Ist Marx grösser als das Internet?

Nur Männer im Raum, 20 bis 30, damit meint euer MAC die Anzahl, nicht das Alter. Wenn eine Frau da wäre, würde es auch nicht viel helfen, vor allem, wie würde sie sich fühlen? Es müssten schon 15 Frauen sein. Aber wo bekommt man(n) 15 Frauen her? An diesem Mittwoch-Abend im Juni ist es drückend schwül in dem Seminarraum der Uni Hamburg. Auf Einladung von MASCH geht es heute um den „Verein Freier Menschen“, eingeladen ist der Lehrbeauftragte für Philosophie Frank Kuhne (Leibniz Universität Hannover), mit seinem Buch „Marx und Kant“. * 

Der „Verein Freier Menschen“ ist ein Begriff von Karl Marx, eigentlich ein hübscher Begriff, mit dem er eine freie Gesellschaft beschreibt. Um Freiheit geht es auch an diesem Abend, nämlich, wie weit sich mit dem Instrumentarium (Tool Box?) des Marxismus eine gesellschaftliche Freiheit realisieren lässt. Kuhnes Befund ist eindeutig: Nein, lässt sich nicht. Die von Marx vorgenommene Charakterisierung des anvisierten „Vereins Freier Menschen“ als Kollektiv-Subjekt sei sogar „alles andere als harmlos“ **, er vertrete damit eine „irreführende Utopie“, deren politische Realisierung vermittels der Diktatur des Proletariats scheitern muss. Mit den Marx und Engels zur Verfügung stehenden Mitteln ließe sich nicht die prinzipielle Erreichbarkeit, sondern nur die prinzipielle Nicht-Erreichbarkeit der freien Gesellschaft dartun. Marx´ und Engels „instrumenteller Politik und ihr defizienter Freiheitsbegriff“ verstellten sogar einen angemessenen Umgang mit der Fragestellung. Oje.

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Tolles Buch: Frank Kuhne sagt, der Marxismus habe keinen tauglichen Begriff von “Freiheit”. Stimmt das?

„Diktatur des Proletariats“ klingt nicht nach Freiheit

Das ist ein spannendes Thema und es trifft auf jeden Fall einen Nerv. In der Diskussion kann es schon mal schwer fallen, die „Diktatur des Proletariats“ oder die geringe Freiheitsliebe von angeblich auf den „Marxismus-Leninismus“ gegründeten autoritären Staaten, wie der früheren Sowjetunion oder Maos China, als Paradiese der Freiheit zu verkaufen. Dass mit der Diktatur des Proletariats nur die Umkehr der Herrschaft der „Wenigen“ (Grund- und Fabrikbesitzer) über die „Vielen“ (die Arbeiter) gemeint war, und Lenin überhaupt erst 50 Jahre nachdem Marx schon tot war, geboren wurde, der „Marxismus-Leninismus“ also ein historisch spektakulärer Etikettenschwindel ist – mit all dem war es immer schwer durchzukommen und der Marxismus blieb unter „Wenn das Freiheit sein soll“-Verdacht. Ein Verdacht übrigens, gegen den schon Generationen von Sozialdemokraten ankämpfen mussten und den man für diese Partei insofern als verloren ansehen kann, als er in einer kompletten Verleugnung des Marxismus endete, für die bis heute bitter bezahlt wird – mit dem Verlust von Identität und Orientierung. Im Godesberger Programm von 1957 schwor die SPD dem Marxismus, der „ideologischen Korinthenkackerei“ (Herbert Wehner) ab, berief sich nicht mehr auf die „klassenlose Gesellschaft“ sondern eine Herkunft aus „Humanismus, christlicher Ethik klassischer Philosophie“, der „Klassenkampf“ wurde ersetzt durch den „Sozialismus als dauernde Aufgabe“. Die Wahlerfolge, die die SPD daraufhin als „linke Volkspartei“ erzielten, stellen sich im Rückblick als vorübergehend heraus, die Wähler sind heute wieder weg, geblieben ist die Orientierungslosigkeit.

Ich denke, es ist klar, das Verhältnis Marxismus und Freiheit ist ein superwichtiges Thema und jeder, der sich heute damit beschäftigt tut dies vor dem gerade skizzierten Erfahrungshorizont. Am Beginn seines Vortrags legt Frank Kuhne dar, dass er kein verkappter Reaktionär sei, er glaube an die Möglichkeit einer freien Gesellschaft, aber mit den Mitteln der Marx´schen Lehre sei sie nicht erreichbar. Am Ende des Vortrags im schwülen Seminarraum, als zur Diskussion aufgefordert wird,  traut sich der MAC, auf eine nette, tastende, podcastmässige Art, den Autoren mit der Wortmeldung ein wenig zu provozieren, dass es ihm, dem Autoren, nicht gelungen sei, zumindest aus Sicht des MAC nicht, den Nachweis zu erbringen, kein Reaktionär zu sein.

