Der Zauber des Benennens – funktioniert er überhaupt?

Der MAC ist ein lebenslanger Fan von Grimm´s Märchen. Das war auch bei der Lesung vor kurzem in Wien zu beobachten, als er das Rumpelstilzchen in voller Länge zum Vortrag brachte, wie es auch im MAC abgedruckt ist. Und klar war es der beste Text am Abend, jedenfalls der mit der höchsten Wirkung. Es war still im Raum, nur der Parkettboden der Galerie „Kolonie 5“ knarrte, wenn einer der stehenden Zuhörer das Gewicht von einem auf das andere Bein verlagerte, oder was es gewesen sein mag. Schon nach den ersten Zeilen hatte der Text, der in der Form erstmals 1812 erschien, seinen Ursprung aber schon in der Bronzezeit vor 6.000 Jahren hat, seine hypnotisierende Wirkung entfaltet und es saßen nicht nur Sentimentale im Publikum. Da sage jemand, man soll alte Bücher wegschmeissen! Märchen wirken wie ein Medikament, wie eine Droge. Und es kann nie schaden, sich dieser Wirkung auszusetzen.

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Rumpelstilzchen live in Wien am 12. Oktober – die Wirkung nicht verfehlt

Für alle, die nicht in Wien waren, ist der Originaltext des Märchens hier nochmal wiedergegeben. Danach gibt es noch ein paar leicht überarbeitet Absätze aus dem „Mann auf der Couch“, die beschreiben, wie der MAC über das immer-wieder-Vorlesen des Märchens vor seinen Kindern nach und nach die unheimliche Macht erkannte, die das Rumpelstilzchen bis heute über sein Leben hat.

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Als die Müllerstochter um ihr Leben keinen Rat wusste – Illustration von 1889

Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Nun traf es sich, dass er mit dem König zu sprechen kam, und um sich ein Ansehen zu geben, sagte er zu ihm: »Ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen.« Der König sprach zum Müller: »Das ist eine Kunst, die mir wohlgefällt; wenn deine Tochter so geschickt ist, wie du sagst, so bring sie morgen in mein Schloss, da will ich sie auf die Probe stellen.« Als nun das Mädchen zu ihm gebracht ward, führte er es in eine Kammer, die ganz voll Stroh lag, gab ihr Rad und Haspel und sprach: »Jetzt mache dich an die Arbeit, und wenn du diese Nacht durch bis morgen früh dieses Stroh nicht zu Gold versponnen hast, so musst du sterben.« Darauf schloss er die Kammer selbst zu, und sie blieb allein darin.

Da saß nun die arme Müllerstochter und wusste um ihr Leben keinen Rat: sie verstand gar nichts davon, wie man Stroh zu Gold spinnen konnte, und ihre Angst ward immer größer, dass sie endlich zu weinen anfing. Da ging auf einmal die Türe auf, und trat ein kleines Männchen herein und sprach: »Guten Abend, Jungfer Müllerin, warum weint sie so sehr?« – »Ach«, antwortete das Mädchen, »ich soll Stroh zu Gold spinnen und verstehe das nicht.« Sprach das Männchen: » Was gibst du mir, wenn ich dirs spinne?« – »Mein Halsband, sagte das Mädchen. Das Männchen nahm das Halsband«, setzte sich vor das Rädchen, und schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war die Spule voll. Dann steckte es eine andere auf, und schnurt, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war die zweite voll: und so ging’s fort bis zum Morgen, da war alles Stroh versponnen, und alle Spulen waren voll Gold.

