Ich war audiosexuell

„War“ oder „bin“, das ist die Frage. Worte, Worte, Schreiben, Schreiben, ist ja alles kacke. Reden? Mit wem? Werde ich eh nur nicht verstanden, oder über den Tisch gezogen. Naja, manche meinen es vielleicht auch gut mit mir, bevor ich sie davon abbringe. Geht um meine Platten. Meine tausenden Scheissschallplatten. Ich bin so müde davon. Was soll damit geschehen? Vom Neukaufen bin ich schon herunter, dafür war in letzter Zeit kein Geld da. Wie lange werde ich es ertragen, nur altes Zeug zu hören? Aber war es nicht mal der Sinn des SAMMELNS, irgendwann einmal alles und für immer da zu haben? Dieses anale Festhalten, diese Störrische, sich der Sauberkeitserziehung zu widersetzen. Das kann sich auch wie ein Gefängnis anfühlen, gefangen in der eigenen Scheisse, der Vergangenheit. Was wäre ein Befreiungsschlag? Den ganzen Vinylkrempel raus, die fossilen Teufelsprodukte, die allerdings eine gewisse Nachhaltigkeit haben, weil sie 100 Jahre halten.  Aber da stecken doch WERTE drin! Mein Gott. Das Wedding-Album von John und Yoko, mit allen Extras wie der kleinen White Bag. Das Black Album von Prince, aber ist es die richtige Pressung?  Die Preise, die bei discogs angegeben werden, sind fiktiv, man muss den Käufer auch FINDEN. Vor allem muss man auch in der Lage sein, Platten zu verschicken, was ich schon mal nicht bin. Gibt es nichts Wichtigeres im Leben des Michael Hopp, des Mann auf der Couch? Geht nichts anderes rein in seinen Kopf, seine Seele? Und wie öde ist es schon geworden, das alles zu erörtern. Die 100 Seiten im Buch. Eva kann das alles nicht mehr hören. Es gibt Streit. Wozu? Wofür? Einfach alles lassen, wie es ist? Kostet Platz- und damit Miete!!!  Warum bin ich nicht einfach STOLZ auf meine Sammlung? Enthalte ich das Geld, das sie mich gekostet hat und noch kostet, anderen vor? Wurden die Mitarbeiter deshalb nicht bezahlt? Steuern? Für die Kinder zu wenig Unterhalt? Hat das Plattensammeln mich (mit) in den Ruin getrieben? Kann ich nur mit Schuld auf alles gucken?! Bittere Lebensbilanz, was schön war, wendet sich plötzlich gegen dich!? Dumm gelaufen? Die Psychoanalyse konnte nicht helfen. Ins Grab werde ich die Sammlung nicht mitnehmen können, das verstehe ich schon. Und gegen den Tod gibt es kein Aufbegehren, die Entscheidung triffst du nicht. Dieses Unerträgliche, das am Ende doch jeder ertragen muss, rausschieben, vielleicht ist es das.

Fällt mir auch nichts anderes ein im Moment, als Euch einen der beiden Texte, die ich im „Mann auf der Couch“ zu dem Thema habe, nochmal anzubieten.  Er trägt den unschuldigen Titel „Musikhören II.“, aber er ist … Lest selbst!

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Schön oder nicht schön? Geil oder nicht geil? Werte oder Plastikschrott? Mit vielen Fragen steht der Mann auf der Couch vor seiner Plattensammlung

Musikhören II.

Auszug aus „Mann auf der Couch“, Seite 428, Textem Verlag 2021

Von keiner Heilung sprechen kann ich bezüglich meiner Liebe, meiner Sucht, meiner Abhängigkeit von Schallplatten und von hochwertigem, teurem Hi-Fi-Gerät, von der ja schon die Rede war. Mit dazu gehörenden Phasen von Euphorie und Depression, eine anstrengende, kräftezehrende Geschichte. Mit dem, was ich hier schreibe, möchte ich der Sache gerecht werden, aber wieso überhaupt Gerechtigkeit?

Den schon beschriebenen LP-12-Plattenspieler habe ich immer wieder auf den neuesten technischen Stand gebracht. Auch mit dem Sammeln von Schallplatten habe ich nie aufgehört.

Mit meinem Älterwerden sieht die Sammlung einer ungewissen Zukunft entgegen, gut, das betrifft alle Sammlungen dieser Art. Trifft ja auch auf die Bücher zu, auch meine Büchersammlung ist groß und eigentlich zu groß, aber mein Umgang damit ist rationaler, wenn ich so sagen kann, mit weniger Vater-Mutter-Kind-Spuk. Die Plattensammlung stellt ständig Fragen, viel zu früh beginne ich mich damit zu beschäftigen, was damit werden soll, wenn ich mal nicht mehr bin. Der schwarze Rabe hockt schon da und lässt sich nicht mehr vertreiben.

Diese düsteren Fragen stellen sich immer dringender, da mich die in all den Regalmetern für alle Zeiten gespeicherte Musik immer weniger interessiert, das meiste will ich gar nicht mehr hören. Das mir einzugestehen wage ich aber kaum, weil es sich wie tausend kleine Tode anfühlt.

Tschüss, Beatles. Tschüss, Bowie. Tschüss, ich mag es nicht hinschreiben, es tut so weh. Auf Wiedersehen, Van Morrison. Das war’s, Lou Reed.

