Good News, was soll das?

Der MAC Blog und der MAC Book erfreuen sich zunehmender Leserzahlen, auch in Synergie mit dem ROTEN SALON HAMBURG. Darüber kann der MAC sich freuen. Doch vor zwei Wochen, am 15. März, gab es ein Ankündigungsposting bei Social Media, das dem Blog krass weniger Leser zutrieb, als das sonst der Fall ist.  Das Posting begann mit den zugegeben nicht originellen, nichtsdestotrotz die heutige Zeit trefflich beschreibenden, in versal geschrieben Worten: KLIMA, KRIEGE, KRISEN.  Erst ein Repost des gleichen Blog-Eintrags, allerdings mit einem lustigen Dagobert Duck am Bild und der Zeile „Der Kapitalismus wir so schnell nicht zusammenbrechen“ brachte die Trendwende und die Leserzahlen gingen wieder nach oben.
Schlechte Nachrichten kommen nicht immer gut an – das ist eine Erfahrung, die dem MAC aus seiner Tätigkeit als Journalist vertraut ist. Und es ist auch nachvollziehbar, dass ein Overload an schlechten Nachrichten, wie wir ihn heute haben, eher zur Depression und Apathie als kämpferischer Aktivität führt.
Deshalb dreht der MAC heute – nicht ganz ernst gemeint – den Spieß um und versucht Fundstücken und Meldungen zumindest einen positiven „Dreh“ zu geben. Wer dies bei dem Abschnitt über Eva Illouz und ihre Attacke auf Judith Butler im Zusammenhang mit dem Gaza-Krieg als zynisch empfindet, dem habe ich nicht viel zu erwidern. MH

Tiere, die sich befreien

Wenn sich schon die Arbeiter, die Facharbeiter, die Angestellten und die Wissensarbeiter nicht bewegen – könnten sich dann nicht Tiere als „revolutionäre Subjekte“ bewähren?  Schließlich sind sie in ganz exrtremem Ausmass Opfer der kapitalistischen Verwertungslogik. Wirkt bescheuert, ist aber doch ein bisschen was dran. Also, GUTE NACHRICHT!

In den Kulturwissenschaften, berichtet die Junge Welt,wurde erst ein Cultural Turn, dann ein Visual Turn und schließlich, in der Geschichtswissenschaft, ein Antimal Turn ausgerufen – zumindest im anglomerikanischen Raum sei das so. Dort gäbe es bereits komplette Animal Turn-Buchreihen, die Geschichte aus der Perpektive von Tieren bschreiben, die als Subjekte wahrgenommen werden. Der Trend habe 2003 begonnen, mit dem Werk des Historikers Jason Hribal, „Animals Are Part of the Working Class“, es folgten ähnliche Titel.  Ein neueres Buch von 2021 „Animal Resistance in the Global Capitalist Era“ handelt von Tieren, die aus Zoos oder Schlachthöfen geflohen sind. Während der Flucht bekamen sie Namen – etwa von Reportern, die eine Story witterten und meinten, wer so viel unternommen hat, um frei zu kommen, verdiene auch, am Leben zu bleiben. Rinder, Schafe, Ziegen, Affen, Kamele, Papageien, Hühner und Truthähne wurden so zu Subjekten, im Gegensatz zu armen, traurigen Kreaturen in Gefangenschaft.
Der MAC findet besonders schön die urmarxistische Metapher, die in all dem steckt: der Mensch wird erst im Kampf zum Subjekt – und bekommt einen Namen, wie es der unvergessliche Jim Croce einst mit „I got a Name“ zum eingängigen Countrysong gemacht hat.
Kühe auf der Flucht aus dem Schlachthof werden übrigens bei uns rechtsstaatlich von der Polizei erschossen. Die Gegenwart enthält übrigens noch weitere soziale Schicksale für Tiere: Als Klimaflüchtlinge, die aus für sie zu heißen Gegenden zu uns in den  Norden flüchten – und als Kriegsopfer. In der Ukraine und im Gaza-Streifen sterben täglich Tiere oder werden zur Flucht gezwungen.

