitiert Marx Benjamin Franklin, ist das „werkzeugmachende Tier“. Deshalb können wir die Epochen der Menschheitsgeschichte danach unterteilen, mit welchen Werkzeugen – darüber belehren uns die Funde der Archäologie – und in welchen Organisationsformen Gesellschaften ihren „Stoffwechsel mit der Natur“ organisieren.

Anders als alle anderen Primaten besitzen Menschen die Gabe der Kooperation. Aber auch die Kooperation hat ihre Geschichte: von den mit der Peitsche angetriebenen Sklavenheeren der Ägypter bis zu den nur mehr über Computernetzwerke verbundenen Spezialisten unserer Tage.

Im Kommunistischen Manifest können Marx und Engels den Kapitalismus nicht hoch genug preisen, weil er die Produktivkräfte entwickelt. Damit sind nicht nur die Maschinen gemeint, sondern auch die menschlichen Produktivkräfte: die Fertigkeiten der Arbeiter, ihre Fähigkeit zur Kooperation und zur Solidarität. Die Geschichte der Lohnarbeit im Kapitalismus ist also eine der Entfremdung, aber ebenso eine der Formung von gesellschaftlichem und politischem Bewusstsein – und von Menschenbildern und Motivationen.

Automatisierung als das „Ende der Arbeit“?

Angesichts der anstehenden Automatisierungswelle stehen wir wieder einmal vor einer Schwelle in der Geschichte der Arbeit. Wieder wird vom „Ende der Arbeit“ geredet. Eine Gesellschaft ohne Arbeit, das wäre für Marx undenkbar gewesen: „Die Gesellschaft findet nun einmal nicht ihr Gleichgewicht,“ so schrieb er einmal, „bis sie sich um die Sonne der Arbeit dreht“. Sigmund Freud wäre ihm darin übrigens gefolgt: Nichts, so befand dieser, binde den Einzelnen so fest an die Realität und an die menschliche Gemeinschaft wie die Arbeit.

Ein Miteinander im Gegeneinander

„Das Wirken einer größern Arbeiterzahl zur selben Zeit, in dem selben Raum (oder, wenn man will, auf demselben Arbeitsfeld), zur Produktion derselben Warensorte, unter dem Kommando desselben Kapitalisten, bildet historisch und begrifflich den Ausgangspunkt der kapitalistischen Produktion,“ so formuliert es Karl Marx in den Eingangspassagen des 11. Kapitels des „Kapital“ mit der knappen Überschrift: „Kooperation“.

Ja, klar, mag man jetzt denken: Kooperation, da können wir uns alle etwas vorstellen. Kooperation, das ist etwas Schönes, hat einen freundlichen Beiklang. Keine weiteren Fragen. Aber es ist gar nichts einfach mit der Kooperation.

Denn der Kapitalismus ist eine eigentümliche Sache. Die Fabrikanten wollen, dass ihre Arbeiter miteinander arbeiten, aber doch nicht so, dass allzu viele Solidaritätsgefühle entstehen. Die Unternehmer selbst konkurrieren miteinander, kommen zugleich aber auch nicht ohne einander aus. Er ist ein Miteinander, das zugleich ein Gegeneinander ist. So gebiert gerade der Kapitalismus auf vielen Ebenen die Kooperation, hemmt sie aber zugleich. Sie ist ambivalent, oder mit dem Begriff, der sich wie ein roter Faden durch Marx‘ Werk zieht: Sie hat einen Doppelcharakter.

Im Laufe seiner Entwicklung zwingt der Kapitalismus immer mehr Menschen in den Produktionsprozess. Anders als der vorkapitalistische Handwerker, der sein Produkt von Anfang bis zum Ende formte, oder der Bauer, der sät, ackert, erntet, aufzieht, füttert, schlachtet, wird der Mensch zunächst in der Manufaktur, und dann in der Fabrik ins Räderwerk einer Apparatur gespannt. Der Arbeiter, der in der Nadelfabrik nur den Draht walzt, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Der andere Arbeiter, der die Maschine bedient.

Die Aufspaltung der Arbeit in viele Schritte erhöht die Fähigkeiten der Arbeiterarmee als ganze, steigert die Produktivität ins vorher Ungeahnte, lässt aber zugleich die Fertigkeiten des einzelnen Arbeiters verkümmern. Diese Kooperation ist nicht die von wachen, kreativen Individuen, sondern eine des geistlosen Ineinander befohlener Handgriffe.