Marx wollte nicht in die “Garküche” der Zukunftsideen

Naja, der MAC kann dem Mann, der den Vortrag übrigens stehend hält, finde ich sympathisch (stehend = mehr Energie), in punkto Wissenschaftlichkeit nicht das Wasser reichen, viele Jahre hat Kuhne an dem Buch gesessen, es ist ein großes Werk, mit seinen 600 Seiten, fast so dick wie der MAC, zu haben um 54,90, der MAC geht dagegen schon um schlappe 20,00 aus dem Webshop, weiters geht es ja noch um das Verhältnis Marx und Kant, das wurde im Vortrag gar nicht angesprochen und hier jetzt auch nicht. Kuhne gab „Marx und Kant“ zum Blättern rum und auf einen Blick wird klar, es ist auf jeden Fall eine tolle Zitatensammlung dazu, wie Marx mit Freiheits-Begriffen arbeitet ,wie er es aber auch abgelehnt hat, den offenbar schon zu seiner Zeit spürbaren Anspruch seiner Jünger abwehrte, er müsse die neue, die nach-kapitalistische Gesellschaft ausführlicher beschreiben. Lt. Kuhne schrieb er im „Kapital“, er verschreibe keine „Rezepte für die Garküche der Zukunft“, das Projekt eines Werks mit dem Titel „Der Staat“ habe Marx nie begonnen.

In den 60er Jahren war man eher geneigt, Marx von diesem Anspruch zu entlasten. Adorno – auch das schreibt Kühne – spricht von einem „Bilderverbot“, welches Marx erlassen habe. Aufgabe einer kritischen Theorie sei demnach die Kritik der bestehenden Verhältnisse und nicht die „Auspinselung“ einer besseren Zukunft. Diese Antwort überzeugt Kühne aber nicht, „denn man wüsste schon gern, was das für eine Art von Freiheit ist, die der Einzelne in der anvisierten „freien Gesellschaft“ hätte.“  Er spricht damit an, dass Marx die Freiheit des Einzelnen als Voraussetzung für die Freiheit aller gesehen hat, wogegen man nicht viel sagen kann, denkt zumindest der MAC.

Auch aus dem Publikum, von einem verdienten MASCH-Mitstreiter, ist zu hören, Marx Analyse des Kapitalismus sei „gegenstandslos“, wenn dem nicht eine Vorstellung eines nicht-kapitalistischen Systems gegenüber gestellt sei.

Für Millionen Klassenkämpfer war das “Kapital” gut genug

AAAAAALSOOOO … das findet der MAC ja gar nicht. Er hat noch den Spruch Daniel Cohn-Bendits im Ohr, damals als er nach Wien kam zum „Club 2“, dass man sich zunächst ruhig mit der Rolle begnügen könne, „das Negativ“ zum Herrschenden zu sein, denn mit diesem Negativ bringe man, wieder in Abwandlung von Marx, „die Verhältnisse schon mal zum Tanzen“. Auf der anderen Seite ist es ja nicht Nichts, was Marx hinterlassen hat. Die Bände des „Kapital“ und weitere Schriften bildeten immerhin die Grundlage für die Bildung dessen, was wir noch als Arbeiterbewegung kennen – waren also für Millionen Menschen Werkzeug und Anleitung genug, um sich selbst zu ermächtigen und politische aktiv zu werden. Unser heutiger Staat beruht noch auf dem, was die Arbeitbewegung erkämpft hat, wenn ich das mal so derb hinschreiben darf. Und auch heute, auf der ganzen Welt, werden Klassenkämpfe geführt, versteckt hinter enthnologischen, ökologischen oder Identitätsthemen, aber auch massiv wie seit Jahren nicht mit dem klassischen Mittel des Arbeitskampfes, des Streiks. Debatten um die Arbeitszeit, eine der wichtigsten Stellschrauben bei Marx, sind prägend für die Gegenwart.