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Wenn Menschen unter dem Krieg leiden, trifft es auch die Tiere

Scholz, der (k)ein Friedenskanzler ist

Kurz war es verführerisch, als Olaf Scholz in Medien zum „Friedenskanzler“ ernannt wurde. Die Art, wie früher linke oder linksliberale Medien wie taz, Zeit oder Spiegel das Nein von Scholz zu Taurus-Lieferungen geißeln und Scholz als „Defätist“, „Illusionist, „Schwächling“ oder „der Friedenskanzler, über den Putin lacht“ bezeichnen, kann einen schon auf die Seite des Kanzlers treiben.
Aber nur so lange, bis man nachgedacht hat.
Scholz und seine Regierung stehen unverändert für Milliarden-Investitionen in die Bewaffnung der Ukraine und brüsten sich täglich damit, von allen Europäern am meisten tödliches Werkzeug zu liefern. Immer wieder beschwört Scholz die unverbrüchliche Solidarität mit der Ukraine – „as long as it takes“ – und bedient damit das Ideologem, die Unterstützung der Ukraine sei gleich bedeutend mit der Verteidigung von Freiheit und Demokratie. Manche Kommentatoren unterstellen Scholz mit seiner „Haltung“ in der Schattendebatte über Taurus reine Wahltaktik. Seine am Tiefpunkt angelangte SPD möge dabei unter jenen ca. 60 Prozent der Deutschen punkten, die gegen eine Lieferung sind. Die Sehnsucht der Mehrheit der Deutschen, dass sich der Krieg nicht ausweiten möge, wird von den oben genannten Zeitungen als naiver Kinderwunsch abgetan. Es gibt keine Alternative zum Krieg sagen sie, genauso, wie es keine Alternative zum Kapitalismus gibt.

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André Heller mit Karl Valentin, dem Urheber des Reflektor-Festval-Mottos “Fremd ist der Fremde nur in der Fremde”