Nichts ist einfach und simpel in diesem Prozess, sondern gegenläufig. Der Volksmund würde sagen: Die Quadratur des Kreises. Es wäre übertrieben, zu sagen, dass in der kapitalistischen Kooperation nur die Fähigkeiten des Menschen zum Gemeinschaftlichen angestachelt werden. Es wäre aber ebenso übertrieben und ungenau, zu sagen, dass sie nur unterdrückt werden. Es ist ein sowohl als auch. Eine widersprüchliche Gleichzeitigkeit.

Arbeitsteilung als Siamesischer Zwilling der Kooperation

Ebenso ist es mit der Arbeitsteilung, dem siamesischen Zwilling der Kooperation: Einerseits werden die Fertigkeiten verfeinert. Erst die Arbeitsteilung lässt so etwas wie ein virtuoses Ineinandergreifen von Akteuren zu, die sich in irgendeinem Teilaspekt der Tätigkeit wirklich spezialisieren, im besten Fall ihre Talente entfalten.

So entsteht der Facharbeiter, der stolz ist auf seine Fertigkeiten. „Die Arbeit hoch!“ wird die frühe Arbeiterbewegung bald sagen, womit die Achtung gemeint war, die dem Arbeiter auch seiner Kompetenzen wegen zusteht. Zugleich ist die Fabrik auch der Geburtsort des ungelernten Arbeiters, der nicht mehr können muss als ein, zwei Handgriff, in die er in ein paar Tagen eingewiesen ist. „In der Tat“, so schreibt Marx etwas gallig, „wandten einige Manufakturen in der Mitte des 18. Jahrhunderts für gewisse einfache Operationen … mit Vorliebe halbe Idioten an.“

Aufs Ganze gesehen ist die Fortschrittsgeschichte des Kapitalismus eine der immer dichteren Kooperation – Handgriff für Handgriff, Produktionsschritt für Produktionsschritt, auf immer höherer „Stufenleiter der Kooperation“, alles exakt ausgetüftelt von Leuten, die eben nicht diese Arbeiter waren. Eine Kooperation, in der die Kooperierenden nichts mitzureden haben, denn, so schreibt Marx, „die Kooperation der Lohnarbeiter ist … bloße Wirkung des Kapitals, das sie gleichzeitig anwendet. (…) Der Zusammenhang ihrer Arbeiten tritt (den Arbeitern) deshalb ideell als Plan, praktisch als Autorität des Kapitalisten gegenüber, als Macht eines fremden Willens, der ihr Tun seinem Zweck unterwirft“. Die Kooperation unter diesen Bedingungen ist „der Form nach despotisch“. Die Schlüsselbegriffe sind Planung, Kontrolle, Überwachung. „Ein einzelner Violinspieler dirigiert sich selbst, ein Orchester bedarf des Musikdirektors“, so charakterisiert Marx die technische Notwendigkeit der betrieblichen Organisation auf dieser Stufe.

Unter kapitalistischen Verhältnissen allerdings äußert sich die Kraft, die in diesem überindividuellen, kollektiven Zusammenwirken liegt, in verkehrter Form: als Herrschaft über Individuen: „Die Soziale Macht, die durch das Zusammenwirken entsteht“, wird, so schreibt Marx, von den Kooperierenden „nicht als ihre eigene, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt erfahren“. Der Musikdirektor ist eben auch der Eigentümer, der an der Musik reich werden will.

Selbst in diesen frühen Epochen kapitalistischer Produktion gilt aber schon, eine Tatsache, die in späteren Tagen gänzlich unübersehbar wurde, dass die Vorteile dieser Kooperation nicht nur in der effizienten Kombination von Arbeitsschritten auf stetig höherer Stufenleiter liegen, sondern auch im eigensinnigen, wechselseitigen und kreativen Miteinander der Kooperierenden selbst. Mit Marx gesagt: „Abgesehen von der neuen Kraftpotenz, die aus der Verschmelzung vieler Kräfte in eine Gesamtkraft entspringt, erzeugt bei den meisten produktiven Arbeiten der bloße gesellschaftliche Kontakt einen Wetteifer und eine eigne Erregung der Lebensgeister (animal spirits), welche die individuelle Leistungsfähigkeit erhöhen.“

