Kahrfreitag

Mein Gott, hatten wir doch schon. Das Alter. Die Scheisse. Ist ja theoretisch okay, aber riechen will dann doch keiner dran. Der MAC sieht das Thema Altern so: Wer ein Stück des Lebensweges gelaufen ist, ein großes Stück, der muss plötzlich inne halten – weil er auf einen Spiegel zuläuft, auf einen Riesenspiegel. Und im Spiegel sieht er das, was hinter ihm liegt, also die Vergangenheit. Schlichtes Bild? Naja. Der Spiegel ist so groß und mächtig, dass er (sie) nicht daran vorbeischauen kann. Er (sie) ist gezwungen, zurück, in die Vergangenheit blicken. Mit MAC habe ich das ausführlich getan. „Mann auf der Couch“ war der Spiegel, der sich auf meinem Lebensweg aufgestellt hat. (Ach, immer „Lebensweg“ heute, das ist ein Pfaffenwort, okay, Kahrfreitag.) Und was ich im Hinein- und damit Zurückschauen sah: meine linke Jugend, meine linksradikale. Ist in diesem Blog schon besprochen. Trotzdem, neuer Anlauf, da müsst Ihr durch.

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Archetypische Pose des Widerstands: Bansky Flower Rioter White, Statue Home Sculpture, 21,5 cm, ca. 15 Euro + shipping

Szenenwechsel. Ich fahre mit dem Fahrrad über die Kennedybrücke. Der Fahrradweg ist breit und aus Pflastersteinen gemacht.  Einer dieser Pflastersteine steht gefährlich hoch, als hätte ihn jemand rausgelöst, aber wieder halb zurückgesteckt. Sturzgefahr, denke ich, und weiche aus. Aber auch: Pflasterstein – Werfen. Warum bloß denke ich beim Anblick eines Pflastersteins sofort an Werfen? An die Bewegung des Werfens im Stehen, breitbeinig, die archetypische Pose des Widerstands. Bansky hat sie aufgriffen in den Flower Rioter Figuren, die im Internet zu bestellen sind, Deko. Ich muss immer an TUNIX denken, 1978 in Berlin, als bei der Demo am Kurfürstendamm Pflastersteine gegen die Scheiben der Banken und Luxusläden flogen – und die Scheiben diese zurückfederten, die Steine flogen zurück in die Menge. Ich hatte Angst, einen auf den Kopf zu bekommen. Es war die Zeit, als unter den Steinen noch der Strand lag. Der berühmte Spruch des französischen Philosophen und Anarchisten Proudhon, mit dem der junge Marx stritt, auf den sich später Ton Steine Scherben einen Reim machten (oder war es Angi Domdey?) und Daniel Cohn Bendit die Zeitschrift Pflasterstrand gründete. Uswusf. All die linke Folklore, die wir heute bildungsbürgerlich (und Internet-gestützt) runterbeten, zur Langeweile unserer Kinder und zur eigenen Depression.

Jetzt muss ich wohl einen Gang höher schalten, muss das hier filmisch werden, Mission Impossible. Also, ich hatte gerade vor dem Spiegel angehalten (eine ziemlich lange Zeit, muss ich zugeben, „Mann auf der Couch“ war nicht in drei Tagen geschrieben) – und mache jetzt kehrt, laufe in Riesenschritten zurück durch Raum und Zeit, lande im Jahr 1978 am Berliner Kurfürstendamm, greife mir einen der gerade zurückgeschleuderten Pflastersteine, mache kehrt – und sprinte in gleicher Geschwindigkeit wie vorhin zurück über die Lebensautobahn (besser?) bis zu Kilometer 67, und halte vor der Absperrung durch den Monsterspiegel.  Den Pflasterstein habe ich dabei, er ist aus der Vergangenheit mitgekommen. Und jetzt … gehe ich in die archetypische Wurf-Pose und schleudere den Pflasterstein gegen den großen Spiegel. Smash The Mirror, wie Tommy im Musical von The Who, der dann wieder sehen und hören kann. Wenn jetzt jemand (dummerweise von mir auf die Spur gebracht) auf die Idee kommt, der Pflasterstein federt jetzt zurück und fliegt mir auf die Birne, hat er a) entweder die Story hier kaputt gemacht, ihr b) eine andere Wendung verliehen oder c) zu einer höheren Wahrheit verholfen … okay, sehen wir. Gehen wir jetzt mal davon aus, der von mir geschleuderte Pflasterstein hat den Riesenspiegel durchgeschlagen, zerbrochen, ein Loch hineingeschlagen, daraufhin bricht der ganze Spiegel zusammen und rieselt zusammen zum Scherbenhaufen. Er steht nicht mehr im Weg und wirft den Blick zurück, der Blick ist wieder frei – wohin?