Es ist ein verlässlicher Gradmesser meiner Niedergeschlagenheit, wenn ich vor den Tausenden Platten stehe und KEINE hören möchte, einen Selbsthass entwickle, eine Scham, in was für eine Situation habe ich mich hier gebracht, und einen Hass auf all die bescheuerten Künstler. In solchen Momenten würde es mir nichts ausmachen, die Möbelpacker kämen und der Krempel wäre weg. Ich würde ruhig dasitzen und zusehen und froh sein, dass ich nicht schleppen muss.

Genauso verlässlich, wenn die Depression nachlässt, entdecke ich eine Platte. Zum Beispiel komisch gesungene Cover-Versionen, Bryan Ferry, oder »Spanish Is The Loving Tongue«, gesungen von Bob Dylan. Bei solchen Aufnahmen besteht eine seltsame Distanz zwischen dem Interpreten und dem Material, ein Zwischenraum, in den ich gut hineinkomme.

Ein paar Mal im Jahr tue ich mir neue Nischen auf, beginne mich anfallartig für Sun Ra zu interessieren, laufe los, hole Platten, höre mich ein, höre ein paar Tage nichts anderes, bis es, was, die Begeisterung, die Hoffnung, die Hoffnung auf was, Erlösung, oder Erfüllung eines Versprechens, wer hätte denn was versprochen, wieder erlischt. Ähnlich ist es übrigens, wenn ich mir neue Teile für das Hi-Fi-System anschaffe, supergeile Tonabnehmer oder Netzteile, die ihre heilende Wirkung auch meist schnell verlieren und viel zu oft ein beschissenes Gefühl hinterlassen.

Viel hat es mit nicht erfüllter Hoffnung zu tun, die ist ja auch Kern des ganzen Nostalgiegeschäfts, jedes Mal Hoffnung, wenn irgendein ein neu ausgegrabenes altes Zeug von Bob Dylan erscheint, erhöhter Puls, wie auf einen geheimen Startschuss hin geht im Feuilleton der Schönschreiber-Wettbewerb los, alle finden alles gut und vor allem wichtig.

Es ist, wie wenn in Marokko die Muezzins zum Gebet rufen und alle zusammenlaufen und auf die Gebetsteppiche sinken – und dann: der große Abtörn, der Mega-Abfuck, die tödlichste Abwichsung, diese Art von Enttäuschung, die dann eintritt, hat keine bessere Sprache verdient, nicht, weil alle Sachen schlecht wären, sondern weil sie dieser kranken, überlebensgroßen Erwartung nicht genügen können, die getrieben ist vom Entsetzen über das eigene Scheitern.

Es gibt keine deprimierendere Art, die Freizeit zu verbringen

Es gibt keine deprimierendere Art, die Freizeit zu verbringen, als sich solche Musik andächtig vorm Hi-Fi sitzend anzuhören. Einer der ersten Songs, die mich elektrisierten, okay, damit war ich nicht allein, war »I Can’t Get No Satisfaction« von den Rolling Stones, über den ich anlässlich des Konzerts am 1. September 1973 in Wien in der Neuen Freien Presse eine ziemlich pennälerhafte Kritik schrieb. Ich übertrug darin das sexuelle Motiv der vorenthaltenen Befriedigung in die soziale Sphäre, die Qualität des Songs liegt ja eben auch darin, dass er zu solchen Interpretationen einlädt, und ich war immerhin so schlau, dieser Einladung zu folgen.

Jedenfalls gab ich in dem kurzen Aufsatz meine Fantasien preis, oder erfand sie erst beim Hinschreiben, was ja fast auf das Gleiche hinausläuft, »im Rhythmus der Trom-meln« meinem damaligen Lehrherren, dem guten alten, stockschwulen Herrenreiter Georg Prachner, in die Eier zu boxen, ja, so schrieb ich es und so wurde es auch gedruckt.

Ich glaube, ich hatte mich damals schon in die Position gebracht, der Letzte zu sein, der auf Texte guckt. »No Satisfaction« ist jedenfalls die Überschrift, die am Ende über das ganze Kapitel »Plattensammeln« gehört.

Wahrscheinlich auch im Sinne einer Vorlust-Fixierung, bei Freud steht so was, eine Neurose, bei der die Vorbereitung auf den Sex, die damit verbundenen Reize und Signale wichtiger und lusterfüllter sind als das Ficken selbst und die in der pathologischen Ausprägung den Sex sogar unmöglich macht. Ursache ist nach Freud, dass es nicht gelingt, die sexuellen Antriebe aus der kindlichen Welt der Fantasie und der lebendigen Gegenstände loszulösen und auf ihren eigentlichen Ort, die Geschlechtsorgane und ihre Benutzung, zu übertragen. Trifft alles auf mich zu, beim Sex, bei Platten und bei Hi-Fi eigentlich genauso, es ist eine ewiges, irres »I Can’t Get No Satisfaction«-Hamsterrad … Nur Pferden gibt man den Gnadenschuss, wer kennt den Film mit Richard Harris?

