Ich, Fürst der Finsternis

Inspiriert vom MASCH-Lesekurs zu Sigmund Freuds „Das Unbehagen in der Kultur“, mit dem wunderbaren Michael Löbig, geht es hier heute wieder mal um Psychoanalyse – mit dem zweiten Teil eines Kapitels aus „Mann auf der Couch“, ab Seite 520 im Buch, mit dem Titel „Bringing It All Back Home”, nach dem Bob Dylan-Album von 1965. Gemeint war damit, dass ich nach vielen, vielen Seiten eher losen Herumschwätzens über die Psychoanalyse (Tilman Moser bescheinigte mir „fehlende Ernsthaftigkeit“) zeigen wollte, wo der Hammer hängt bzw. wo der Bartel den Most holt, also Antwort auf die simple Frage: Was soll das alles, mit der Psychoanalyse? Ob ich mich mit diesem Ausflug ins teils Wissenschaftliche überhoben habe, weiß ich nicht – auch ein Grund, den Text aus dem Buch hier noch mal vorzustellen.

Es geht, Ihr ahnt es schon, um Psychoanalyse und Depression, wie weit sie sich überhaupt zuständig fühlt dafür und wie der MAC das persönlich erlebt habt, natürlich auch, was es mit dem Begriff auf sich hat. Wenn die „Zuständigkeit“ der Psychoanalyse für „die Depression“ schon nicht eindeutig geklärt ist – der Kapitalismus fühlt sich allemal zuständig, in dem er Milliardenmärkte daraus macht. Auf zwei der Fotos zu diesem Blog geht es um das amerikanische „Big Pharma“-Produkt PROZAC (bei uns Fluctin), das 1993, schon kurz nach seiner Einführung, weltweit 1,2 Milliarden Dollar umsetzte. Es galt damals als etwas völlig Neues, eine Sensation, weil es erstmals durch Beeinflussung des Neurotransmitters Serotonin auf die Depression Einfluss zu nehmen versuchte. Durch die in Folge von Selbstmord-Fällen ausgebrochenen „PROZAC Wars“ brach der Hype dann ein, der Umsatz sank und die Serotin-These ist inzwischen widerlegt. Seit diesem Schock hat die konventionelle Psychotherapie wieder an Bedeutung gewonnen bei der Behandlung der Depression. Und wie es hier mit der Psychoanalyse steht, wie weit sie hier helfen kann, oder will, das wird im folgenden Auszug am Beispiel des MAC illustriert.

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Mit PROZAC wurde Depression in den 90ern Teil der Popkultur, heute ist sie wieder das unsichtbare, allgemeine Elend

Bringing It All Back Home

aus: Mann auf der Couch, textem Verlag, Hamburg 2021

Es ist Sonntag und ich habe das Gefühl, es geht nicht weiter. »Glauben Sie, dass Sie depressiv sind?«, hatte mich Doktor Von ein, zwei Mal gefragt, immer eher beiläufig, vielleicht auch ein Überraschungsangriff.

Ich antwortete nicht eindeutig, stammelte herum, meinte, falls ja, könne ja hier geholfen werden, dachte ich.

Vielleicht war es ja auch ein Motiv gewesen, ganz am Anfang, überhaupt in Therapie zu gehen.

Es stimmt, das Thema Depression, ich werde es nicht los, es begleitet mich mein Leben lang. Beide Großväter, die Mutter, der Vater, es kommt alles vor in der Analyse und damit auch in diesem Buch, litten unter Erscheinungen, die sich als Depression beschreiben ließen. Sie führten zu Zurückgezogenheit, jeder Menge Krankheiten, Alkohol- und Tablettensucht.

Für Doktor Von müsste damit offensichtlich geworden sein, dass ich damit eine Disposition mitbringe, so heißt es doch, eine Mischung aus Genetik, Stoffwechsel und gelerntem Verhalten, alles nur Annahmen und Theo-rien, ich weiß nicht, welche davon Doktor Von teilt. Bei Zwillingen heißt es, dass sie mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit die Depression teilen.