Bei Sonnenaufgang kam schon der König, und als der das Gold erblickte, erstaunte er und freute sich, aber sein Herz ward nur noch goldgieriger. Er ließ die Müllerstochter in eine andere Kammer voll Stroh bringen, die noch viel größer war, und befahl ihr, das auch in einer Nacht zu spinnen, wenn ihr das Leben lieb wäre. Das Mädchen wusste sich nicht mehr zu helfen, da ging abermals die Türe auf, und das kleine Männchen erschien und sprach: »Was gibst du mir, wenn ich dir das Stroh zu Gold spinne?« – »Meinen Ring von dem Finger«, antwortete das Mädchen. Das Männchen nahm den Ring, fing wieder an zu schnurren mit dem Rade und hatte bis zum Morgen alles Stroh zu glänzendem Gold gesponnen. Der König freute sich über die Maßen bei dem Anblick, war aber noch immer nicht Goldes satt, sondern ließ die Müllerstochter in eine noch größere Kammer voll Stroh bringen und sprach: »Die musst du noch in dieser Nacht verspinnen: gelingt dir’s aber, so sollst du meine Gemahlin werden.« – Wenn’s auch eine Müllerstochter ist, dachte er bei sich, eine reichere Frau finde ich in der ganzen Welt nicht. Als das Mädchen allein war, kam das Männlein zum drittenmal wieder und sprach: »Was gibst du mir, wenn ich dir noch diesmal das Stroh spinne?« – »Ich habe nichts mehr, das ich dir geben könnte«, antwortete das Mädchen. »So versprich mir, wenn du Königin wirst, dein erstes Kind.« Wer weiß, wie das noch geht, dachte die Müllerstochter und wusste sich auch in der Not nicht anders zu helfen; sie versprach also dem Männchen, was es verlangte, und das Männchen spann dafür noch einmal das Stroh zu Gold. Und als am Morgen der König kam und alles fand, wie er gewünscht hatte, so hielt er Hochzeit mit ihr, und die schöne Müllerstochter ward eine Königin.

Über ein Jahr brachte sie ein schönes Kind zur Welt und dachte gar nicht mehr an das Männchen: da trat es plötzlich in ihre Kammer und sprach: »Nun gib mir, was du versprochen hast.« Die Königin erschrak und bot dem Männchen alle Reichtümer des Königreichs an, wenn es ihr das Kind lassen wollte: aber das Männchen sprach: »Nein, etwas Lebendes ist mir lieber als alle Schätze der Welt.« Da fing die Königin an zu jammern und zu weinen, dass das Männchen Mitleiden mit ihr hatte: »Drei Tage will ich dir Zeit lassen«, sprach es, »wenn du bis dahin meinen Namen weißt, so sollst du dein Kind behalten.«

Nun besann sich die Königin die ganze Nacht über auf alle Namen, die sie jemals gehört hatte, und schickte einen Boten über Land, der sollte sich erkundigen weit und breit, was es sonst noch für Namen gäbe. Als am andern Tag das Männchen kam, fing sie an mit Kaspar, Melchior, Balzer und sagte alle Namen, die sie wußte, nach der Reihe her, aber bei jedem sprach das Männlein: »So heiß ich nicht.« Den zweiten Tag ließ sie in der Nachbarschaft herumfragen, wie die Leute da genannt würden, und sagte, dem Männlein die ungewöhnlichsten und seltsamsten Namen vor: »Heißt du vielleicht Rippenbiest oder Hammelswade oder Schürbein?« Aber es antwortete immer: »So heiß ich nicht.« Den dritten Tag kam der Bote wieder zurück und erzählte: »Neue Namen habe ich keinen einzigen finden können, aber wie ich an einen hohen Berg um die Waldecke kam, wo Fuchs und Has sich gute Nacht sagen, so sah ich da ein kleines Haus, und vor dem Haus brannte Ein Feuer, und um das Feuer sprang ein gar zu lächerliches Männchen, hüpfte auf einem Bein und schrie: »Heute back ich, morgen brau ich, Übermorgen hol ich der Königin ihr Kind; Ach, wie gut ist, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß!«

Da könnt ihr denken, wie die Königin froh war, als sie den Namen hörte, und als bald hernach das Männlein hereintrat und fragte: »Nun, Frau Königin, wie heiß ich?«, fragte sie erst: »Heißt du Kunz?« – »Nein.« – »Heißt du Heinz?« – »Nein.« – »Heißt du etwa Rumpelstilzchen?«-

»Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt«, schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, dass es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei. 

Quelle: aus einer der unzähligen Ausgaben von Grimm´s Märchen, deren erste  1813 bei Verleger Georg Andreas Reimer in Berlin erschienen ist.

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Illustration von Walter Crane, englischer Illustrator aus Liverpool, 1845-1915

Das Buch Mann auf der Couch wird nicht abgeschlossen sein können, bevor ich auf das Märchen Rumpelstilzchen der Gebrüder Grimm zu sprechen gekommen bin. Die Geschichte von der Müllerstochter, die für den König Stroh zu Gold spinnen muss, wobei ihr ein böser Zwerg hilft, der dafür aber ihr erstes Kind als Opfer fordert.