Und so erleide ich jeden Tag tausend kleine Tode, jeden Tag, wenn ich zu den Plattenregalen gehe und den Plattenspieler angeworfen habe, lauern sie und nehmen mir die Freude an etwas, das doch eigentlich beglückend sein sollte. Ein ewiges Scheitern, es sind nicht die richtigen

Platten, so viele es auch sind, und es klingt auch nicht richtig, die Hi-Fi-Klage heben wir uns für ein ander Mal auf. Können Tausende Platten alle die falschen sein?

Jede einzelne. Und gäbe es genauso viele richtige? Jede einzelne richtig. Jede gut klingend. Mit diesem irren Wunsch wäre ich ja besser bei digitalen Playlists aufgehoben, auf die ich aber keinen Bock habe. Warum eigentlich?

Der Herr des Klangs will ich sein und bin doch nur sein Sklave. Eine Art Masochismus, in dem ich etwas, das eigentlich dazu da ist, Freude zu machen, in einen Quell von Frust, Enttäuschung und Selbsthass verwandle. Aufstellen, anschließen, Musikhören, damit konnte der Audiophile noch nie etwas anfangen, machte sich vor Kurzem eine dieser von mir gesammelten und archivierten Audio-zeitschriften über ihre eigenen Leser lustig – der Weg zum vollkommenen Sound müsse steinig und jeder Klangfortschritt hart erkämpft sein. Deshalb kämpft der Audiophle lieber gegen die Unzulänglichkeiten der von ihm eingesetzten Uralt-Technologie, während sein Normalo-Kumpel, so schrieb die Zeitschrift, schon lange zufrieden mit irgendwelchen digitalen Miniwürfeln der Musik lauscht – und das noch zu einem Bruchteil des Budgets!

Das Strenge, Gnadenlose, Sektenhafte zieht mich an, die Erfüllung, die nie kommt, auch beim Sex finde ich, wie gesagt, die Vorlust am besten, weil mit dem Orgasmus, diesem kleinen Tod, bekanntlich nichts anderes als die große Leere kommt. Es wäre auch sicher so, dass es für mich nichts Schlimmeres, nichts Traurigeres, nichts Trostloseres gäbe als ein perfektes, himmlisch klingendes Hi-Fi-System, also das, das ich angeblich so herbeisehne.

Bis zu dem Zeitpunkt der Erlösung, der nicht eintritt, heißt es also, Zähne zusammenbeißen, verzichten, dienen … Auf einer Online-Plattform fand ich eine Definition des Audiophilen, die ich mir sofort an die Wand hängen würde, wäre es mir dann nicht doch zu blöd: »All audiophiles have already heard the saying ›Hi-Fi is a quest‹. It is a quest for perfection, a quest for the absolute, for beauty, for the musical truth. The truth doesn’t have to please or not to please. It simply is and that’s all. Beware of the spectacular, the hype. The living musical event is the truth and playing a recording at home is something else entirely. Any serious audiophile expects his audio equipment to sound as close to the living event as possible and he spares no pains, no time and no money to reach that point solely for the passion of music. Who is there for other reasons is not an audiophile. The audiophile always looks for the best. Step by step, as his experience and knowledge proceeds, he improves his audio system, trial after trial, and goes through all hopes, satisfactions and disappointments. The game is endless.«

Das Thema liegt unterhalb des Radars der Psychoanalyse

Leider liegt das Thema unterhalb des Radars der Psychoanalyse und vielen wird schon der Gedanke, die beiden Bereiche aufeinander beziehen zu wollen, absurd erscheinen. Und so konnte ich, was das alles für mich bedeutet, nicht meinen Analytikerinnen deutlich machen und mir selbst eigentlich auch nicht, obwohl ich über all die Jahre viel darüber geschrieben habe. Die Audiophilie! Was für ein bescheuertes Wort! Wie Philatelie, Homophilie, wie spießig, dann wäre ich lieber audiosexuell!

Es scheint selbst für erfahrene Analytiker, »gehen Sie zu Frau Doktor Von«, hatte mir Frau Doktor Zu einst gesagt, »sie ist sehr erfahren«, schwer vorstellbar zu sein, wie sehr sich harmlose Unterhaltungstechnologie mit fehlgeleiteten Emotionen aufladen lässt und wie wenig ein Individuum die Fetische, die es selbst ausbildet, verstehen kann.

Frau Doktor Zu in München hatte ich im besoffenen Zustand den Song »It Ain’t Me, Babe« von Bob Dylan in einer exzentrischen Live-Version vorgeführt. Ich hatte die Nummer zu Hause am Plattenspieler abgespielt, brüllend laut, dabei einen Kassettenrecorder mitlaufen lassen und ihr in der nächsten Stunde diese Aufnahme vorgespielt.