Frau Doktor Von beteiligte sich nie am Theoretisieren, ging nicht darauf ein, wenn ich es tat, und wechselte eher unerwartet das Spielfeld, als sie in dieser einen Analysestunde sagte:

„Sie wissen, dass es sehr gute Medikamente gegen Depressionen gibt. Soll ich Ihnen einen Psychiater aufschreiben, der kann Ihnen was geben.« Pause.

„Erinnern Sie mich das nächste Mal.« Pause. 

„Er ist in Eppendorf. Eppendorf, kennen Sie, ja?« 

„Ja, ich kenne Eppendorf, habe da auch mal gewohnt, am Hayns Park, wunderschöner Park.« Pause.

„Manche sagen ja, man kommt schwer nach Eppendorf. Zwei Mal umsteigen, nicht wahr?« Längere Pause.

„Ich fahre wahrscheinlich mit dem Auto.« 

„Ja, das ist was anderes.« 

Ich weiß nicht, ob es ein Dreh von Doktor Von war oder einfach ihre persönliche Art, aber ich begann diese leicht senilen, banalen Dialoge mit der Zeit zu schätzen, denn sie nahmen den Schrecken raus aus unangenehmen, heiklen Themen. Tatsächlich fand ich kurz darauf ohne Probleme den Weg mit dem Auto nach Eppendorf, hatte sogar Glück mit einem Parkplatz – und nahm den Termin dann doch nicht wahr, das habe ich weiter vorne schon mal erzählt, aber ich will jetzt auf was anderes hinaus.

Psychopharmaka waren mir unsympathisch, und worüber sonst sollte ich mit dem Psychiater reden, ich hatte ja meine Tante. Ich kannte meine Suchtgefährdung, vor allem aber hatte ich viel zu oft gelesen, dass Psychopharmaka die Libido dämpfen – und danach war mir gar nicht. Lieber depressiv und geil (ich kann beides gleichzeitig sein) als sediert und impotent. Also setzte ich weiter meine Hoffnung darauf, dass meine Depression, sollte ich überhaupt eine haben, bei Doktor Von in guten Händen war, und gab die soeben gefundene Parklücke kurz entschlossen wieder auf.

Ob sich die Psychoanalyse, meine Psychoanalyse, berufen sieht, Depressionen zu behandeln, ließ sich allerdings über all die Jahre nicht aufklären. Die Frage spielte kaum je eine Rolle, das Wort Depression kam im Analysezimmer so gut wie nicht vor. In der Literatur findet man, dass die Psychoanalyse zwar viele wertvolle Beiträge geleistet habe zur Beschreibung und Klassifizierung von Depression, aber keine zur spezifischen Behandlung, die über das hinausgingen, was Psychoanalyse in der Behandlung ohnehin bietet, wie die Arbeit mit Träumen. Sigmund Freud hat in Trauer und Melancholie (1917) einen Fall beschrieben, den man als eine akute und psychotische Ausprägung von Depression einordnen würde, ohne sich allzu große Gedanken zu einer speziellen Therapie zu machen.

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Freuds Schrift in deutscher und arabischer Ausgabe: Aus einer künstlerischen Dokumentation des Künstlers Olaf Nicolai zum 82. Todestag Sigmund Freuds in der “Bibliothek der Psychanalyse” des Sigmund Freud Museums, Wien

Das Wort Depression, ein stumpfes Schwert

»Trauer« und »Melancholie« scheinen mir auch Begriffe von ganz anderer Qualität zu sein, von größerer Tiefe, eher literarische Begriffe, die Grundkonstanten menschlicher Befindlichkeit beschreiben. Begriffe, die in einem selbst was zum Schwingen bringen, wenn man sie nur ausspricht oder hinschreibt. Offene Begriffe, aus denen sich vieles ergeben kann.

Dagegen wirkt das Wort Depression wie ein schweres, stumpfes Schwert, mit ihm sollen Trauer und Melancholie überführt werden in eine klinische Welt, um sie da nach standardisierten Verfahren mit Medikamentierungen behandelbar zu machen.

Moderner Depression haftet keine Spur des Wahnsinns oder der Verrücktheit mehr an. Moderne Depression hat auch keinen Anklang mehr an die eigensinnige Weltbetrachtung eines Melancholikers. Wer heute als depressiv diagnostiziert wird, entspricht in bestimmten Punkten nicht den Sollwerten einer Skala, die von einer Definitionselite von Wissenschaftlern, Technokraten und Marketingleuten ausgearbeitet werden. Die Depression als Ausdruck des Individuums findet hier keinen Niederschlag mehr.