Heller, das Universal(ismus)-Genie

André Heller kennt der MAC seit den 70erJahren. Der MAC war damals ein aufgeregter junger Mann in Wien, der alles gut fand und bei allem dabei sein wollte, das anders war als das in der Familie. Und André Heller, damals noch „Andreas“ war anders, als er mit raunziger Stimme die Ö 3- Sendung „Musicbox“ moderierte und es wagte, die Beatles-Single „Get Back“ mit einer „Zitrone“ zu bedenken, als schlechteste Platte der Woche. (Heute betrachtet, hat er damit eigentlich nicht recht behalten, denn „Get Back“ ist doch ein toller Song, den man heute noch gut hören kann, oder?).
Als echter Fan suchte der 16jährige MAC auch die physische Nähe zu seinem Idol und wagte sich bis in den verruchten Club Vanilla, der mit einem interessant gemachten Plakat für eine Lesung von André Heller (erstmals André) warb, die er gemeinsam mit seiner soeben geheirateten, schönen Frau geben sollte, der Burgschauspielerin Erika Pluhar.
In den „Club Vanilla“ in einem Souterrainlokal in der Wiener Hegelgasse kam man nur rein über 18 und als Mitglied (dann mit Schlüssel!), beides kriegte der MAC irgendwie hin und saß dann mitunter viel zu früh am Abend da, vor einem Kännchen eines stark aromatisierten Tees, der im damals obligaten braunen Tongeschirr vor sich hin dampfte.
Es gab Gerüchte, dass das als unkonventionell geltende Betreiber-Pärchen des „Club Vanilla“ frühmorgens, für alle, die so lange ausharrten,  im Club zu Gruppensex-Parties einluden … Das beschäftigte die Fantasie des jungen MAC (wäre da auch Erika Pluhar dabei? Sicher!), der dann, unruhig geworden, bei seinem Kännchen Tee doch nicht so lange durchhielt und morgens in die Schule musste.
Später, der MAC war Journalist geworden, oder wollte es werden, kam es wirklich zu Begegnungen zwischen dem MAC und Heller. Der junge MAC wurde eingeladen in Hellers Hietzinger Villa, André Heller mischte auch mit bei der Neuen Freien Presse, bei der der MAC damals arbeitete, und einmal finanzierte er, auf Bitten des MAC, ein Plakat mit einem Motiv von Roland Topor (das er beigestellt hatte – denn er kannte schon damals praktisch alle Künstler der Welt persönlich), das ein schwules „Pfingsttreffen“ in Wien bekannt machen sollte.
Die Platten, die Heller zu der Zeit machte, fand der MAC großteils klasse, vor allem die berühmte erste (“André Heller, Nr.1”, mit dem „Lied an eine Schauspielerin“) und dann „Das war A.H.“, eine wienerisch morbide und supereitle Selbstinszenierung, allerdings mit einem sehr sicheren Empfinden, was  in Medium „Pop“ alles steckt.
Kurz darauf begann sich Heller, zuerst mit dem Circus Roncalli und dann mit Shows wie „Flic Flac“ oder „Begnadete Körper“ international zu profilieren als Impressario eines neuen, breitenwirksamen Varietés, mit viel Sinn für das Schräge und das Fantastische und immer sehr international besetzt mit Künstlern, die vielleicht nicht so bekannt, aber auf ihrem Gebiet Weltklasse waren – etwa dem Sesselfurzen, dem „“Windmachen“ oder „Kunstfurzen“, wie es Heller nannte.
Die Botschaft dieser Shows war über Jahrzehnte die immer gleiche, oft etwas zuckersüß vorgebracht: Habt Euch lieb, in all Eurer Verschiedenheit – etwas, das wahrscheinlich immer passt, aber, sehen wir gleich, in die heutige Zeit ganz besonders.
Der MAC hat nur wenig gesehen von diesen Shows, las aber Hellers oft beachtliche Romane und besuchte vor ein paar Jahren Hellers „Anima“-Garten in Marrakesch, der Gärtner war aber gerade persönlich nicht zugegen.