Der skurrile Versuchsaufbau hatte sicher die Funktion, die beiden Sphären miteinander zu verbinden, Doktor Zus Therapie- und mein Wohnzimmer, symbolisch meinen Plattenspieler bei ihr aufzubauen oder sie zu mir nach Hause zum Plattenhören einzuladen – was man eben so träumt als Patient in einer Psychoanalyse. Die extrem standardisierte und reduzierte Wahrnehmung der Person des Analytikers, die man, von der Begrüßung im Flur abgesehen, immer nur in einem Raum erlebt und da fast nur sitzend, führt zu allerhand Wunschträumen und Fanta-sien. Frau Doktor Zu meisterte die Vorführung in ihrer Praxis souverän, auch mir war es damals nicht peinlich, ich wollte es ja so. Bei Frau Doktor Von gelang es mir, sie kurz in ein Gespräch über meine Schallplattensammlung zu verwickeln, an der sie gar nichts auszusetzen hatte. »Das ist sicher interessant, was Sie da haben«, sagte sie, ›wenn es Ihnen Freude macht, sollten Sie sich das auch gönnen. Musikhören entspannt, nicht wahr?«

Typisch für meine ihr gegenüber oft mißmutige Haltung war, dass ich den Zuspruch nicht als wohlgemeint annehmen konnte, sondern, ohne es zu zeigen, eher verärgert reagierte. Denn Frau Doktor Von hatte nicht in Betracht gezogen, dass richtig Plattensammeln richtig viel Geld kostet, was mir, der ich immer zu wenig davon habe, jedes Mal, wenn ich ein Plattengeschäft betrete, Qualen der Entsagung bereitet.

In den Augen von Doktor Von, das unterstelle ich jetzt mal, ist es lediglich eine gekränkte Größenfantasie, wenn ich darüber klage, dass mir heute nicht mehr Stapel von Schallplatten auf Samtkissen wie Opfergaben dargereicht oder, wie ich mich an »früher, in Wien« erinnere, als große und schon unüberschaubare Mengen von Freiexemplaren von den Plattenfirmen zugestellt werden – so viele, dass ich schon zu bequem war, das Zeug überhaupt anzufassen, geschweige denn nach Hause zu schleppen.

Diese Bilder, ob sie stimmen oder nicht – es stimmt schon, ich bekam damals Rezensionsexemplare, aber ob es so viele waren -, diese Bilder können mich jederzeit terrorisieren … und dann stehe ich da, in Hamburg, mit der kleinen Brieftasche im großen Plattengeschäft – und keiner schenkt mir was!

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Das während des „Lost Weekend“ im Jahr 1983 entstandene, total zugedröhnte Album von John Lennon und Harry Nilsson – „Rarität“ aus der Sammlung, oder auch wieder nichts wert?

Keiner! Schenkt! Mir! Was!

Keiner! Schenkt! Mir! Was! Die Fülle des Angebots, Schaufenster, Regale, Wühlkisten, lässt mein Herz schneller schlagen, eine Gier erfasst mich, Jagd- und Sammelinstinkt erwachen, fahren das Adrenalin hoch und schärfen meine Sinne, in sinnloser Hast blättere ich die Alben durch und kann plötzlich wieder lesen ohne Brille.

Dieser Zustand währt einige Minuten, bevor die Vernunft wieder Oberhand gewinnt und mir klarmacht, dass ich von den jetzt schon Dutzenden als interessant ins Auge gefassten Alben vielleicht gerade mal zwei, drei werde kaufen können.

Wie bei einem ruinierten Orgasmus säuft die soeben noch brennende Gier blitzschnell in dem dunklen Tümpel der Missmut ab, und ich möchte den Laden gleich wieder verlassen.

Die zwei, drei Käufe, die ich dann doch tätige, geschehen nur noch, um beim Bezahlen mit den Plattenhändlern in einen scheinbar entspannten Kontakt zu treten und mein Image aufrechtzuerhalten, ich sei ein toller Plattensammler. Um irgendwie aus der Situation rauszukommen.

Die gekauften Platten sind mir zu dem Zeitpunkt fast schon egal und mich nervt es, die Plastiktüte zu schleppen. Den Laden verlasse ich müden Schritts, schwer deprimiert über die sehr wahrscheinlich falsche Auswahl an Platten und über meine irrwitzige, aber vielleicht auch irgendwie harmlose Geisteskrankheit.

Das Nervige daran ist die Zwangsläufigkeit: Selbst, wenn ich mir das gestörte Verhalten klarmache wie in diesem Moment des Aufschreibens, bewahrt mich das nicht davor, dass beim nächsten Besuch im Plattenladen die gleiche Symptomatik die Regie übernimmt. Ich kann den Plattenläden aber auch nicht fernbleiben.

Der längste Zeitraum, den ich es ertrage fernzubleiben, ist zwei Wochen. Dann werde ich unruhig, gereizt, beginne, meinen Terminkalender und meine Familie zu verfluchen, alles, was mich abhält, in die Plattenhöhlen zu gehen.

Panikattacken auch in dem Fall, dass das neue Bob Dylan-Album erscheint und ich nicht das Geld dafür habe. Echte, ernste Panik, der erste Gedanke beim Aufwachen, der letzte beim Einschlafen. Jetzt wird mir noch das Einzige genommen, das ich habe, hatte, habe ich es doch bisher, mein ganzes Leben hindurch, geschafft, jedes, jedes neu erschienene Bob-Dylan-Album zu kaufen, selbst in den finsteren Zeiten der Insolvenz. Es ist unglaublich, was ich für eine Scheiße denken kann, fühlen kann. Wenn ich ganz übel drauf bin, fange ich darüber schlimmen Streit mit Eva an.

»Wenn es Ihnen eine Freude macht, sollten Sie sich das auch gönnen«, sagte Doktor Von zum Thema. Ich denke, ich habe die Leserinnen und Leser von meiner Ansicht überzeugt, dass diese Empfehlung angesichts meiner wahren Problematik unterkomplex ist, um nicht zu sagen: ignorant, und mir nicht weiterhilft, wenn das auch viel verlangt ist und ein verfehlter Anspruch.