In der Psychoanalyse geht es auch nicht um die Abschaffung von Trauer und Melancholie, sondern darum, wie man sie ins Leben integrieren kann. Wie sich Freud zu modernen Psychopharmaka gestellt hätte, weiß man nicht, doch ist eindeutig überliefert, dass er in allem, was er tat, dem Experiment nicht abgeneigt war. In das damals aufkommende Kokain setzte er große Hoffnung, es in der Behandlung einsetzen zu können. Er ließ sich vom Arzneimittelhersteller Merck, der begonnen hatte, Kokain aus der Coca-Pflanze zu extra-hieren, Proben für Selbstversuche kommen und empfahl sich seiner Verlobten Martha Bernay als »wilder Mann mit Kokain im Leib«. Den Patienten Fleischl-Marxow wollte er mit Kokain von der Opiumsucht heilen, der verstarb dann aber an einer Kokain-Überdosis.

Es war eine Zeit, als das Phänomen »Sucht« noch weit gehend unerforscht war. So lassen sich weder Freuds eigener Umgang mit Drogen noch die Vorstellungen, die er vielleicht heute über Risiken und Chancen moderner Psychopillen hätte, in der Gegenwart sinnvoll interpretieren. Der Begriff » Depression« setzte sich erst ab 1920 nach und nach durch und verdrängte erst ab 1940, mit der amerikanischen Wirtschaftsdepression um 1940, das Wort von der Melancholie. Freud und die klassische Psychoanalyse mit der heutigen Verwendung des Begriffs „Depression« in Verbindung zu setzen, führt daher immer zu semantischen Unschärfen.

„Nein, ich bin nicht depressiv, wenn es das ist, was du meinst«, sagte ich oft zu Eva, wenn sie sich wieder mal erkundigte. Mein Selbstbild hatte sich mit der Zeit dahin verschoben, dass mich die Psychoanalyse auf jeden Fall stabil halte und ich da eine Menge lerne, mit mir und anderen klarzukommen. Sicher mehr, als mein Vater oder die anderen depressiven Anverwandten je wussten. Disposition hin oder her, oder ganz mutig gesagt, Dispositionen sind eventuell ja auch dazu da, sie zu überwinden.

Mit ihrer Art, die allgemeinen theoretischen Themen eben nicht zu erörtern, hatte mich Doktor Von in einen ganz anderen Bezugsrahmen gestellt und mir auch gezeigt, dass die selbstheilende Kraft der Träume stärker ist als die Wirkung jeder Psychopille. Aus der Beschäftigung mit den Träumen ergab sich auch die Fähigkeit, seelische Vorgänge bewusst zu beobachten. Nach und nach begann ich, diese Methode auch auf Niedergeschlagenheit und Ängste anzuwenden, also auf das, was man Depression nennen könnte.

Wenn es nicht mehr weiter runter geht

Ich erlernte einen schwer erklärbaren „Trick“, die Traurigkeit nicht abzuwehren, sondern im Gegenteil zuzulassen und richtig auszukosten, sozusagen nicht ein bisschen traurig zu sein, sondern richtig, bis hin zum Weinen. Wenn dann keine Tränen kommen, kann das ein Zeichen sein, dass es nicht so schlimm ist, muss aber nicht, es gibt auch Traurigkeit ohne Tränen.

Ich bilde mir ein, dass der Vorgang körperlich spürbar wird: Im Gefäß des Körpers sinkt die Traurigkeit ab, sie verlässt den Kopf in Richtung Brust, Magen … bis sie einen Grund erreicht. Hier taucht noch ein anderes Bild auf: Ich als Kind und auch noch Jugendlicher und auch noch Mann, ich im Meer, und ich lasse mich in eine Tiefe, die mich vielleicht um 50 Zentimeter oder einen Meter überragt, hinabsinken, erreiche mit den Füßen den Grund und stoße mich ab. Hinauf. Viele Male hintereinander, bis zur Erschöpfung.