Der Mensch als „ein gesellschaftliches Tier“

Diese „Erregung der Lebensgeister“ ist ja nicht der unwesentlichste Grund dafür, dass zehn Leute, die zusammenarbeiten, mehr weiter bringen werden als zehn Leute, die zeitgleich auf sich alleine gestellt arbeiten. Und zwar nicht nur, weil beispielsweise nur zehn Leute einen Felsen von einer Tonne Gewicht bewegen können, während das ein Einzelner niemals könnte, sondern weil diese zehn Leute vielleicht beim Austüfteln der besten Möglichkeiten, eine solche Aufgabe zu lösen, auf verschiedene Ideen kommen, die sie dann kombinieren, bis die beste Idee gefunden ist, die ein einzelner niemals finden hätte können. „Dies rührt daher“, so Marx, „dass der Mensch von Natur, wenn nicht, wie Aristoteles meint, ein politisches, jedenfalls ein gesellschaftliches Tier ist.“ Und weiter: „Im planmäßigen Zusammenwirken mit anderen streift der Arbeiter seine individuellen Schranken ab und entwickelt sein Gattungsvermögen.“ Indem er mit anderen gemeinsam tätig ist, erfährt er sich als Teil eines größeren und mächtigeren Ganzen – und gleichzeitig die Grenzen eines bloß individuellen Wirkens und Lebens.

Kein Unternehmer hat natürlich Arbeiter deswegen engagiert, damit das passiert. Aber wie so oft in der Welt entsteht auch in der Fabrik etwas, was kein Fabrikant so je geplant hat, genauso wie im Kapitalismus überhaupt Prozesse wirksam werden, die aus dem Zusammenspiel verschiedener Aktivitäten entstehen, die aber im strengen Sinne „niemand gewollt“ hat, wie Friedrich Engels das einmal nannte, die also weder geplant noch vorausgesehen sind.

Arbeiter sind nicht nur willenlose Arbeitsgäule – sondern auch Kollegen

Die in der Fabrik zusammengepferchten Arbeiter erweisen sich eben nicht als bloße willenlose Arbeitsgäule, die anonym nebeneinander ihre Handgriffe erledigen. Beispielsweise entwickeln sie Gemeinschaftsgeist. Der Begriff des „Kollegen“ entsteht, der uns heute selbstverständlich erscheint. Aber was schwingt in diesem Begriff denn mit? Eine Gemeinsamkeit, auch ein Zusammenhalt, der weit über die bloße Verbundenheit hinausgeht, welche der Tatsache geschuldet ist, dass man zufällig in die gleiche Situation geworfen ist. Man hilft sich, und steht füreinander ein.

Zwar lasen sich die frühen Fabrikordnungen meist wie Verbotslisten, die an Vorschriftenkataloge für Gefängnisinsassen erinnerten. So drohte etwa für „Bummelei“ die sofortige Entlassung. Aber es schlichen sich doch bald allseitig respektierte Grauzonen ein. So wurde es üblich, dass kräftigere Arbeiter schwächere unterstützten. Arbeiter konnten sich in einem Eck ausschlafen – etwa jene, die gerade ein Haus für die Familie bauten und entsprechend erschöpft zur Arbeit kamen –, dafür arbeiteten die Kollegen eben einen Zahn schneller. Noch im späteren Akkordsystem fanden sich schnell Möglichkeiten, dass die leistungsstärkeren Arbeiter die gerade schwächeren unterstützten.

Praktiken dieser Art gingen über das bloße Anekdotische hinaus; aus dieser instinktiven Solidarität unter den Arbeitern wuchs etwas, das später Klassenbewusstsein heißen sollte. Die in großer Zahl in der Fabrik konzentrierten Arbeiter entwickelten natürlich auch ein hohes Drohpotenzial, wie Marx erkannte: „Mit der Masse der gleichzeitig beschäftigten Arbeiter wächst ihr Widerstand und damit notwendig der Druck des Kapitals zur Bewältigung dieses Widerstandes.“ Bewältigung des Widerstandes … dafür gibt es mannigfaltige Varianten in der Geschichte. Die Kapitalseite hat den Widerstand mit Gewalt gebrochen; sie hat – was in der Praxis häufig geschah – die Arbeiter entlassen oder durch willfährigere ersetzten; sie kann darauf bauen, dass die meisten Arbeiter sich aufgrund ihrer persönlichen Lage Eigensinn oder gar Protest nicht leisten können , weil sie vielleicht schlechter ausgebildet sind und damit weniger Alternativen haben, weil sie ihre Rechte nicht kennen, weil sie kein Selbstvertrauen haben.