An der Stelle helfen jetzt auch keine Hollywood-Bilder mehr, lass uns in eine andere Erzählweise wechseln, in die des Traums, in der es kein Problem ist, Bilder und Botschaften voneinander abzulösen oder wild zu vermischen und in der die Gesetze der Schwerkraft nicht gelten. Was geträumt und dann besprochen werden soll: Was hinter dem Spiegel sichtbar wird. Wo der Pflasterstein landet. Ob das Symbol, das magische, aus einer anderer Zeit mitgenommene, die Kraft hat, den Blick auf die Zukunft frei zu machen bzw. ihn so zu lenken, dass sichtbar wird, was gerade noch verborgen war. Wer mich kennt, weiß, dass ich diese Frage für mich längst mit JA beantwortet habe – JA, ich glaube, dass es mir gelungen ist, es nicht beim nostalgischen, verklärenden Rückblick in die linken Jugendjahre zu belassen (wie es nach der Lektüre von MAC hätte wirken können), sondern daraus ein saugeiles (!?) Momentum zu gewinnen, den Blick nach vorne zu richten, und dabei aus der Vergangenheit das mitzunehmen (den Pflasterstein aus Berlin), das heute nützlich sein kann zur Erklärung der Welt, aber vor allem zu ihrer Veränderung. (Steht im Original von Karl Marx in großen Gold-Lettern im Aufgang des Foyers der Humboldt Universität in Berlin). Und das ist das Endbild der Verwandlung: Ich richte meinen Blick nach vorne, durch die Brille (hatte er eine?) von Karl Marx. Standing on the Shoulder of Giants. Ich sehe weit.

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Nie vergessen, jeden Tag daran denken, immer neue Generationen: Schriftzug Zitat Karl Marx, Treppe, Foyer, Hauptgebäude, Humboldt-Universität, Unter den Linden, Berlin, Deutschland

I Walk On Guilded Splinters

Ups,  Traumbilder bin ich Euch schuldig geblieben. Lass uns jetzt im Wachen bleiben. Liegt ja auf der Hand, worum es geht. Im MASCH-Kapital-Lesekreis kann ich ein wenig darauf aufbauen, was ich dazu schon in den 70er Jahren kapiert hatte. Dazu noch, ich hatte nicht nur den linskradikalen Lifestyle mit Kapital, Kommune und Kiffen, sondern war einige Jahre Redakteur einer linken Zeitschrift und habe da meine Ausbildung als Journalist gemacht. Ich weiß, wie schwer es ist, in „der Linken“ anzukommen und spüre auch jetzt manches an Misstrauen, aber mein Bewerbungsschreiben ist ja nicht komplett daneben.  Und am Ende wird es zwar immer auch um Posen, Attitüden, Selbstinszenierungen und Voreinstellungen gehen, aber eben doch auch um Inhalte und im besten Fall um politische Aktivität.

Wo ist denn der Pflasterstein nun hingerollt,  liegen geblieben, hatten wir die Frage. Auf welchem Themenfeld ist er zum Stillstand gekommen – wenn wir uns das so vorstellen wie die begehbaren Schachbretter früher in Parks, jetzt haben wir also keine Hollywood-oder Traumbilder sondern eher die Bildwelt von „Wetten daß …“  Egal, die Antwort ist klar für mich, der ich mich ja in meiner eigenen Vorstellungswelt zurecht finden muss: Am Themenfeld Marxismus und Ökologie, Klassenkampf und Klima.