Ähnlich ist es jetzt mit der Traurigkeit in mir, sie erreicht einen Grund – »von dem es nicht mehr tiefer geht«, das ist der Hilferuf an die Seele. Die Traurigkeit kommt jetzt aber nicht als übles Gas hochgerülpst – nein, im Aufsteigen verwandelt sie sich in einen kreativen Impuls, in eine Idee, in etwas, das so stark und deutlich spürbar erscheint, dass es die Depression nicht nur beendet, sondern sie einfach vergessen macht. Ohne es bemerkt zu haben, ist man schon zur Beschäftigung mit dem entstandenen Impuls übergegangen. So hatte ich viele Ideen für Zeitschriften.

Eine weitere Fähigkeit, die ich in den letzten Jahren erworben habe, ist die, allein zu sein. Als junger Mann wurde ich wahnsinnig, wenn ich nur zwei Stunden allein sein musste. Heute kann ich es gar nicht lange genug sein. Ich kenne keine Langeweile, lese, lege Platten auf, räume rum, mache Dinge, zu denen ich sonst nicht komme. Werde ruhig, friedlich, entspannt, bin in einer anderen Welt.

Wenn Eva und die Kinder nach Hause kommen, fühle ich mich gestört, kann keine Auskunft geben, was ich gemacht habe in der Zeit alleine, und tue mich schwer, mich auf die neue Situation einzustellen. Meist habe ich auch keine Stimme mehr. Manchmal entsteht dann auch Streit.

Dass die Depression (ich sage jetzt doch Depression, erkläre gleich, warum) verschwindet, wenn man den Depressiven aus seinem sozialen Umfeld herausnimmt, ist auch in der Depressionsforschung evident. Bei einem Großteil der schwer Depressiven, die in der Klinik behandelt werden – die Forscher sprechen von einem »regressiven Milieu«, also einem Milieu, das einem nichts abverlangt – gehen die Symptome schon nach wenigen Tagen zurück. Werden die Patienten dann aber in ihre alten Strukturen entlassen, ist sie sofort wieder da.

So gesehen spricht mich meine neu erworbene Fähigkeit, gut allein sein zu können, nicht frei vom Verdacht, »depressiv« zu sein, eher im Gegenteil. Dass ich diese Fähigkeit gleich wieder schlechtmache, zieht noch mehr Verdacht auf mich: Denn ein Wesenszug des Depressiven ist die Selbstanklage und die Selbstentwertung, etwas, von dem dieses Buch Zeugnis ablegt. Egozentrische Verhaltensweisen und ständige Selbstanklagen hat übrigens auch Sigmund Freud als typische Symptome der » Depressiven« bezeichnet und da auch das Wort verwendet, das er sonst eher mied.

Wenn das Über-Ich angreift

Freud hatte für die Klagen des Depressiven eine faszinierende Erklärung. Er sagt, dass die Libido in das Ich zurückgenommen und die Objektlibido in narzisstische Libido umgewandelt wird. Das erklärt die egozentrische Verhaltensweise. Auslöser dafür ist ein drohender Verlust des Objekts. In einer regressiven Bewegung kommt es zur narzisstischen Identifizierung mit dem Objekt, dessen Schatten auf das Ich fällt, der nun an die Stelle des Ichs gesetzt wird. Der drohende oder eingetretene Objektverlust wird abgewehrt, indem er in einen Ich-Verlust umgewandelt wird. Die Vorwürfe gegen das Objekt werden nun Vorwürfe gegen das Ich. So erklärt er den quälenden Zustand der Depression, der durch die Attacken des Über-Ichs gegen das Ich zustande kommt.*

* Im letzten Absatz benutze ich wörtlich die Darstellung zweier psychoanalytisch orientierter Psychiater, Frank Matakas und Elisabeth Rohrbach. Ich hätte den Text vielleicht ein wenig »schöner« machen können, ein bisschen beweglicher im Ausdruck, weniger abstrakt – er hätte damit aber nicht an Verständlichkeit gewonnen. Meine Empfehlung ist, mit etwas Geduld abzuwarten, ob eine eigene Vorstellung entsteht. Matakas und Rohrbach beschäftigen sich mit dem Beitrag der Psychoanalyse zur Behandlung der schweren Depression und suchen nach Anwendungen in der Praxis, arbeiten Freud und den Altvorderen sozusagen ein wenig nach. Sie kämpfen damit auch gegen den schlechten Ruf an, den die Psychoanalyse im klinischen Bereich offenbar immer noch hat. Soeben noch, 2019, verlautbarte das Max-Planck-Institut für Psychiatrie: »Die nach ihrem Gründer Sigmund Freud benannte Psychoanalyse hat für die Behandlung schwerer Depressionen keine Bedeutung, obwohl dies bei Weitem immer noch diejenige Methode ist, für die am meisten Geld ausgegeben wird (75 % des Gesamtbudgets der Krankenversicherungen für therapeutische Einzelverfahren).«