Das göttliche Kind, dem alles zusteht und das Realität prinzipiell als Kränkung erfährt, saß mir oft im Ohr mit frechen Sprüchen: »Eine Freude gönnen! Ist ja wohl ein Witz! Und das sagt die, die dir für jede Stunde einen Betrag im Wert von vier Schallplatten abnimmt oder abzunehmen versucht!« In diesem Punkt stellte die Analytikerin den Zusammenhang nicht her, in einem anderen schon. Die Freude gönnen, ja, aber wie bezahlen?

Ein anderes Mal trieb mich Doktor Von in einen ähnlichen, schwer auszuhaltenden Konflikt, als sie sich in einem unserer hitzig geführten Geld-Dispute auf den Standpunkt stellte, wenn ich ihr Honorar schulde, könne ich Pia eben keinen Unterhalt schicken und den Kindern keine Weihnachtsgeschenke. Ich weiß nicht mehr, wie das ausging, wahrscheinlich bekamen Pia und Doktor Von kein Geld und die Kinder aber Weihnachtsgeschenke, weil ich immer zu feige war, die Kinder zu enttäuschen und mit der Realität zu konfrontieren.

Und einmal erzählte ich Doktor Von, dass Vinyl-Schallplatten heute wieder sehr gefragt seien und hohe Preise erzielten. Sie meinte daraufhin, dass ihr Plattenspieler schon lange kaputt sei und sie ihre Platten daher nicht mehr hören könne. Sie habe schon überlegt, sie zu verkaufen. Sofort hakte ich nach, ob ich – der Experte – mir die Platten mal ansehen könne, weil ich hoffte, dadurch einmal in ihr Arbeitszimmer vordringen zu können.

Daraus wurde nichts, doch ich wurde in anderer Hinsicht und völlig unerwartet belohnt: In einer der nächsten Stunden gab mir Doktor Von eine handgeschriebene Auflistung ihrer Platten mit und ich versprach, nach Wegen zu suchen, die Platten zu verkaufen. Das tat ich dann nie (warum eigentlich?) und sie kam auch nie mehr darauf zu sprechen. Die handgeschriebene Liste der Platten aber empfand ich als eine Art Aufschluss über ihre Person und legte sie gut ab in meiner Doktor-Von-Sammlung.

Aus der Sammlung der Psychoanalytikerin

Beethoven: Violinkonzert D-Dur, Opus 61

Beethoven: Erzherzog-Trio Klavier Nr. 7 B-Dur, Opus 97

Beethoven: Tripelkonzert

Beethoven: Appassionata, Mondschein, Pathétigue

Beethoven: Symphonie Nr. 9

Beethoven: 5. Klavierkonzert

Beethoven: Missa Solemnis

Schubert: Winterreise

Schubert: Interpret Pablo Casals

Schubert: sämtliche Pianotrios

Schubert: Wanderer Fantasie

Schubert: Duos für Violine und Klavier

Schubert: Am Brunnen vor dem Tore Schubert: Der Tod und das Mädchen Richard Strauss: Lieder Margaret Price

Dietrich Fischer-Dieskau singt Lieder von Strauss

D. Fischer-Dieskau, Strauss 1. Folge

D. Fischer-Dieskau, Strauss 3. Folge

Johann Strauss: Die Fledermaus

H. von Karajan spielt J. Strauss

Richard Strauss: Liederalbum

Strauss: Zarathustra Karajan

Gould plays Bach

J. S. Bach: Tripelkonzert

J. S. Bach: Christ lag in Todes Banden

J. S. Bach: d-Moll nach BWV 1060 und a-Moll BWV 1044 auf Originalinstrumenten

1. S. Bach: Violinkonzert a-Moll BWV 1041 / Nr. 2 E-Dur BWV 1042 / c-Moll BWV 1060

J. S. Bach: Brandenburgische Konzerte 1-3

J. S. Bach: Brandenburgische Konzerte 4-6 Menuhin spielt Bach, Beethoven, Mozart …

J. S. Bach: Armin Schoof an der kleinen Orgel in

St. Jakobi zu Lübeck

J. S. Bach: die zwei- und dreistimmigen Inventionen

Glenn Gould 1-15 BWV 772-801

C. Ph. E. Bach: vier Hamburger Sinfonien

C. Ph. E. Bach: vier Triosonaten

J. S. Bach: Sinfonien aus den Kantaten BWV 12021

J. S. Bach: Partiten 1-3 BWV 1002 / 1004 / 1006 /

Violine solo

Goethe: west-östlicher Divan Gedichte

Goethe: Über allen Gipfeln Lyrik 2. Folge

Thomas Mann: Tonio Kröger

Hugo v. Hofmannsthal: Jedermann

Ingeborg Bachmann liest I. B.

I. Bachmann: Die gestundete Zeit

Schoenberg: Gurrelieder

Schoenberg: Moses und Aron

Schoenberg: verklärte Nacht

Jessye Norman: Richard Strauss Lieder

J. N.: Richard Strauss vier letzte Lieder

J. N.: Wagner Wesendonck-Lieder / Vorspiel /

Liebestod Tu. I.