Soll all diesen Kämpfen unterstellt werden, sie hätten keinen richtigen (?) Freiheitsbegriff – und dies aus der geschützten Studierstube, rein akademisch und damit unangreifbar, unangreifbar übrigens auch aus marxistischer Sicht, weil Marxismus immer zur Kritik einlädt und die Kritik auch braucht, um sich weiterzuentwickeln. An wen adressiert Kuhne seine Kritik? An Marx selbst? Der kriegt das nicht mehr mit.

Und kann es nicht sein, dass Marx den Begriff der Freiheit eben nicht in dem Ausmass als politische Kategorie gesehen hat, wie ihm das von heutigen Apologeten immer wieder mal abverlangt wird?

Die Freiheit ist ein Begriff der Philosophie und ihre Abwesenheit ist unerträglich. Als politisches Ziel aber ist sie ungenügend. Dazu ist schon der Begriff zu schwammig, dehnbar von Janis Joplins „Freiheit ist nur ein anderes Wort, nichts zu verlieren zu haben“, bis zur „Freiheit“ („Freie Fahrt für freie Bürger“) mit 300 km/h über die Autobahn brettern zu können. Und ist die AfD nicht auch für Freiheit, klar! Freiheit ist vielleicht eher so etwas wie Glück, immer nur individuell erfahrbar und nicht zu verordnen.  Gleichheit und Gerechtigkeit dagegen sind Begriffe, die sich festmachen lassen, wie es Marx und Engels getan haben, und bei Erfüllung übrigens auch zu so etwas wie „Freiheit“ führen.

Aber jetzt habe ich mich verstiegen. Was ich nur sagen wollte, und es ist noch viel schlimmer: In dem schwülen Seminar-Raum habe ich phasenweise die Fantasie, ich säße unter greinenden Kindern (Söhnen!), die sich nicht nur beschweren, dass der große Vater sie verlassen hat, sondern auch, dass er nicht richtig vorgesorgt hat – mit eine lückenhaften, unschlüssigen Theorie im Nachlass, die sie jetzt und in alle Ewigkeit zur Erfolglosigkeit verdammen …. 

Dabei ist es doch gar nicht so! Es gibt doch auch den Ansatz, zu sagen, im Klassenkampf entsteht die neue Gesellschaft (das erinnert allerdings ein wenig an das sozialdemokratische „Sozialismus als ständige Aufgabe“) – und dass alle, die beginnen, sich selbst zu ermächtigen, also zu kämpfen beginnen, schon das Reich der Freiheit betreten … Ob dazu schon der Eintritt in die MASCH reicht … ich würde sagen, in aller Milde: JA.

Noch was:  Wenn ich das richtig verstehe, Marx hat uns einen Baukasten hinterlassen aus unzähligen, nicht immer „kohärent“ verbundenen Elementen, natürlich auch aus Widersprüchen und vielleicht auch Irrtümern. Jeder weiß, auch Frank Kuhne, der dies sogar anspricht, dass man mit geschickt gewählten Marx Zitaten fast schon Alles & Jedes nachweisen kann. Das Werk ist, wie es ist – und es ist an uns, es weiterzuentwickeln, so denke ich, war es auch gedacht. Es ist an uns, damit zu arbeiten. Und natürlich kann Kritik ein Weg sein, dies zu tun – in der Absicht, wie Frank Kuhne es auch sagt, das Werk „nutzbar“ zu machen, vielleicht auch befreit von falschen Ansprüchen.

Als ich (der MAC) rausgehe aus dem schwülen Seminarraum ergibt sich ein kurzer Dialog mit zwei Studenten, die an der Kuhne-Veranstaltung auch teil genommen hatten. Ihnen sage ich ähnliches wie im letzten Absatz, dass weniger die Klage angebracht sei, was alles fehle bei Marx, als das Selber-weiterentwickeln und Weiterdenken des Marxismus.

„Ich denke ja, Marx wäre heute ein Blog“, sage ich.

„Ein Block?“ fragen sie verblüfft. Vielleicht hat sie mein österreichischer Akzent verwirrt.

„Ein Bloggg“, sage ich, „so Texte im Internet.“

Obwohl Digital Natives wahrscheinlich, können die beiden gar nichts damit anfangen, mit der Idee, meine ich, schauen verduzt und verschwinden im Getümmel des Campus.

Ist Marx grösser als das Internet, dass er da gar nicht reinpasst? War das der Grund ihres Erschreckens? Vielleicht.

* Frank Kuhne, Marx und Kant – Die normativen Grundlagen des Kapitals, Velbrück Wissenschaft, 54,90 €

**Ab hier, bis zum Ende dieses Absatzes, wird aus dem MASCH Programm zitiert: www.masch-hamburg.de/

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