Meine Beschäftigung mit der Depression war aus dem Konflikt aus dem Wunsch entstanden, die im Konflikt stehenden beiden Welten der heutigen »Depression« und ihrer Behandlung und der Psychoanalyse für mein Verständnis ein wenig auszusöhnen, um meine eigene Situation besser einordnen zu können. Einordnen ist für mich ja immer wichtig. Dass es eine Abgrenzung auch bei den Analytikern gibt, hatte ich hautnah bei Doktor Von erfahren, die »den Psychiater«, der »was verschreiben« könne, sehr distanziert erwähnt hatte und auch mit vielen anderen Bemerkungen erkennen ließ, dass sie die »Depression« als eine Art Paralleluniversum zum Geschehen im Analysezimmer ansah. Ähnlich der Alkoholsucht, die abgeheilt sein muss (und zwar durch wen anderes!), bevor die Analyse überhaupt beginnen kann.

Dass Doktor Von zu einer unerwartet positiven Einschätzung von Psychopharmaka kommt – »es gibt sehr gute Medikamente heute, das wissen Sie« – mag wie ein Widerspruch wirken, ist vielleicht aber nur ein unromantischer Pragmatismus: Egal, wie der Patient das macht, Hauptsache, er kommt hier ohne Depressionen an.

Die für den verdeckt Depressiven auch nach Einschätzung der Psychoanalyse typischen Verhaltensweisen wie Selbstanklage, Selbstabwertung, aber auch Abwertung des Gegenübers und von Objekten, Abwehr, Wut, Hass, Aggression können sich auf der Couch des Analytikers allerdings besonders gut entfalten, wie dies auch bei dem Patienten Michael Hopp der Fall war … Und sie machen es für den Analytiker nicht leicht, an den Patienten überhaupt ranzukommen, obwohl er vorgeblich so viel von sich preisgibt.*

* Matakas und Rohrbach berichten, bei einer Fortbildungsveranstaltung für Krankenschwestern in der Psychiatrie hätten die Teilnehmerinnen auf die Frage, was ihnen im Zusammenhang mit depressiven Patienten als Erstes einfalle, wie aus einem Mund geant-wortet: »Die reden nur von sich. Das ist typisch.«

Je mehr ich von dem Depressions-Zeug lese, desto mehr bilde ich mir ein, alles trifft auf mich zu. Ausgelöst wird die Depression von einem Beziehungskonflikt, der dem Depressiven die narzisstische Unterstützung entzieht, die Folge sind Selbstanklagen und Selbstentwertungen – in diese Richtung geht die aktuelle psychoanalytische Deutung der Depression, soweit ich das verstehe. Die Selbstanklagen, die Selbstabwertungen. Das Buch ist voll davon.

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Der grosse Schriftsteller Thomas Bernhard (1931 bis 1989) schützte sich vor Selbsthass, indem er auftrat, wie einer der hasst – und doch liebte. So sieht der MAC das jedenfalls

Klagen sind Anklagen, sagt Freud

Den Abschnitt über meine Zeit bei der Zeitschrift Tempo musste ich drei Mal schreiben, weil mich das selbst schockierte. Erst im Schreiben bemerkte ich, wie mein inneres Bild dieser Zeit wirklich ist. Die Frage ist, ob man sich damit so direkt offenbart oder eine andere Form sucht, Ironie, Sarkasmus, etwas »Schwarzes«. Wie Thomas Bernhard, der aggressiv-depressiv ist, immer aus einer Position der Stärke. Bei mir ist das anders. Vielleicht war das unverstellte, ungestaltete Aufschreiben ein Weg, die tiefe Verzweiflung, in der ich damals steckte, auch erstmals vor mir selbst sichtbar zu machen, als erster Schritt, sie zu überwinden.*