J. N.: Sacred Songs

J. N.: Negro Spirituals

J. N.: Schubert Lieder

J. N.: Händel, Schubert, Schumann

J. N.: Brahms Lieder, Gestillte Sehnsucht, Geistliches Wiegenlied

Herbert von Karajan spielt Strauss / Berliner Philh.

H. v. K. Beethoven Eroica

Maurizio Pollini: Karl Böhm

Mozart: Klavierkonzerte KV 488 / KV 459

Wiener Philh.

Mozart / Beethoven: Bläserquintette

Mozart: sämtliche Werke für Violine und Orchester

Mozart: Così fan tutte Wiener Philh.

Mozart: Es-Dur KV 365 / F-Dur KV 242-2

und 3 Klaviere

Mozart, Kozeluh, Weber: Fagottkonzerte Mozart: Flötenkonzerte G-Dur KV 313 / D-Dur KV 314

Mozarteum – Quartett Kaiserquartett

Haydn: Jagdquartett Mozart

Mozart: Zauberflöte

Mozart: Exsultate Jubilate

Mozart: Posthorn-Serenade Nr. 9, D-Dur KV 320

Mozart: Requiem KV 626

Mozart: die vier späten Symphonien

Mozart: Klarinettenkonzert KV 622, Fagottkonzert

KV 191

Mozart: Symphonien Nr. 32, Nr. 35 Haffner /

Nr. 36 Linzer

Mozart: Mass in C minor KV 427

Mozart: le Nozze di Figaro

Mozart: sämtliche Konzerte für Klavier

und Orchester

Wagner: Tristan und Isolde Furtwängler

Dann wird mir nichts geschehen sein

Was lässt mich immer weitermachen, was motiviert mich? Was lasst mich eben keine Anzeige in den Hi-Fi. schalten, wie man sie immer öfter findet: „Linn-System zu verkaufen, wegen altersbedingter Hobby-aufgabe.« Sind es wirklich die seltenen Momente des angeblichen Wohlklangs?

Oft fantasiere ich am angsterfüllten Morgen eines bevorstehenden anstrengenden, potenziell fürchterlichen Tages, dass ich abends oder spätestens nachts den Plattenspieler zum Drehen bringen und an der Verstärkerendstufe das grüne Dämmerlicht auslösen werde. Dann wird mir nichts geschehen sein. So weit, so gut. Um mal was Positives zu sagen.

Doch zu der freundlichen und entspannenden Magie des stoisch drehenden Plattentellers und der schwarzen Quader mit dem grünen Auge gehören auch der atem- und gnadenlose Geräte- und Markenfetischismus, das süchtige Verschlingen jedes Artikels, jedes Online-Eintrags, die nächtlichen Streifzüge im Internet nach den kleinsten Details dieser Produkte, nach Phonoplatinen mit geheimnisvollen Bezeichnungen wie NA 3235/K (K wie Karma, nicht zu verwechseln mit der S-Version) oder alternativen Gummifüßen dubioser Hersteller, die man auch unter die Geräte schrauben könnte – und alles, jedes noch so kleine Detail könnte der Durchbruch sein zum idealen Klang, geht mit einem Erlösungsversprechen einher.

Immer wieder Aufregung, Erregung, aber wenig Erfüllung. Wenn ich im Internet von den Hi-Fi-Seiten zu Porno-Seiten wechsle, fühlt es sich genauso an, viel Zeug, aber keine Erlösung. In der Psychoanalyse ließ sich dieses Thema nicht erörtern, weder konnte ich mir neuen Mut holen, das „Hobby« doch mal anders zu sehen, noch erhielt ich Ratschläge zur Entwöhnung.

Es ist auch ein verwirrendes Gestrüpp an Banalitäten, durch das man sich kämpfen muss, bevor überhaupt irgendetwas zu erkennen ist. Was ist dieses Hobby aus Sicht meiner Analytikerinnen? Ein am Ende vielleicht liebenswerter Spleen des Patienten, der zu seiner umfassend selbstquälerischen und partiell pedantischen Art passt, ihm vielleicht aber auch Entspannung und Ablenkung bietet? Würde man denn tatenlos zusehen, wenn das »Hobby« – das Plattensammeln und die Beschäftigung mit Hi-Fi – zum Trigger der Depression zu werden drohte, in Gefahr geriete, im großen Schwarz unterzugehen? Würde man dann, mit den Mitteln der Analyse, versuchen, es dem Krakenarm der Depression wieder zu entwinden, oder ließe man den Dingen ihren Lauf? Keine Antworten auf nicht gestellte Fragen.

Na ja, der Hi-Fi-Leidensweg, das wird hier schon so redundant wie die Klagegesänge des Blues mit ihren immer gleichen Strophen. Eventuell hat in der Zwischenzeit auch das Gehör nachgelassen. In ihrer kräftezehrenden Vergeblichkeit haftet der Leidenschaft natürlich etwas Beschämendes an, ganz ähnlich übrigens wie dem Projekt »20 Jahre Psychoanalyse«. Ein Lektor fand mein Buchprojekt dem Prinzip nach ganz interessant, allerdings stellte er es sich schwierig vor, wenn man hier auch noch die Geschichte des berühmten Magazins Tempo erzählen wolle, und fand den geplanten Titel »Mann auf der Couch. Was ich in 20 Jahren Psychoanalyse gelernt habe« eher abstoßend. Wie schlimm muss dann erst »40 Jahre Hi-Fi« sein!