Wie hat Marx das gemeint, sagen wir oft in der MASCH-Runde, und es ist immer spannend und lehrreich.  Was mich aber zusätzlich umtreibt: Was hätte Marx gesagt? Wenn ich die Möglichkeiten hätte, würde ich den Versuch unternehmen, die ganzen Marx-Engels-Werke in die Chat-GPT-KI einzuladen und dann mit meinen Fragestellungen anzukommen … Es ist doch so offensichtlich, wie eng die Klimafrage und die soziale Frage miteinander verknüpft sind, daß es schier zum Wahnsinnigwerden ist, warum „die Linke“ daraus nicht mehr machen kann. Jeder weiß, beim Klimawandel sind als erstes die Armen dran. Jeder weiß, durch x Studien belegt, Superreiche und Konzerne sind die Treiber der Erderwärmung.  Jeder weiß, in den Städten werden klimaschonende Verkehrsprojekte nur in den Vierteln der Reichen gemacht – in den „Problembezirken“, wo die Luft wirklich schlecht ist, soll sie auch so bleiben. Jeder weiß, wenn in der Gesellschaft nicht massiv umverteilt wird, geht der Klimaschutz zu Lasten der Arbeiter und der Armen, die vom erkämpften Wohlstand wieder ausgeschlossen werden, sich zB. kein Auto mehr leisten können. Gleichzeitig vernichten Banken und Spekulanten Milliarden an Volksvermögen. Der Kapitalismus hat viel von seinem Glamour verloren in den letzten Jahren. Selbst bürgerlichste Kommentatoren schreiben, so wie es ist, kann es nicht weitergehen. Die Grünen haben Erfolge, aber sie sind am Ende doch nur eine monothematische, zunehmend verbürgerlichte und technokratische Klientelpartei und haben kein politisches Programm. Deshalb muss die Linke wieder ran. Deshalb ist das Spiel wieder offen und es macht Sinn, mitzuspielen.

Der Vorteil heute: alles ist möglich, es gibt auch keine historische Last mehr. Dem Kapitalismus fehlt es längst an Selbstbewusstsein und er ist selbst viel zu abhängig,  um gegen den Kommunismus zu rechten, wer in der Menschheitsgeschichte die grösseren Desaster angerichtet hat – wobei es am Ende ja eigentlich der Kapitalismus war, ist doch so.

Okay, das ist vielleicht alles viel Ideologie und Theorie und Dahingesagtes. Aber wie sieht es mit der Praxis aus? Im zweiten Beitrag bringt der MAC Blog heute ein aus der wochenTAZ übernommenes Interview mit einer – erfolgreichen und extrem beliebten kommunistischen Bürgermeisterin einer westlichen Großstadt mit 300.000 Einwohnern. Elke Kahr, KPÖ (Kommunistische Partei Österreichs), ist seit anderthalb Jahren Bürgermeisterin in Österreich, in Graz, der Landeshauptstadt der Steiermark.  Kahr vertritt einen extrem pragmatischen, unideologischen Ansatz und ist skeptisch gegenüber grossen Worten. Ist das die Zukunft linker Politik?

Elke Kahr: “Es braucht mehr Moral, weniger Moralisten”

wochentaz: Frau Kahr, Sie sind seit fast anderthalb Jahren Bürgermeisterin von Graz. Ihr Vorgänger von der ÖVP, Siegfried Nagl, hat die Stadt 18 Jahre regiert. Sind Sie da nicht auf sehr verkrustete Strukturen gestoßen?

Elke Kahr: Ich habe nicht bei null angefangen. Ich war von 2005 bis 2017 Stadträtin. Ich kannte meine Stadt also sehr gut, auch die Verwaltung. Wir von der Kommunistischen Partei Österreichs hatten schon viele Ressorts seit 1998, als wir das erste Mal im Stadtrat waren: Wir haben sehr viel kommunalpolitische Erfahrung und erarbeitetes Vertrauen. Und wir tragen schon lange politische Verantwortung.

Aber hatten Sie keine Probleme mit den Alphamännern der ÖVP?

Sie müssen sehen, die ÖVP ist eine sehr machtverwöhnte Partei gewesen. Ihre Politiker dachten, die Stadt gehört ihnen. Sie haben teilweise, vor allem auch die Jüngeren, eine Arroganz an den Tag gelegt, wo ich mir dachte: Hallo, du redest da mit der größten Respektlosigkeit, nur weil du eine Rhetorikschulung besucht hast. Und glaubst, du bist der König.

Ihre Wahl muss für diese Männer ein Schock gewesen sein?

Ja. Ich bin Frau, Kommunistin und komme aus dem Arbeitermilieu, das war ein Dreierpack, das manche schwer verkrafteten.

Wie gehen Sie mit der Arroganz Ihnen gegenüber, auch in den Medien, um?