Unternehmensleiter wussten schon sehr früh, dass sie nicht alleine auf das Kommando setzen konnten, sie entwickeln zumeist schnell ein Gespür dafür, wie weit sie diesen Bedürfnissen nach Geselligkeit und Zusammengehörigkeit entgegen kommen müssen, wenn aus den Kollegen nicht die „Genossen“ einer revoltierenden Vereinigung werden sollen.

Die scheinbare Despotie des Fabriksystems wurde so durch Eigensinn immer unterlaufen, und die gewohnheitsmäßigen Praxen waren die Ergebnisse von etwas, was man heute „Aushandlungsprozesse“ nennt – im einzelnen Betrieb, oder, von Gewerkschaften und Sozialpolitikern durchgesetzt, auf gesellschaftlicher Ebene. Antagonistische Kooperation, so hat das der kluge Sozialdemokrat Peter Glotz genannt.

Kampf oder Kompromiss?

Aber damit sind wir auch mitten in einem Thema, das immer implizit im Raum steht: Ist im Kapitalismus alles nur Kampf? Kampf der Arbeiter gegen den Kapitalisten? Oder ist er in der Praxis nicht viel häufiger auch eine Art von Kompromiss geworden?

Marx und der Marxismus nach ihm hatten ein paar Grundprämissen, die ziemlich unumstößlich schienen: Durch die Entwicklung der Produktivität schaffe der Kapitalismus die Voraussetzungen dafür, das ökonomische Problem, nämlich den Mangel, endgültig zu lösen und durch eine Gesellschaft des Überflusses zu ersetzen, kurzum, durch einen weltlichen Garten Eden, wenn man das etwas romantisch ausdrücken mag. Bloß stünde der Kapitalismus und seine Produktionsverhältnisse, seine Art zu Wirtschaften sowie der damit verbundene organisatorisch-institutionelle Rahmen, diesem Ziel im Wege.

Marxisten sprechen in diesem Zusammenhang gerne vom Widerspruch von „gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung“. Was verbirgt sich hinter der Formel?

Jeder Reichtum im Kapitalismus ist gesellschaftlich produziert, alle arbeiten hier kooperativ miteinander, weder dem Unternehmer noch dem Kapitalgeber kommt hier grundsätzlich eine privilegierte Funktion zu. Die Kapitalisten tragen etwas bei, aber nichts Außerordentlicheres als etwa der Schuldirektor, der die Schule organisiert, und der Lehrer, der die Schüler unterrichtet, und der Vorarbeiter, der die Lehrmädchen einschult und der Arbeiter, der die Maschine bedient, oder die Buchhalterin, die die Bücher führt, und die Putzfrau, die die Büros wischt. Es ist dieser gesellschaftliche Charakter, dieses kooperative Zusammenwirken, das Reichtümer schafft, das in seiner Komplexität, wie Marx bewundernd schreibt, beeindruckender ist als das Zusammenwirken tausender Arbeiter beim Bau der Pyramiden im alten Ägypten. Und der – unter Gerechtigkeitsaspekten – große Skandal dieser sozialen Ordnung besteht darin, dass der Unternehmer oder Kapitalbesitzer den größeren Teil der Reichtümer als seinen Privaten aneignet.

Aber für Marx ist die „private Aneignung“ des gesellschaftlich Produzierten nicht nur ein Skandal der Ungerechtigkeit, sondern eben auch die Achillesferse des Kapitalismus: Aus verschiedensten Gründen wird diese private Aneignung die Weiterentwicklung der ökonomischen Wohlstandsmaschine behindern, wird der Kapitalismus vom Motor des Fortschritts zur Fessel desselben, weil er kreative Energien nicht mehr freisetzt, sondern sie einkerkert. Weil viele Kräfte, die in der Kooperation liegen, brach liegen bleiben: Man denke nur an den Wildwuchs an Patentrechten, die dazu führen, dass Unternehmen eine von anderen gemachte Entdeckung kaum weiter entwickeln, übernehmen oder mit anderen Entdeckungen zu einem Neuen kombinieren dürfen. Das hemmt den Fortschritt. Besonders wenn einmal marktbeherrschende Stellungen etabliert sind, werden Unternehmen versuchen, neue und effizientere Verfahren zu behindern und vom Markt zu kaufen, als sie zu entwickeln.