Märchen sind bildgebende Verfahren für die Seele

Als Kind konnte ich mit dem Rumpelstilzchen nicht so viel anfangen, vielleicht, weil es für einen kleinen Buben keinen rechten Einstieg über Identifikation anbietet. Die Müllerstochter tat mir zwar leid, aber ich wollte nicht sie sein (das sollte sich später ändern). Dass das Rumpelstilzchen über die Jahre und Jahrzehnte trotzdem zum wichtigsten Märchen meines Lebens werden sollte, rührt weniger aus meiner Kindheit her, als aus meiner Zeit als Vater. Mit Bruno Bettelheims Kinder brauchen Märchen hatte sich bis in das letzte Kinderarztwartezimmer die Einstellung gegenüber Märchen gewandelt. Schon lange vorher hatte vor allem die Psychoanalyse nach C. G. Jung neben Archetypen und Mythen auch mit Märchen zu arbeiten begonnen, die sie sowohl von ihrer Entstehung wie auch von ihrer Wirkung als Bilder der Seele auffasst, als bildgebendes Verfahren sozusagen, das innere Vorgänge sichtbar und damit besprechbar werden lässt. In ihrer Mehrdeutigkeit und oft auch Unverständlichkeit ähneln Märchen ja auch stark den Träumen, dem anderen Arbeitsmaterial der Psychoanalyse, ja sind ihnen in ihren Ursprüngen vielleicht sogar verwandt.

Ich begann, zuerst Tom, dann Amelia und Kati und später auch Philipp, Tonti und T. – also nach und nach all meinen Kindern und damit auch über viele Jahre – intensiv Märchen vorzulesen. Dabei entwickelte sich, schon bei Tom, Rumpelstilzchen, zum Hit; bei den weiteren Kindern in unterschiedlicher Ausprägung. Ich erinnere mich aber daran, dass Tonti stark darauf reagierte. Aber was heißt, sie reagierte stark? Eher war es doch so, dass ich es war, der das Rumpelstilzchen immer wieder anbot, weil es mich mit jedem Lesen mehr in einen Zustand der Erregung und der Ergriffenheit versetzte, nur mit belegter Stimme schaffte ich es bis zum Schluss.

In der Aufdeckung des Namens liegt die höchste Bedeutung

Das Raten der Namen gegen Ende – »Heißest du Kunz?« -»Nein.« – »Heißest du Heinz?« – »Nein.« – deklamierten wir dann schon im Chor oder mit verteilten Rollen, ergänzten den Originaltext durch immer neue Namen – »Heißest du Franz?« – »Heißest du Ferdinand?« bis zu »Heißest du Donald?« – »Heißest du Furzpopo?« – und skandierten schließlich im Chor »Heißt du etwa Rumpelstilzchen?« in mehrmaliger Wiederholung. Das war der Höhepunkt, unübertrefflich, die Klimax, die kultische, ekstatische Wiederholung in gesteigerter Form, eine Art Orgasmus, der Vater mit seinen Kindern, so eine Art Psycho-Reenactment, immer wieder, kurz vorm Einschlafen, wir nannten es Vorlesen.

»Heißt du etwa Rumpelstilzchen?« – in diese Aufdeckung des Namens legte ich die allerhöchste Bedeutung und riss die Kinder mit in diesen Sog. Den weiteren Verlauf, wenn das Rumpelstilzchen im Schock, enttarnt zu sein, »Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt« ausruft, bevor es sich in der Mitte entzweireißt, gestaltete ich als Antiklimax, mit leiser, ruhiger, fast schon verebbender Stimme, als wäre der auf die Aufdeckung folgende Selbstmord (wenn auch im Affekt, »vor Wut«) das Normalste von der Welt und auch die geeignete, irgendwie aussöhnende Vorstufe zum Gute-Nacht-Kuss, der gleich darauf folgen sollte. Das alles tat ich viele Jahre, auch schon, als ich in Psychoanalyse war, völlig unbewusst. Das Kinderzimmer war mir ein geschützter Raum, in dem ich mich gehen ließ und mich selbst zum Kind verwandelte. Ich merkte dabei lange nicht, welche Macht das Rumpelstilzchen über mich ausübte.