Vergessen Sie es. Hinter den Kulissen stehen viele Redakteure und Redakteurinnen auf unserer Seite, auch wenn es nicht Blattlinie ist. Die Leute sagen, das sind unsere Kommunisten, die sind anders.

Sie haben in einem Interview gesagt: Was mich wirklich interessiert, ist ein Ende der Freundelswirtschaft und des Postenschacherns. Was ist da bislang Ihre Bilanz?

Unsere Vorgänger haben uns einen großen Schuldenberg hinterlassen. Das ist ein echtes Problem. Unter Umständen müssen wir bestimmte Leistungen zurückfahren, um die Kredite zu bedienen. Wir werden uns konzentrieren auf die Kernaufgaben einer Kommune: Schule, Pflege, Gesundheit, Soziales, Wohnen, Mobilität. Aber wir werden keine neuen Museen bauen. Wir haben durch die Kulturhauptstadt 2003 viel im Kulturbereich geschaffen. Das müssen wir absichern.

Fehlende wirtschaftliche Kompetenz wird Ihnen aus Kreisen der ÖVP vorgeworfen.

Ja, das sagen die immer. Wir tragen in dieser Stadt aber schon seit 1998 Verantwortung. Unsere Ressorts sind nicht verschuldet. Die haben wir seriös und solide geführt.

Gibt es Vorurteile gegen die Kommunisten?

Ja, die gibt es. Manche schrecken vor uns zurück. Man muss Vertrauen gewinnen wie in einer Beziehung. Die Bewährungsprobe besteht im Zusammenleben. Wir sind eine Weltanschauungspartei, wir haben unsere kommunalpolitischen Wünsche und Vorstellungen. Aber die Grundlage dafür bildet immer das, was wir aus der Bevölkerung erfahren und sehen. Wir haben viele Kämpfe mit der Bevölkerung gewonnen. Wir haben die Olympiabewerbung und andere Großprojekte verhindern können.

Wie läuft Ihre Koalition aus KPÖ, Grünen und SPÖ?

Das läuft gut. Es ist schon was Besonderes, dass zwei Frauen, die Bürgermeisterinstellvertreterin Judith Schwentner von den Grünen und ich, die Stadt führen dürfen. Das kommt bei jungen Frauen sehr gut an. Sie glauben gar nicht, wie viel Vertrauen uns da entgegenschlägt. In der ganzen Geschichte unserer Stadt war nie eine Frau Bürgermeisterin. Es ist wichtig, dass in allen Lebensbereichen die unterschiedlichsten Menschen in Positionen kommen. Dass es normal wird. Man muss alle Gruppen der Gesellschaft sehen. Aber es ist auch normal, dass Menschen da Berührungsängste haben. Das muss man auch verstehen.

Warum ist die KPÖ in Graz so stark?

Das hat was mit den handelnden Personen zu tun und weil man für die Leute da ist und zwar ganz konkret. Die Politiker und Politikerinnen sind im Allgemeinen nicht mehr greifbar für die Leute. Sie schotten sich ab. Es macht fast niemand mehr einen Parteienverkehr.

Was heißt das?

Ich habe meistens zwei Nachmittage in der Woche und am Samstag Parteienverkehr – ein Ausdruck aus dem österreichischen Amtsdeutsch für Sprechstunden und Beratungsgespräche. Da kommen Leute, die konkret Hilfe brauchen, etwa wenn der Strom abgeschaltet ist. Denen gebe ich direkt Unterstützung mit dem Geld, das ich als Bürgermeisterin verdiene: finanzielle Hilfe, Informationen und konkrete Tipps, Vernetzung. So lernt man Tausende Leute kennen mit ihren Sorgen und Wünschen. Das ist die wichtige Voraussetzung, um zu begreifen, wie es den Leuten in der Stadt geht, wo Handlungsbedarf ist.

Sie geben Geld von Ihrem Gehalt ab. Sind Sie religiös?

Nein, aber ich respektiere religiöse Gefühle und komme mit allen Religionsgruppen in der Stadt zusammen. Das hat etwas mit Respekt zu tun. Es kommt darauf an, wie jemand seine Religion lebt. Das gilt auch für unsere Weltanschauung. Es hilft ja nichts, einfach bloß zu sagen, ich bin Kommunistin, und noch weniger, über hehre Ziele zu diskutieren. Und auf eine bessere Welt zu vertrösten. Ich muss einfach täglich eine brauchbare Partei sein. Auch eine Partei lebt von ihren handelnden Personen. Und die müssen ein Vorbild sein.