Aber auch in den Unternehmen selbst wird der Eigensinn der Beschäftigten nur in engen Grenzen geduldet oder gar angespornt – bis dann (immer wenn die Umsatzzahlen sinken) McKinsey kommt – und alle Grauzonen und Freiräume ausmerzt und der scharfe Takt noch in die kleinsten Nebensächlichkeiten Einzug hält. Im Namen einer „Effizienzsteigerung“, von der viel geredet wird, aber mit der es so ist wie mit dem Yeti: Man hört bisweilen von ihr, aber gesehen hat sie noch niemand.

„Gesellschaftliche Produktion und private Aneignung“ – damit wird aber noch ein weiterer Widerspruch bezeichnet: der zwischen dem kooperativen Arbeitsprozess und dem Kampf um Anteile an der gesellschaftlichen Produktion, also Konkurrenz auf dem Markt. Und diese Konkurrenz erzwingt immer rationellere Produktionsverfahren, immer engere Kooperation, immer höhere Produktivität.

Historisch führt das von der Manufaktur über die Fabrik in die Verbundproduktion, die Vernetzung von Fabriken, Zulieferern, Energiesystemen. Begrifflich führt das von der Zerlegung komplexer handwerklicher Prozesse in Teilprozesse, und deren Maschinisierung und Re-Kombination in der Fließbandproduktion bis zum automatischen System. In ihm ist die Kooperation gewissermaßen in die Maschinerie gewandert – und die Arbeiter werden überflüssig. Dieser Schwelle nähern wir uns.

Auch früher verschwanden durch ‚“schöpferische Zerstörung“ alte und oft schlechte neue Jobs, dafür aber entstanden masssenhaft neue und oft auch bessere. Wenn wir die vergangnen 20 Jahre einigermaßen nüchtern betrachten, müssen wir feststellen, dass es nur noch ein relativ geringes Wirtschaftswachstum gab, eine permanente Quasistagnation mit Miniwachstumsraten, explodierender Ungleichheit, Privatisierung von allem, endemischer Korruption, da realwirtschaftliche Profitmöglichkeiten immer geringer werden – und weiter, mit dem daraus folgenden moralischen Niedergang und Desintegrationsprozessen.

Wie soll die Gesellschaft von morgen aussehen?

Angesichts dieser Symptome, die allesamt Indizien für einen chronischen Niedergang sind, tun wir gut daran, die Frage zu stellen, wie die Gesellschaft von Morgen gestaltet werden sollte, wenn die Krisenpropheten Recht haben. Womöglich ist ja auch ein langsamer, sukzessiver Übergang vom kapitalistischen Wirtschaftssystem zu einer anderen Wirtschaftsordnung denkbar. Und, ja, vielleicht stecken wir schon in diesem Übergang. Das wäre natürlich die beste Möglichkeit. Indizien dafür gibt es.

So wie sich in den Fabriken schon immer Kooperation und Kommando ergänzen und ins Wort fallen, Antagonismus und Kooperation, so haben wir seit vielen Jahrzehnten in kapitalistischen Gesellschaften längst eine gemischte Wirtschaft, die grob gesprochen aus drei Sektoren besteht: den privatkapitalistischen Unternehmen, dem staatlichen Sektor und einen dritten Sektor, den wir als kooperativen Sektor beschreiben können. Dieser Sektor umfasst alles Mögliche: Große Genossenschaften, die beinahe wie große Unternehmen funktionieren, nur dass sie nicht profitorientiert arbeiten, Abwasser-Genossenschaften,

Wohnbaugenossenschaften, kleinteilige Hausprojekte oder auch Start-ups, bei denen junge Leute sich zusammen tun, mit Gleichgesinnten eine Firma gründen, und sich vielleicht mit anderen Firmen zusammen tun, um bestimmte Kosten gemeinsam zu tragen. Freelancer, die sich mit anderen Freelancern vernetzen und gemeinsam agieren, Hilfsorganisationen, hinzu kommt der gesamte Bereich der solidarischen Ökonomie. Ein ganzes fluides Netz an Miteinander-Ökonomien, deren Ausformungen ganz unterschiedlich sein können, aber die weder wirklich zum privatkapitalistischen Kommerzsektor noch zum staatlichen Sektor zählen. Ökonomie, jenseits von Staat und Markt.