Kurz darauf, 2019, erschien Hellers vom MAC als absolut grauenhaft empfundene Platte „Spätes Leuchten“. Heller schien ihm alt und alterschwach geworden zu sein, ein Zustand, für den der MAC eine sehr feine Wahrnehmung hat, vielleicht, weil er ihn für sich so fürchtet.
Die Ankündigungen von Hellers, gerade beendetem,  Reflektor-Festival in der Hamburg Elbphilharmonie nahm der MAC schon fast nicht mehr wahr, klickte nur kurz das Ankündigungsvideo, in dem der schlohweiß gewordene Heller mit heiserer Stimme und für seine Verhältnisse unsicher in einem leeren Raum der Elbphilharmonie von der Macht der Phantasie und der Imagination spricht, wie immer schon, und wie wichtig das alles (und damit er) sei,  heute, gerade heute.
Business as usual, dachte der MAC.  Karten besorgte er sich nicht, weil er sich nie Elphi-Karten besorgt – der MAC ist dafür einfach zu arm, zu wenig organisiert oder hat auch nicht die Geduld, immer alles entsprechend durchzuarbeiten, selber schuld, wird so sein.
Als der MAC dann frühmorgens Social Media Posts fand, von der mit Worten wie „LIEBE“ groß beschrifteten  Elphi, schrieb er beleidigt an Eva: „André Heller hat sich die Elphi schon zu eigen gemacht mit seinem Hippie-Quatsch“ -naja, gekränkte Leberwurst halt.
Hippie-Quatsch? Hippie-Quatsch kann sooo toll und sooo wichtig sein, das weiß der MAC doch eigentlich. Denn das Reflektor-Festival, muss der MAC später am Tag in der Zeitung lesen, war eine wirklich eindrucksvolle und bedeutend-berührend Sache – alles in allem ben eine GUTE NACHRICHT.
„André Heller hat das vielfältige Programm zu seinen Ehren selbst kuratieren dürfen und ihm dabei ein Motto mitgegeben das von Karl Valentin stammt: `Fremd ist der Fremde nur in der Fremde.´ In einem Sketch führte der Münchner Satiriker die Bedeutung des Begriffs einst so aus: `Den meisten Münchnern ist das Hofbräuhaus nicht fremd – hingegen ihnen die meisten Museen fremd sind.´“
Im Musikprogramm, schwärmt Till Brigleb in der „Süddeutschen Zeitung“ weiter, sei Heller eine derartige Vielfalt  an Weltmusik gelungen, „dass alle abrahamitischen Religionen mit musikalische Gebeten vereint sind – etwa beim pakistanischen Qawwali, das der 1997 verstorbene Nusrat Fateh Ali Khan unter anderem durch die Zusammenarbeit mit Peter Gabriel und Massive Attack auch im Westen berühmt gemacht hat. Fareed Ayaz, Abu Muhammad Qawwal und ihre musikalische Bruderschaft zelebrierten diese stark rhytmische Call-and-Response-Musik, die im Sitzen mit Harmonium und Perkussion gespielt wird, als eine furiose Predigt der kurzen Melodien, bei dem sie die mehr als 2000 Besucher in der Halle häufiger dazu brachten, vielstimmig Allah zu besingen. Wahrscheinlich ohne, dass sie es bemerkten.“ (SZ vom 18. März 2024)
Ja, passt in die Zeit! Der MAC nimmt all sein Abgefucktsein zurück, falls das möglich ist. Jetzt, wo wir uns ganz und gar unzynisch auf die heilende Kraft eines „radikalen Universalismus“ besinnen wollen (soeben von Omri Boehm zur Eröffnung der Leipiziger Buchmesse beschworen) erscheint ihm der Wiener Impressario  André Heller als … Universal(ismus)genie!

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Judith Butler, Eva Illouz, zwischen ihnen ist das Tuch zerschnitten

Illouz, die Butler aus der Linken ausschließen will

Am 14. März war in diesem Blog eine Äusserung der US-Philosophin Judith Butler zu lesen. Die israelische Soziologin und Autorin Eva Illouz (“Gefühle in Zeiten des Kapitalismus – Adorno-Vorlesungen”) ist darüber entsetzt. Hier nochmal das Butler-Zitat, danach die Antwort von Illouz.

„Man kann unterschiedlicher Ansichten über die Hamas als politische Partei haben und darüber, was bewaffneter Widerstand ist. Ehrlicher und historisch korrekt wäre es, zu sagen, daß der Aufstand vom 7. Oktober ein Akt des bewaffneten Widerstands gewesen ist. Es war kein terroristischer Angriff und es war kein antisemitischer Angriff. Es war ein Angriff auf die Israelis. Der jüngste Aufstand kam aus einer Lage der Unterworfenheit und war gegen einen gewalttätigen Staatsapparat gerichtet. Man kann für oder gegen bewaffneten Widerstand sein, für oder gegen Hamas, aber lass uns die Sache wenigstens bewaffneten Widerstand nennen. Dann nämlich, können wir darüber streiten, ob wir denken, dass es richtig war, ob wir denken, dass die Hamas das richtige getan hat, oder ob es andere Strategien geben müsse.“

Judith Butler am 3. März 2024 auf einer Veranstaltung zweier linker, jüdischer Organisationen und des Debattenforums „Paroles d´Honneur“ in Paris.  Butler unterrichtet in Berkeley und ist eine weltweit einflussreiche Theoretikerin des Poststrukturalismus und der Queer-Theorien

Am 14. März antwortet die israelische Soziologin und Autorin Eva Illouz in einem Beitrag in „der freitag“  auf Judith Butler, eine Woche darauf, zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse, erneuert sie die Vorwürfe.