Und deshalb geben Sie einen großen Teil Ihres Gehalts ab?

Als Stadträtin habe ich seit 2005 über 6.000 Euro netto verdient. Ich habe mir damals immer 1.900 Euro behalten und den Rest habe ich weitergegeben. Als Bürgermeisterin bekomme ich 8.000 Euro netto, ich behalte 2.000 Euro.

Beachtlich in Zeiten der Gier. Manche nennen das Populismus …

Wissen Sie, ich könnte gar nicht anders. Wenn ich das per Gesetz verboten bekäme, dann würde ich meinen Job beenden. Denn ich sehe, wie es den Leuten geht. Das war bei mir schon von Kind auf so. Damals habe ich mir geschworen, mich für Gerechtigkeit einzusetzen. Bei der KPÖ habe ich dann meine politische Heimat gefunden.

Wie sind Sie aufgewachsen?

In der Triestersiedlung. Dort sind die sozialen Unterschiede deutlich geworden. Es gab das linke und das rechte Murufer. Das rechte, wo ich aufgewachsen bin, waren klassische Arbeitersiedlungen. Das waren Substandardwohnungen. Meine Eltern haben damals ein kleines Haus gekauft: Zimmer, Küche, Vorraum und Plumpsklo. Keine Dusche.

Ihre Eltern waren Adoptiveltern.

Meine Eltern haben mich mit drei Jahren adoptiert. Und natürlich war mein Elternhaus und das, was ich gesehen habe, prägend. Nebenan waren Holzbaracken, wo Großfamilien in einem Zimmer gelebt haben. Und das Wasser kam vom Brunnen.

Sie haben also eine klare Klassenperspektive?

Ja. Ich habe gesehen, dass es ein Oben und ein Unten in der Gesellschaft gibt. Später habe ich viel gelesen. Ich hatte einerseits so was wie einen Abenteuergeist, andererseits hat es mich fasziniert, welche Persönlichkeiten es auf der Welt gegeben hat.

Was haben Sie gelesen?

Ich habe Geschichtsbücher, Biografien, Romane verschlungen. Alles, wo Leute sich eingesetzt haben für mehr Gerechtigkeit, für andere, das hat mich fasziniert. Egal ob es fiktiv oder real war.

Wer waren Ihre Stars?

Dostojewski habe ich geliebt, oder Charles Dickens. Es war für mich toll, zu begreifen, dass es überall Menschen gibt, die die gleichen Wünsche haben. Ich bin aber auch sehr neugierig.

Und wohin hat Sie Ihr Abenteuergeist getrieben?

Ich war überall in Europa. In allen Ecken. Das erweitert den Horizont. Bis jetzt ist das Reisen ein großes gemeinsames Interesse von mir und meinem Mann.

Es war also die Gerechtigkeitsfrage, die Sie von den Büchern zur KPÖ geführt hat.

Auf jeden Fall. Oft waren in den Romanen die Personen, die ich bewunderte, Kommunisten. Und zu Zeiten des Kalten Krieges hat es mich immer misstrauisch gemacht, dass alles Schlechte vom Osten kam. Dieses Schwarz-Weiß-Denken.

Heute leben Sie einen alltagstauglichen Kommunismus?

Ich halte nicht viel vom Phrasendreschen. Ich habe nie meine Weltanschauung wie eine Monstranz vor mir hergetragen. Ich will verstanden werden. Man kann obergescheit über Kapitalismus, Imperialismus und Kolonialismus daherreden. Da hat man aber auch nichts davon.

Theoretische Debatten nerven Sie?

Ja, wenn sie keinerlei praktische Auswirkungen haben.

Was sind Ihre kommunalpolitischen Vorstellungen?

Für mich ist das Wichtigste die soziale Frage. Das heißt nicht, dass ich mich nur um Menschen, die von der Sozialversicherung abhängig sind, kümmere. Ich muss immer fragen, wie es berufstätigen Familien, alleinerziehenden, Rentnern, Studierenden, Kleingewerbetreibenden, Unternehmen geht. Für mich ist wichtig: Wie greifen die Leistungen, die die öffentlich Hand hat, wie greifen die Löhne und Pensionen im Verhältnis zu dem, was das Leben kostet? Und da ist eine Schieflage schon vor der Pandemie dagewesen, verstärkt nun durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, die Inflation, die Energieproblematik. Da halten die Gehälter nicht Schritt. Das ist überall so, nicht nur in Graz, aber dort, wo man wirkt und arbeitet, muss man den Menschen zur Seite stehen. Die ganze Welt kann man eh nicht verändern.