*»Was treibt den Melancholischen dazu, sein Ich zu quälen, statt das Ich des anderen zu quälen, der ihn enttäuscht hat? Im melancholischen Syndrom greift ein Teil der Subjektivität sadistisch einen anderen Teil der Subjektivität, das Ich, an, tritt als Kläger auf. `Klagen sind Anklagen‹, sagt Freud (GW X, S. 434).« 

Die reden nur von sich selbst, sagen die Schwestern auf der Psychiatriestation über die depressiven Patienten. Triff auf mich zu, und dieses Buch ist der Exzess. Der Verlust narzisstischer Unterstützung … Der Verlust von Doktor Von, die mich gerade in meiner Abwehr gegen vieles, was sie sagte, wie auch in der Abwertung ihrer Person durch mich gegen Ende der gemeinsamen Zeit über all die Jahre in Fasson gehalten hat. Und die Wut auf sie, als sie begonnen hat, diese Unterstützung zu entziehen, oder nicht mehr in der Lage dazu war.*

* »Befürchtet der Depressive zum Beispiel, dass seine Therapie bald zu Ende gehen könnte, macht er dem Therapeuten aggressiv Vorwürfe. Er verlangt von ihm, dass er die Verantwortung für das Wohlergehen oder bestimmte Angelegenheiten seines Lebens übernimmt und reagiert mit Wut, wenn er bemerkt, dass der Therapeut das nicht tut. Andererseits sucht der Depressive die Nähe eines Interaktionspartners, der dazu beiträgt, seine Depression aufrecht zu erhalten. Der Analytiker denkt daher, dass die Depression eine Abwehr ist. Es ist ja die Regel, dass der Patient seine neurotische Symptomatik loswerden will, aber auch viel dafür tut, damit sie erhalten bleibt. Die Depression ist auch dazu da, Beziehungskonflikte abzuwehren. Eine Ehefrau wird depressiv, um sich nicht mit der Tatsache konfrontieren zu müssen, dass ihr Ehemann sie verachtet. Hinzu kommt, dass die Depression ein Beziehungsmoment enthält. Sie soll vielleicht den Partner bewegen, Mitleid zu haben, oder bewirken, dass die Mutter, die mit Kindbettdepressionen daliegt, selbst bemuttert wird, oder das Liebesobjekt vertreiben. Die Klagen des Depressiven sind überwiegend Selbstanklagen, bzw. Selbstentwertungen. Doch erzählt er von seinen Beschwerden so, dass sich das therapeutische Personal aufgefordert fühlt, Vorschläge zu machen, wie die quälenden Symptome gelindert werden können. Ob diese Vorschläge nun realisiert werden oder nicht, solange die Depression andauert, ist die Antwort des Depressiven, dass das alles nichts nütze. Die Selbstentwertung verbindet der Patient mit einer Entwertung der Objekte. Mit den Selbstanklagen, so können wir Freud folgen, sind in der Tat Anklagen verbunden. Die Entwertung der Objekte führt aber nicht dazu, dass er sich von diesen abwendet, sondern ist im Gegenteil Anlass, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Sowohl die Ichbezogenheit wie die Klagen werden von dem Depressiven benutzt, im Kontakt mit anderen Personen zu bleiben. Er sucht die Nähe von Menschen, die sich mit ihm beschäftigen, erzählt ihnen, wie schlecht er sich fühlt, fragt danach, was er tun soll.Die positive Besetzung der Objekte scheint aufgegeben und der depressive Patient hat im Extremfall, also in der tiefsten Verstimmung, keine Beziehung, die ihm gut und wertvoll erscheint. Aber der Depressive gibt trotzdem seine Beziehungen nicht auf. Was will er von den anderen? In der Liebe wird dem geliebten Menschen die Regulierung der eigenen psychischen Prozesse überlassen. Aber zu Anfang einer Beziehung ist oft ungeklärt, was freiwillig ist und was von dem Partner an Unterstützung gebraucht wird, weil damit ein schwerwiegendes narzisstisches Problem gelöst werden soll. Oft genug ist Letzteres der Fall, der Partner ist nach einiger Zeit überfordert, und der Depressive realisiert enttäuscht die Vergeblichkeit seiner Hoff-nung. Er zieht alle positive Besetzung ab, weist selbst die Unterstützung des Partners, die ihm einmal so teuer war, ab und wird depressiv.«