„Mehr als ein Jahrhundert lang hat der Feminismus   darum gekämpft, dass die Stimmen der Frauen gehört werden – und dass ihnen geglaubt wird. Es brauchte 100 Jahre des unerbittlichen Kampfes und den Tsunami von #metoo, bis Menschen begannen, die Nöte ernst zu nehmen, die durch sexuelle Belästigung und Vergewaltigung entstehen. Doch angesichts der unerhörten sexuellen Gewalt, die israelische Frauen durch Hamas-Kämpfer erlitten haben, angesichts der Berichte und Untersuchungen der New York Times, von Anwälten, Ärztinnen, NGOs, Journalistinnen und Bürgern, die alle von außerordentlicher sexueller Gewalt berichten, von Vaginalverstümmelung, blutverschmierten Frauenkörpern, mit Nägeln gefüllten Vaginas, abgerissenen und mit Messern abgeschnittenen Brüsten – was sagt uns Judith Butler angesichts all dessen? Auch angesichts der weltweit veröffentlichten Bilder einer jungen Frau, die getötet und unter den Sprechchören der Menge auf einer Straße in Gaza vorgeführt wird? Dass sie Beweise will. `Ob es Belege für die Behauptungen gibt oder nicht, die über die Vergewaltigung israelischer Frauen gemacht wurden´- skeptische Grimasse – okay, wenn es Belege gibt, dann beklagen und verurteilen wir das, keine Frage. Aber wir wollen diese Belege sehen.´ Die skeptische Miene, die Butler bei diesen Worten machte, ist wohl die gleiche, die ein Polizist vor 50 Jahren machte, als eine Frau versuchte, Anzeige zu erstatten, und er Beweise für die an diesen Frauen begangenen Gräueltaten verlangte, obwohl es bereits eine schwindelerregende Menge an Beweisen gab.
… Die Linke kann nicht auf der Seite derer stehen, die Homosexuelle von Dächern werfen, Frauen einsperren, sich über das wahllose Massaker an jungen Pazifisten freuen, die tanzten und das Leben feierten, sie kann nicht auf der Seite derer stehen, die den Völkermord an den Juden zum Programm haben. Die wahre Linke, die einzige Linke, ist diejenige, die die tragische Unlösbarkeit bestimmter Konflikte anerkennt, weil sie sich weigert, das Recht eines Volkes auf Kosten eines anderen zur verteidigen …
Die Linke, die echte Linke, zieht das zerbrechliche Versprechen unvollkommener Gerechtigkeit immer dem sicheren Hass betrügerischer Selbstgerechtigkeit vor.“ Ende des Zitats.
Schönheitsfehler des Textes: Das Leiden der Palästinenser ist mit „unvollkommener Gerechtigkeit“ ev. nicht angemessen beschrieben, oder ist das unfair zitiert? Der Krieg Israels wird als „grausam“ beschrieben, die Palästinenser seien davon „bedroht“. Mehr an ausgleichendem Bedauern ist nicht zu finden.

Eva Illouz, Warum Judith Butler keine Linke ist. Hier zitiert nach, der Freitag, 14. März 2024

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Kapitalistische Produktion als eine Beziehung, in die Menschen treten: Schleifraum für Metallstifte in einer Fabrik in Birmingham, Holzschnitt von 1851 (aus: Junge Welt, 9./10. März 2024)