Wie helfen Sie konkret, mal abgesehen von der finanziellen Unterstützung?

Ich bin zuständig für das Wohnungs- und Sozialamt. Die KPÖ ist in Graz die Wohnungspartei seit Jahrzehnten. Wir haben in unseren städtischen Eigentumswohnungen nicht nur den Substandard beseitigt, wir haben auch viele neue Gemeindewohnungen errichtet. Und das geht weiter. Das sind schöne und bezahlbare Wohnungen, seit 2010 mit Photovoltaikanlagen. Da kann der freifinanzierte Wohnungsbau nicht mithalten. Wir bauen Gemeindewohnungen als Stadt und wir kaufen Grundstücke, wo die Genossenschaft das Haus errichtet und wir das Zuweisungsrecht haben. Und nach 40 Jahren, wenn das Baurecht ausläuft, wird das Objekt Besitz der Stadt. Wir haben den Kautionsfonds eingeführt. Jeder, auch bei der privaten Wohnungssuche, bekommt vom Wohnungsamt 1.000 Euro. Das Geld muss er erst beim Auszug aus der Wohnung zurückzahlen. Und wir haben für unsere städtischen Mieter eine Zuzahlung für die Miete plus Betriebs- und Heizkosten, die Miete darf nicht mehr als ein Drittel des Einkommens ausmachen. Das gibt es nur in Graz. Und wir haben unseren Mieternotruf, das ist eine rechtliche Beratung und rechtliche Intervention für Mieterinnen und Mieter.

Sie haben auch Unterstützung aus sehr bürgerlichen Vierteln und viele Fans unter Studenten und Studentinnen.

Wir haben Zuspruch aus allen Schichten. Es gibt eine neue Studie, die wir machen, um zu zeigen dass die Ausgaben, die wir im Sozialbereich anlegen, sinnvoll sind. Die Studie zeigt: Ein großer Teil der Bevölkerung verdient sehr gut. Und dann haben wir die große Schnittmenge von Leuten, die früher so zwischen 2.000 bis 3000 Euro verdient haben und damit gut leben konnten. Diese Gruppe ist am Verschwinden. Und die Gruppe der Sozialhilfeempfänger und der Einkommen bis 1.500 Euro, das ist inzwischen fast die größte Gruppe. Wenn das Leben weiter so teuer wird und die Fixkosten steigen, bekommt diese Gruppe echte Probleme. Wenn man beispielsweise 1.500 Euro verdient, bekommt man keine Wohnunterstützung. Das kann schnell prekär werden.

In dieser Gruppe bewegen sich viele Frauen?

Alle die im Handel, im Verkauf sind, die in Teilzeitbeschäftigung sind, in Kinderbetreuung, in der ganzen Dienstleistungsbranche. Sie verdienen nicht viel. Auch die Männer, die oft schwer arbeiten. Deswegen ist es berechtigt, dass wir Mietzuzahlungen haben, dass wir Geld für Gemeindewohnungen ausgeben, dass wir den „Graz hilft“-Fonds auch für Berufstätige haben. Es ist wichtig, dass auch Leute, wenn sie arbeiten und in eine Notsituation geraten, beim Sozialamt nachfragen können. Auch jenseits der Richtsätze. Wir haben das jetzt dahin geändert, dass nicht das Einkommen ausschließlich zählt, sondern die Notlage. Die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen können entscheiden, ob eine Unterstützung bei Krankheit, einer schulischen Zwangslage, größeren Reparaturen, Bestattungen etc. geleistet wird.

Würden Sie sich als Idealistin beschreiben?

In gewisser Hinsicht schon, auf der anderen Seite bin ich schon immer ein Mensch gewesen, der nur das glaubt, was er sieht. Vielleicht habe ich eine romantische Ader. Und meine Vorstellung von einer gerechteren Welt deckt sich in vielem mit der des Marxismus. Auch wenn im Namen dieser Weltanschauung viele Verbrechen verübt wurden. Aber es gab immer viele kämpferische Kommunisten und Kommunistinnen in vielen Ländern, die man nicht gesehen hat. Oder schauen Sie sich die Kommunistische Partei Belgiens an, eine wunderbare Partei, die ich als Schwesterpartei begreife. Die in vieler Hinsicht ein absolutes Vorbild für mich ist.