Es zeuge doch eher, meinte er, von einer gewissen Einfalt, während eines Zeitraums von 20 Jahren (20 Jahren!) nicht einmal auf die Idee zu kommen, sich nach etwas anderem umzusehen. Er schrieb: »Und 20 Jahre Therapie, da denke ich mir: Hätte man da nicht nach fünf Jahren mal sagen müssen: Moment, das bringt jetzt nicht mehr so viel, ich such mir was anderes? 20 Jahre, das klingt eher nach einem sich ewig dahinziehenden Kaugummi. Außer man macht das richtig lustig. Woody-Allen-mäßig. Von vornherein.« Von vornherein.

Und dann passiert so was: Seit Tagen bin ich wieder gestresst von dem ganzen Quatsch. Finde unter 7.000 Platten keine einzige, die ich hören will. Nehme jede Platte, die ich dann doch auflege, absurde alte Sachen, auf die ich aufmerksam werde, wenn ich mich auf der Heimfahrt aus dem Büro in der U-Bahn auf dem Handy auf Audio- und Musikseiten umschaue, schon nach ein paar Minuten wieder runter, weil es scheiße klingt.

Und dann eben das: Ich lege Bringin It All Back Home von Bob Dylan auf. Seite 1: »Subterranean Homesick Blues“. Die Gitarre, die E-Gitarre, das Schlagzeug, das göttliche Geschrammle, Gegnidel, Gerumpel, das geniale Gekreische der Mundharmonika und der Gesang, der Text, das Gedicht: »Johnny’s in the basement Mixing up the medicine I`m on the pavement Thinking about the government.« Das steht alles im Raum, das nimmt sich den Raum, das ist luftig, laut, das atmet und pulsiert wie das Leben selbst, das ist Musik, von Menschen gemacht. Jedes Klanggetue erübrigt sich, gibt es nicht, sinnloses Gequatsche, aber nur dann, wenn es funktioniert. Dann erklärt es sich von selbst. Reinhören, aber nicht in „Audiophil“: https://www.youtube.com/watch?v=MGxjIBEZvx0

Was bietet mir diese Welt, was sperrt mich ein in ihr?

Gegen Bob Dylan zu sein ist übrigens auch sinnloses Gequatsche, erübrigt sich. Es ist eine alte CBS-Platte, ich habe zwei davon, eine noch von Pia, eine aus einer Erbschaft. Die Musik erfasst mich, ergreift mich, fast muss ich weinen. So ein Erlebnis ist beides: der Grund, mit dem Zeug aufzuhören, und genauso der Grund, weiterzumachen.Meine Gedanken kreisen immer um das Gleiche, kreisen es ein, aber das ganze System implodiert nicht, offenbar wird es ja noch gebraucht. Teils verfalle ich in einen ironischen Ton, den ich sonst verabscheue, weil er mich schützen soll, mich am Ende nicht völlig nackt dastehen lassen soll, mit meinem schmerzenden Körper, Rücken, Knie, am Boden kriechend, um einen Stecker zu reinigen, den ich in Verdacht habe, sich der Sünde der Klangverschlechterung schuldig zu machen. Schlimmer Stecker.

Österreich ist eine kleine Welt, in der die große Probe hält, sagte der Dichter Franz Grillparzer, mein lieber Vater Günther Nenning hat das oft zitiert, und dann ich auch. Das lässt sich gut übertragen auf die Bedeutung von Schallplatten und Hi-Fi in meinem seelischen Haushalt.

Eine kleine Welt, in der die große Probe hat, wenn das auch in den Psychoanalysen nicht entsprechend gewürdigt wurde. Was bietet mir diese kleine Welt, was sperrt mich ein in ihr? Beim Alkohol gibt es die Theorie, der Mensch unternehme mit dem Saufen einen Selbstheilungsversuch. Der Alkohol ist sein Medikament, hilft also gegen Schuldgefühle, Angst, solange er im Blut ist jedenfalls.

Wovon heilt mich also Hi-Fi, welchen Schmerz lindert es? Dem Vater näherkommen, hatten wir schon, weg von der Mutter, hin zum Vater. Die Einsamkeit vor mir selbst bemänteln, kultivieren, erträglich machen. Ich habe ja schon geschrieben, den Tätigkeiten rund um Plattensammeln und Hi-Fi kann man am besten allein nachgehen.

Das In-den-Plattenladen-Laufen, das Pflegen der Sammlung, das Herumschrauben am Gerät. Das Hören. Das Leiden, wenn man die falsche Platte geholt hat oder alles wieder scheiße klingt.

Auf der Plattform im Internet, die ich oft nutze, stand eine Umfrage, wie viele der Fans abends allein hören – es waren fast alle. Abgesehen davon, dass es, wenn es mit der Raumakustik dumm läuft, oft überhaupt nur einen einzigen Platz gibt, an dem es richtig gut klingt, an einem zweiten Platz im Raum klingt es schon nicht mehr. Allein sein an diesem platz bedeutet auch – was für mich eine Rolle spielt – einen Platz haben, sich einen Platz genommen haben.