Orthodoxe Marxisten würden all das als Tropfen auf dem heißen Stein charakterisieren, als Inseln im kapitalistischen Ozean, die nichts als Nischen sind, letztendlich unbedeutend.

Übergang zu einem neuen Kooperativsystem?

Marx selbst sah in den ersten Kooperationsfabriken seiner Zeit den praktischen Beweis dafür – so schreibt er 1867 an die Delegierten der Internationalen Arbeiterassoziation – „dass der Kapitalist ebenso überflüssig geworden ist, wie er selbst den Großgrundbesitzer überflüssig fand“. Diese Fabriken waren für ihn, ebenso wie die großen Aktiengesellschaften „Übergangsformen aus der kapitalistischen Produktionsweise in die assoziierte“, sie seien „das erste Durchbrechen der alten Form“, der „Übergangspunkt zu einer neuen Produktionsform“, sie zeigten, „dass das bestehende despotische und Armut hervorbringende System der Unterjochung der Arbeit unter das Kapital verdrängt werden kann durch das republikanische und segensreiche System der Assoziation von freien und gleichen Produzenten“. Freilich, so fügt Marx an, sei das Kooperativsystem allein „niemals imstande, die kapitalistische Gesellschaft umzugestelten „, dazu bedürfe es der „Veränderungen der allgemeinen Bedingungen der Gesellschaft “ durch eine Staatsmacht, die nicht in den Händen der Kapitalisten und Grundbesitzer sei.

Und heute? Heute schreibt der britische Wirtschaftsautor Paul Mason: „Ich glaube, dass diese Projekte uns eine Rettungsgasse bieten – aber nur, wenn diese Projekte des Micro-Levels gehätschelt werden, wenn wir sie bewerben und wenn sie geschützt werden, indem die Regierungen anders handeln. Aber wir sollten uns und anderen auch sagen: Das sind nicht nur Überlebensprojekte, kleine Befestigungsanlagen in der bösen neoliberalen Welt, sondern sie sind wohl eher neue Lebensformen in einem Veränderungsprozess (…) Ein neuer Pfad öffnet sich, der, der kooperativen Produktion.“

Ob das geschieht, und wie, auch das hat etwas mit der Geschichte der Kooperation unter dem Kapitalismus zu tun. Und deshalb ist es jetzt Zeit, ein weiteres, vielleicht noch komplizierteres Problem anzusprechen – eines der Psychen und der Mentalitäten:

Der Doppelcharakter der Kooperation, den Marx beschrieb, heißt ja auch: Einerseits haben die Fabrik und später auch das Büro in einer Art Kommandodiktatur die Geselligkeit und den Eigensinn der Menschen in den Dienst der kapitalistischen Produktion gezwungen. Andererseits haben sich die Menschen in der Geschichte dieser Kooperation auch verändert, haben in dieser Arbeit ihre Fähigkeit zur Kooperation und zur Solidarität allererst gelernt und verfeinert.

Von Epoche zu Epoche entstanden so neue Einstellungen zur Arbeit, neue gesellschaftliche Leitbilder, man könnte diese auch Wertvorstellungen nennen, etwa die Wertvorstellung, dass man aus seinen Leben etwas machen soll, dass es darum ginge, seine Talente zu entwickeln, sich selbst zu verwirklichen, kreativ zu sein. Dieser Wert der Kreativität wird heute ganz generell hoch gehalten, und die bloße Ausführung kommandierter Arbeitsschritte gilt nicht als etwas, was uns befriedigt. Daraus folgt nicht unbedingt, dass Kommando und Disziplinierung deswegen heute an Bedeutung verloren haben, sondern es entsteht ein neuer Subjekttyp, der die Aufsicht, die früher externalisiert war, gleichsam internalisiert: Das sich selbst disziplinierende, sich durch „Technologien des Selbst“ beaufsichtigende Individuum, wie Michel Foucault das nannte.