Eva hat dem Bild von meinem Ich Bedeutung verliehen

Kommt mir alles bekannt vor. Der drohende Verlust von Eva, die mir tatsächlich narzisstische Unterstützung« entzieht, indem sie unser „Content House«, das in den vergangenen Jahren die große Bühne meiner Selbstdarstellung war, zum Einstürzen bringt. Sie beraubt mich auch der narzisstischen Illusion, ich sei sexuell noch potent. Die Freude am Alleinsein und die immer größer werdende Angst vor Anforderungen, die mein Über-Ich alarmieren, das mir dann den Schlaf raubt, aus Angst zu scheitern. Das aus der Paranoia folgende wirkliche Scheitern.

Vor Kurzem fragte mich Frau Busche, unsere Paartherapeutin, was ich denn an Eva so liebe, warum ich nicht loslassen könne. Ich sagte, nach längerem Nachdenken: “Das kann ich Ihnen nicht sagen.« Frau Busche ließ das unkommentiert. Vielleicht hat sie mich in eine Falle gelockt, denn meine Antwort ist typisch für den Depressiven, der die »positive Besetzung der Objekte aufgegeben hat«, Eva wäre dann das Bild gewesen, das meinem Ich Bedeutung verliehen hat.*

* »Freud führt weiter aus, dass der‹ (der Melancholische) oft ›zwar weiß, wen, aber nicht, was er an ihm verloren hat (GW X, S. 431). Zum Beispiel wird er sagen, dass für ihn das Leben keine Bedeutung mehr hat, weil er nicht mehr mit Ulrike zusammen ist; aber er kann nicht sagen, was an Ulrike derart wichtig war, dass nun, da er sie verloren hat, das Leben jeden Wert für ihn verliert. Freud spricht nicht explizit über das ›was‹, die ›Sache‹, die in der schweren Depression verloren gegangen ist (möglicherweise, weil es unmöglich in Worte zu fassen ist). Es scheint etwas zu tun zu haben mit dem narzisstischen Wert des ›wer‹ immer da verloren worden ist. Die schöne Ulrike zu verlieren, zerstört ihn, weil sie in gewisser Weise das Bild war, das seinem Ich Bedeutung verliehen hat. Mit anderen Worten, damit Trauer in Melancholie übergeht, muss man nicht nur etwas von Wert verlieren, sondern den Wert selbst. Das ist das wirkliche Objekt, das der Melancholische verliert. Kurz gesagt: Das Selbst ist für den Narzissten nur von Wert in Beziehung zu einem Wert-Objekt, und sobald dieser Wert ins Wanken gerät, verliert das Subjekt als Ganzes an Wert, wird zu nicht viel mehr als Abfall, den man loswerden muss.« (Frank Matakas, Elisabeth Rohrbach: Zur Psychodynamik der schweren Depression und die therapeutischen Konsequenzen, in: Psyche, 2005)

Was geschähe eigentlich, wenn ich mich mit der Figur des Depressiven identifizieren würde? Ich, Fürst der Finsternis, So verharre ich ja sozusagen in der Abwehr der Abwehr, es ist ja auffällig, wie die Merkmale auf mich zutreffen. In der Zeit mit Doktor Von beschäftigte ich mich auf diese Weise mit dem Thema Depression nicht.

Doktor Von stellte die Frage, ob ich depressiv sei, ich habe es bereits erzählt, ließ sie aber offen bzw. ihre Beantwortung mir. Ich beantwortete sie damals damit, dass ich aus der Parklücke beim Psychiater in Eppendorf rückwärts wieder rausfuhr. In gewisser Weise versuche ich die Beantwortung jetzt nachzuholen, auch mit diesen Zeilen.