Statt sich persönlich zu bereichern, setzen Sie auf soziale Unterstützung. In der skandalträchtigen, von Korruption geprägten österreichischen Politiklandschaft eine Ausnahme …

Es geht mich oft richtig an, dass die Leute bei Zusammenkünften so gerührt und dankbar sind. Es ist schön zu hören, wenn auch viele ältere Leute sagen, wir sind froh, dass wir Sie als Bürgermeisterin haben, gerade in diesen Zeiten. Sie schätzen, dass wir für sie da sind. Das gilt genauso für meine Kollegen und Kolleginnen der KPÖ, die auch in der Stadtregierung sind: Da sein für die Menschen, sie so zu nehmen, wie sie sind. Man muss die Leute gern haben in ihrer Komplexität und keinen Unterschied machen, woher jemand kommt. Es braucht mehr Moral und weniger Moralisten.

Ihr Vorbild, die belgische Partei der Arbeit, ist die am schnellsten wachsende linke Kraft in Europa, drittstärkste Partei im Land. Davon ist die KPÖ in Österreich weit entfernt. Ihre Partei ist in Graz stark. Warum fehlt die Strahlkraft in anderen Orten?

In Salzburg gibt es eine Bewegung, die kommt ursprünglich von den jungen Grünen, sie nennen sich Junge Linke. Die Junge Linke hat sich uns angeschlossen. Ich bin optimistisch, dass wir auch wieder eine bundesweit agierende Partei sein werden. Man darf sich nicht in der Theorie verlieren, man muss in der Praxis bestehen.

Wie wichtig ist die Partei für Sie?

Na ja, man braucht schon eine Partei, die das mitträgt. Ich hätte mich ja auch für die Sozialdemokratie entscheiden können. Die ist nicht das Schlechteste in Österreich. Aber es hat trotzdem viele Leute gegeben, die ihre Privilegien reichlich genossen haben. Und sie haben den arbeitenden Menschen keine politische Heimat mehr gegeben. Sie waren nicht mehr unterscheidbar, sind viele Kompromisse mit der ÖVP eingegangen auf Bundesebene. Das hat den ganzen Rattenfängern wie Jörg Haider und Heinz-Christian Strache Auftrieb gegeben, die nur davon leben, die Leute auseinanderzudividieren und andere als Sündenböcke hinzustellen. Die Leute haben nicht mehr gewusst, was sie wählen sollen.

Das Sittenbild der österreichischen Politik ist fatal.

Es widert mich an. Ich weiß ja schon gar nicht mehr, wer die ganzen Minister sind. Die sind in den letzten Jahren so oft ausgetauscht worden, es war ein Kommen und Gehen. Keine Kontinuität, die Leute haben auch dadurch das Vertrauen in die Politik schon lange verloren.

Was bedeutet das Bürgermeisteramt für Sie?

Meine Mitarbeiter und ich, wir können Politik gestalten. Aber ich bekäme keine Depression, wenn ich nicht mehr Politikerin wäre. Es gibt so viele Hunderte Aufgaben zu tun. Im tiefsten Herzen bin ich eine Basisaktivistin.

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Elke Kahr, 61, wurde als Dreijährige adoptiert und wuchs in einem Grazer Arbeiterbezirk auf. Nach der Hauptschule besuchte sie die Handelsschule. Während einer Beschäftigung bei der Oesterreichischen Kontrollbank holte sie die Matura nach. Seit 1988 lebt sie mit dem ehemaligen KPÖ-Landesparteivorsitzenden Franz Stephan Parteder in einer Lebensgemeinschaft. Das Paar hat gemeinsam einen Sohn und ein Enkelkind. 1983 trat sie in die Kommunistische Partei Österreichs ein. Von 2003 bis 2004 war sie stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei, dann von 2005 bis 2017 Stadträtin für Wohnungsangelegenheiten. Ihre Tätigkeit im Mieternotruf hat sie populär gemacht. Bei der Gemeinderatswahl 2021 drängte sie im Kampf ums Grazer Rathaus überraschend ihren langjährigen Vorgänger von der ÖVP aus dem Amt. Seitdem ist sie Bürgermeisterin in einer Koalition mit Grünen und SPÖ.

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