Auch der Mensch ist produziert, formatiert, montiert

„Die Produktion produziert … nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand“, hatte Marx in den „Grundrissen“, seiner monumentalen, dann beiseite gelegten Vorstudie zum „Kapital“ geschrieben. Das heißt, das Wesen des Menschen ist nichts Essentielles, Vorgängiges, etwas was immer schon da ist, jenseits seiner konkreten gesellschaftlichen Gemachtheit. Auch der kooperierende Mensch ist also, zumindest bis zu einem hohen Grade, gemacht, von Geschichte und Gesellschaft gewissermaßen produziert, formatiert, montiert. In einer Gesellschaft, in der wir eng mit anderen zusammen leben und arbeiten, entsteht eben sowohl die Idee der Individualität als auch die Idee der Kooperation. Einerseits will man sinnvolle Tätigkeiten ausüben, sich selbst verwirklichen, andererseits braucht man die Aufgehobenheit und die Anerkennung in der Gruppe.

Und wenn der Wert der Kreativität und der Selbstverwirklichung heute weit höher eingestuft wird als noch vor hundert Jahren, als man dafür wahrscheinlich nicht einmal noch ein Wort hatte, dann heißt das auch: Umso kränkender ist dann eine Existenzweise, ein Leben, das diesen Ansprüchen in den eigenen Augen nicht genügen kann.

Kooperation – so zitierten wir am Anfang des 11. Kapitels des Kapital – Kooperation ist „das Wirken einer größeren Arbeiterzahl zur selben Zeit, in demselben Raum (oder, wenn man will, auf demselben Arbeitsfeld)“.

Im selben Raum oder auf demselben Arbeitsfeld, da steckt das große Problem der näheren Zukunft: Das Arbeitsfeld der Kooperierenden hat sich im Laufe der kapitalistischen Jahrhunderte sehr verändert, vor allem aber sehr erweitert. Durch die Globalisierung kooperieren Arbeiter, die weit auseinander tätig sind, oft durch Ozeane getrennt. Und das Feld der Kooperation erweitert sich grad noch einmal durch die Informationstechnologie, die eine neue Dichte der Kooperation möglich macht, aber auch neue Formen der Ausbeutung, etwa durch Crowd-Working. Wie die solchermaßen kooperierenden, aber voneinander Getrennten noch so etwas wie Solidarität oder Verhandlungsmacht entwickeln könnten – das steht in den Sternen.

Aber die Initiativen, NGOs, Firmen und Kooperative, die in unserer Zeit entstehen, sind ja nicht nur Formen, die Krise zu überleben oder zu unterlaufen. In dem Netzwerk, das sie miteinander bilden, könnte man ja auch einen Nukleus eines Sozialismus neuer Art sehen. Eine Form von Gemeinwirtschaft, von Miteinander-Ökonomie, die völlig dezentral organisiert ist – einen Sozialismus, der nichts mehr mit dem bürokratischen Moloch früherer Staatswirtschaften gemein hat.

Vielleicht müssen wir nur lernen, die Dinge richtig zu betrachten. Wie bei diesen berühmten Vexierbildern, bei denen man, wenn man sie von der einen Seite betrachtet, etwas völlig Chaotisches, Undefinierbares sieht, und erst, wenn man richtig hinschaut, ein Bild entsteht?

Womöglich ist das mit unserer Wirtschaft nicht anders: Wir glauben, wir leben in einer Ökonomie, in der sich alles nur um Kommerz, Profit, materiellen Reichtum und den daraus resultierenden Status dreht. Alle anderen Formen von Wirtschaften erscheinen uns daher als irgendwie außerökonomisch, als Aktivität irgendwelcher Irrer mit komischen Spleens, als Beschäftigungstherapie für Gutmenschen. Seien es Selbsthilfegruppen, Tauschringe, Kooperativen oder altruistische Hilfsprojekte. Aber vielleicht sehen wir unsere Welt damit ja völlig falsch, in dieser Zwischenzeit, in der wir leben – in der das Alte nicht mehr geht, und das Neue noch nicht da ist.

1 Kommentar zu „Marx im Homeoffice“

  1. Dass Tiere nicht kooperieren können, bezweifele ich. Z.B. können sie gemeinsam auf die Jagd gehen. Natürlich ist die Kooperation ohne Sprache begrenzt.

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