Engels, der alles schön zusammenfasst

Gegenüber der naiv-revolutionären, einfachen Verwerfung aller frühern Geschichte, sieht der moderne Materialismus in der Geschichte den Entwicklungsprozess der Menschheit, dessen Bewegungsgesetze zu entdecken seine Aufgabe ist. Gegenüber der sowohl bei den Franzosen des 18. Jahrhunderts wie bei Hegel herrschenden Vorstellung von der Natur als eines sich in engen Kreisläufen bewegenden, sich gleichbleibenden Ganzen mit ewigen Weltkörpern, wie sie Newton, und unveränderlichen Arten von organischen Wesen, wie sie Linné gelehrt hatte, fasst er die neueren Fortschritte der Naturwissenschaft zusammen, wonach die Natur ebenfalls ihre Geschichte in der Zeit hat, die Weltkörper wie die Artungen der Organismen, von denen sie unter günstigen Umständen bewohnt werden, entstehn und vergehn, und die Kreisläufe, soweit sie überhaupt zulässig sind, unendlich großartigere Dimensionen annehmen. In beiden Fällen ist er wesentlich dialektisch und braucht keine über den andern Wissenschaften stehende Philosophie mehr. Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig. Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehn bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen – die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte.

Während jedoch der Umschwung der Naturanschauung nur in dem Maß sich vollziehn konnte, als die Forschung den entsprechenden positiven Erkenntnisstoff lieferte, hatten sich schon viel früher historische Tatsachen geltend gemacht, die für die Geschichtsauffassung eine entscheidende Wendung herbeiführten. (…) Der Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie trat in den Vordergrund der Geschichte der fortgeschrittensten Länder Europas, in demselben Maß, wie sich dort einerseits die große Industrie, andrerseits die neueroberte politische Herrschaft der Bourgeoisie entwickelte. Die Lehren der bürgerlichen Ökonomie von der Identität der Interessen von Kapital und Arbeit, von der allgemeinen Harmonie und dem allgemeinen Volkswohlstand als Folge der freien Konkurrenz, wurden immer schlagender von den Tatsachen Lügen gestraft. (…)
Die neuen Tatsachen zwangen dazu, die ganze bisherige Geschichte einer neuen Untersuchung zu unterwerfen, und da zeigte sich, dass alle bisherige Geschichte die Geschichte von Klassenkämpfen war, dass diese einander bekämpfenden Klassen der Gesellschaft jedesmal Erzeugnisse sind der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, mit einem Wort der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche; dass also die jedesmalige ökonomische Struktur der Gesellschaft die reale Grundlage bildet, aus der der gesamte Überbau der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie der religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweise eines jeden geschichtlichen Zeitabschnittes in letzter Instanz zu erklären sind. Hiermit war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewusstsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewusstsein zu erklären.
Mit dieser materialistischen Geschichtsauffassung war aber der bisherige Sozialismus ebenso unverträglich wie die Naturauffassung des französischen Materialismus mit der Dialektik und der neueren Naturwissenschaft. (…) Es handelte sich aber darum, diese kapitalistische Produktionsweise einerseits in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und ihrer Notwendigkeit für einen bestimmten geschichtlichen Zeitabschnitt, also auch die Notwendigkeit ihres Untergangs, darzustellen, andrerseits aber auch ihren innern Charakter zu enthüllen, der noch immer verborgen war, da die bisherige Kritik sich mehr auf die üblen Folgen als auf den Gang der Sache selbst geworfen hatte. Dies geschah durch die Entdeckung des Mehrwerts. Es wurde bewiesen, dass die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzognen Ausbeutung des Arbeiters ist; dass der Kapitalist, selbst wenn er die Arbeitskraft seines Arbeiters zum vollen Wert kauft, den sie als Ware auf dem Warenmarkt hat, dennoch mehr Wert aus ihr herausschlägt, als er für sie bezahlt hat (…).
Diese beiden großen Entdeckungen: die materialistische Geschichtsauffassung und die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittelst des Mehrwerts, verdanken wir Marx. Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nun zunächst darum handelt, in allen ihren Einzelnheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten.

Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Stuttgart 1894. Hier zitiert nach: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 20, Dietz-Verlag, Berlin 1968, Seiten 24-26

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