Von verlieh der Frage keine besondere Dringlichkeit, soweit ich erinnere, kam sie nicht öfter als zweimal vor in zwölf Jahren. Sie zog sie dabei eher auf die Ebene meiner orthopädischen Probleme, als Angelegenheit eines guten Facharzt-Rezepts. Sie tat alles andere, als mich auf das Bild des Depressiven festzulegen. Das war, ich weiß es jetzt sicher, ihr größtes Verdienst. Sie gab mir damit eine Chance, da rauszukommen, oder gar nicht erst rein, egal. So viele Jahre, jede Stunde immer aufs Neue.

Das erfolgreiche Prinzip “Depression First”

Die Depression lässt sich gut als monokausales Weltbild nutzen, das einen letztlich von der Verantwortung entbindet, aktiv zu werden. Vor einiger Zeit kritzelte ich in der U-Bahn auf einen Zettel, wie ein System »Depression First« für mich aussähe:

Depression First – die Kausalität einfach umdrehen

Du bist nicht depressiv, weil Du kein Geld hast, sondern Du hast kein Geld, weil Du depressiv bist.

Es ist, wie wenn ich vor dem Plattenregal stehe, und finde keine einzige Platte, die ich hören möchte. Es liegt nicht an den Platten, es liegt an der Depression.

Es ist, wie wenn ich vor meiner Zukunft stehe, und ich finde keinen Weg, den ich gehen möchte. Es liegt nicht an der Zukunft und daran, dass es keine Wege gibt, es liegt an der Depression.

Beispiel Content House Depression in der Beziehung > Krise im Büro UND NICHT:

Die Beziehung ist im A., weil wir uns mit der Agentur übernommen haben

Beispiele aus der Familie, Hopp Opa, meine Mutter, mein Schwiegervater Helmut Frenz (war doch auch schwer depri; Kriegstrauma; 1 Auge verloren)

Altersdepression > Altersarmut

Die Menschen riechen, wenn du depressiv bist, und

wenden sich ab

Aber selbst wenn wir Depression weniger als Folge, sondern mehr als Ursache sehen, darf sie nicht der König sein, glaubt mir, dann lebten wir im Land der Depression.

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Abraham Lincoln (1809 bis 1865), 16. Präsident der USA, soll unter Depression gelitten haben. In die Richtung deutet das Zitat: “Ich bin nun der Elendste unter den Lebenden. Wenn die Menschheit erleben würde, was ich erlebe, dann gäbe es kein freudvolles Gesicht auf Erden.”

Viele politische Entscheidungen der letzten Zeit – von Donald Trump bis zu den neofaschistischen Clowns in europäischen Ländern – lassen sich ohnehin schon als Ausdruck völkerweiter kollektiver Depression verstehen, da sind wir aber in der Sphäre der Politik. Die Depression, auch die kollektive, diese Individuen ansteckende Seuche, diese schreckliche Krankheit unserer Zeit, politisch zu bekämpfen, da bin ich dabei. Das hat aber nichts zu tun mit individueller Melancholie oder Zuständen der Niedergeschlagenheit, auf die jeder ein Recht hat.

Woher hat das Wort »Depression« überhaupt seine ehrfurchtgebietende, furchterregende Macht? Warum macht man sich davor so in die Hose? Weil der Milliardenmarkt Psychopharmaka damit verbunden ist? Für Doktor Von, unterstelle ich mal, war Depression eine Art Modekrankheit, oder eine Arbeitshypothese, die erst mal noch nicht viel aussagt. Und die Quantifizierbarkeit von Merkmalen schafft zwar vielleicht Märkte, bringt es aber mit sich, dass der individuelle Ausdruck der Krankheit zu wenig gewürdigt wird. Insofern scheint mir das Vorgehen der Psychoanalyse zu sein, nicht auf Krankheitsdefinitionen zu starren, sondern auf das Individuum selbst.

Andere Modekrankheiten, wie das gerade noch international angesagte »Burnout«-Syndrom oder auch die»bipolare Störung«, oder »bipolare Störung Typ 2«, die in unserer Familie aufgetaucht war, kannte Doktor Von nicht und fand sie nicht interessant. »Sie können mir ja mal einen Artikel dazu bringen«, sagte sie zum Beispiel, als ich aufgeregt mit »Burnout« angelaufen kam, »aber Sie dürfen dann nicht enttäuscht sein, wenn ich nicht dazu komme, ihn zu lesen.« Haben Sie einen Traum mitgebracht?

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