„Wo sitzen Sie eigentlich am Familientisch?«, fragte mich die Familientherapeutin damals in München, mit meiner ersten Familie, vor der Trennung, als ich noch so tat, mich nicht trennen zu wollen. »Mal da, mal dort«, sagte ich, es stellte sich heraus, dass ich keinen festen Platz hatte. Das nahm sie natürlich psychologisch, ich müsse mir eben einen nehmen, den Platz des Vaters. Seit diesem Tag hatte ich an all unseren Tischen in all unseren Wohnungen, in München, in Hamburg, egal, wo wir waren, selbst in den Ferien, einen festen Platz, von den Frauen und Kindern, die damit auch ihren festen Platz gefunden hatten, unbestritten, von Besuchern oder Anverwandten oft verhöhnt. Also, das Hi-Fi-System gibt mir einen Platz.

Natürlich besteht die Hi-Fi-Welt aus gleich oder sagen wir ähnlich Gesinnten. Aber am Ende bleibt es ein misstrauischer Austausch unter einsamen älteren Männern, die man dann doch lieber nicht kennenlernt. Wer will schon was mit einsamen älteren Männern zu tun haben, die können sich eigentlich gleich umbringen, sagt Houellebecq, haben keinen Wert mehr am geschäftlichen und am sexuellen Markt, und das stimmt ja auch, sieht man an meinem Beispiel.

Wenn ich nach München auf die große Audio-Messe »High End« fahre, bin ich erschlagen von den Tausenden grauhaarigen, dickbäuchigen Rauten-Pullover-Trägern, es könnte auch eine Pornomesse sein, und wie total fremd sie mir sind oder ich ihnen. Dabei bin ich einer von ihnen.

Ironie ist hier verfehlt und am Ende auch eine Verlogenheit, nämlich das Vorgaukeln einer existierenden oder gewonnenen Reife. Trotzdem hilft sie mir, etwas Abstand zu gewinnen, doch der Spott und die Freude an der Denunziation machen mich auch einsam, Nestbeschmutzer. Wenn es dann mal hingeschrieben ist, gehe ich den Dingen wieder zwanghaft und völlig humorlos nach, also ist diesem Text auch besonders zu misstrauen, überblättern Sie die Seiten, ich sehe es Ihnen nach.

Es wird schon alles nicht stimmen, gehen Sie lieber mal davon aus. Allein aus fehlender Konzentration, denn auch während des Schreibens bin ich ständig abgelenkt, vom Umdrehen, Wegräumen, Hervorholen einer Platte und dem Reinigen des Tonabnehmers, vom Gucken ins Internet, ob es irgendeinen idiotischen (warum so brutal?) Internet-Eintrag gibt von einem Fan aus Vietnam, dem Land mit der aufstrebenden Audio-Szene.

Klar bin ich inzwischen mit mir selber ungeduldig, mein Kopf dröhnt schon von dem Unsinn, den ich hineinstopfe, in den Ohren saust und zischt der Tinnitus, wie das Ventil am Druckkochtopf meiner Großmutter, als hätte ich keine anderen Probleme, warum bestraft mich nicht mal jemand für meine sinnlosen, sündigen Gedanken, vielleicht würde mich das befreien.

Wenn der Pfarrer geil wird

Als ich zwölf, dreizehn war, hatte mich der Pfarrer im Beichtstuhl der Kirche in der Laimgrubengasse gefragt (und war sicher dabei geil geworden), ob ich schon an mir selbst sündig gewesen sei. Ich verstand damals nicht, was er meinte, aber die Möglichkeit faszinierte mich seit dem Tag. Auch heute kann ich noch sündig gegen mich selbst werden, wenn ich hinter eigenen oder vom Vater oder von wem auch immer gesetzten Ansprüchen zurückbleibe.

Es soll ja irgendwie lustig wirken, aber es wird sich sicher nicht jeder damit beschäftigen wollen, wie sehr ich das Thema Schallplatten und Hi-Fi als Passionsweg erlebe, wie Christus das Kreuz schleppe ich den Plattenspieler auf der rechten Schulter, in einer düsteren Welt von Schuld, Scham, Onanie, verbotenen Gedanken und Taten, als ein An-mir-selber-sündig-Werden.

Wie viel Lebensenergie, wie viel Libido würden frei, die ich jetzt im Hi-Fi-Wahn verschwende, wie glücklich könnte ich damit meine Kinder und Frauen machen, oder lässt sich das nicht so umleiten?

Jedenfalls ist mein Über-Ich nicht einverstanden mit dem ganzen Zeug und wie ich umgehe damit und verbündet sich auch mit allerhand Realitäten, die sich in Kontrast zu dem Unvernünftigen, dem Infantilen dieser Leiden schaffenden Leidenschaft erheben. Zum Beispiel mit der Realität des Geldes, das all die audiophilen Luxusprodukte kosten.

Auf der anderen Seite habe ich gelernt, dass ich da am interessantesten, am meisten »Ich« bin, wo ich mich nicht verstehe, düsteren Antrieben folge und dem Konflikt mit dem Über-Ich nicht ausweiche. Wäre ich nie schuldig geworden, hätte ich heute gar nichts. Keine Platten, keine Bücher, nicht die Geräte, die für mich immer mehr zu meinem eigentlichen Besitz werden, weil ich sie mir irgendwann mal erlaubt habe.

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