Hier warten der Scharlatan und der Nichtskönnern in den Kulissen

Bei Doktor Von und Doktor Zu wollte ich natürlich auch über das Rumpelstilzchen sprechen, ich glaubte ja zu wissen, welche Bedeutung Märchen bei den Jungianern hatten, und ich sah die beiden als »Jungianer« an, weil ich das schicker und spannender fand. Es war kein besonderer Erfolg. Doktor Zu in München empfand die Beschäftigung mit dem Märchen und welche Rolle es in der Erziehung der Kinder spielte als »schön und interessant«. Dagegen lies Doktor Von, mit listig und auch immer etwas amüsiert blinzelnden Augen, nur ein »So, so« vernehmen, wie wahrscheinlich immer, wenn ich mich in dubiosen Erklärungen und Interpretationen verlor, die nur von mir ablenken beziehungsweise die Zeit in der Stunde vorübergehen lassen sollten.

Trotzdem, das Rumpelstilzchen ist aus meinem Leben nicht wegzudenken. Zwar noch nicht als Kind, aber als vorlesender Erwachsener hatte ich meine Identifikation in dem Märchen gefunden, eine Identifikation, die so stark war, dass sie mich blind machte für das Schicksal vor allem des Rumpelstilzchens – ich war zur Müllerstochter geworden, die durch den magischen Deal in die Lage versetzt wird, Stroh zu Gold zu spinnen – das von meiner Oma maßlos und aus Eigennutz überschätzte Stroh in meinem Kopf zum Gold bewunderter Texte und Artikel zu spinnen. Hier gehen wir ganz an den Anfang meines Schreibens, hier wird meine ganze Scham/Schuld-Ge-schichte aktiviert, hier warten der Scharlatan und der Nichtskönner in den Kulissen, dem Talent und Fähigkeit nur geliehen sind, und zwar auf Grund eines Deals, der ihn erpressbar macht.

Im Märchen würde die Müllerstochter, die inzwischen dank Rumpelstilzchens heimlicher Spinn-Dienste vom König geheiratet worden war, in der Sekunde die Gunst des Königs verlieren, wenn sich herausstellte, dass sie Stroh gar nicht in Gold verwandeln kann. Und auch ich würde alle Liebe und alles Ansehen verlieren, wenn sich herausstellt, dass mein Talent nur geborgt ist. Das ist das, was ich täglich fürchte. Als Eva und ich vor zehn Jahren auf der Suche nach einem Namen für unser Büro waren, stand Stroh zu Gold ganz oben auf der Liste der Möglichkeiten. (Inzwischen hat Eva tatsächlich eine Agentur dieses Namens gegründet, Anm. MH)

Die Müllerstochter ist das Kleine, Ängstliche in mir

Eva kannte meinen Rumpelstilzchen-Komplex und fand, dass man es auch positiv sehen kann, ein Gedanke wie »Was ist so schlecht an Stroh, vielleicht kann ich ja auch wirklich was in der Zwischenzeit«, ginge in meinem Rumpelstilzchen-Komplex unter. Ich denke, als ich damals, ganz am Anfang, unter Omas Fuchtel zu schreiben begann, tat ich es schon als Müllerstochter – und bin es heute noch, in meinem ängstlichen, kleinen inneren Selbst. Auf die Perspektive der Müllerstochter fixiert ist auch mein Blick auf den Schluss des Märchens, wenn ich mich schadenfroh und hinterhältig freue, dass das Rumpelstilzchen enttarnt wird, die Müllerstochter (übrigens gar nicht selbst, sondern durch erschwindelte Dienste der Häscher des Königs) den Namen herausfindet, das Rumpelstilzchen benennen kann und damit unschädlich macht.

Auch dieses Motiv ist für mich wie eine Schallplatte, die hängen bleibt, und ich habe gelähmte Beine und kann nicht aufstehen, um den Tonarm zu heben – weil ich noch bis vor Kurzem bis zum Umfallen an den Zauber des Benennens geglaubt habe. Benennen beim Schreiben, alles muss in Worte verwandelt werden, damit es seinen Schrecken verliert, nie darf etwas sprachlos bleiben. Und in der Analyse und der Faszination daran: Was an Komplexen, an Ängsten, an Unverständlichem an sich selbst benannt werden kann, ist schon so gut wie weg, behoben, geheilt. Ich erinnere mich, dass ich diese These schon bei Doktor Von anbrachte, und heute verstehe ich, dass sie sie nicht der Rede wert fand.

Oder vielleicht sah sie nur, dass ich noch weit davon entfernt war, mich aus der Opferrolle zu lösen, und dass dies noch Zeit brauchen werde, bis ich beginne, Verantwortung zu übernehmen, und aufhöre, es mir leicht zu machen und nicht an die wirklich wunden Punkte zu gehen.

(aus: Mann auf der Couch, ab Seite 121)

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