Der unheilbare Riss

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Für Freunde des Marxismus, zumindest für solche, die so geprägt sind wie ich, ist Kohei Saito eine Lichtgestalt, denn er bringt mit seinem vor kurzen in deutscher Übersetzung erschienen Buch „Systemsturz“ den Marxismus wieder auf die Bestseller-Listen. Klar gibt es Marxisten, die gerade das argwöhnisch macht, aber zu denen gehöre ich nicht. „Saito ist ein smarter Typ“, sagt eine befreundete Verlegerin, „der spricht auch ganz andere Leute an, als Marxisten sonst erreichen.“ 

In Japan, nicht gerade dem Heimatland des Marxismus, soll Saitos Buch mit 500.000 verkauften Exemplaren ein Bestseller gewesen sein. Saito ist Associate Professor für Philosophie an der Universität Tokio, promoviert hat er allerdings an der Humboldt Universität in Berlin und ist da vielleicht jeden Tag an der goldenen Karl Marx-Inschrift im Foyer vorbeigegangen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“

Brückenschlag zwischen Ökologie und Marxismus

Es ist dunkel, aber nicht ganz finster. Ich stehe am Ufer eines reißenden Flusses. Ich will, ich muss ihn überqueren, auf dieser Seite kann ich nicht bleiben. Auf dieser Seite des Flusses ist Ödland, alles verbraucht, hier kann ich nicht weiterleben. Aber es soll ja eine andere Seite geben, ein anderes Ufer. Doch das ist nicht zu erkennen.

Was ich unangenehm intensiv geträumt habe gestern Nacht, beschreibt zunächst vielleicht nur eine persönliche, innere Not – das Bild symbolisiert aber auch die emotionale Verfassung der Gesellschaft insgesamt, die  unter dem Eindruck des Klimawandels mit dem Kapitalismus am Ende ist (die Ressourcen sind verbraucht), aber kein anderes Ufer, keine Perspektive, keine Alternative zum gegenwärtigen, zerstörerischen Wirtschaften erkennen kann. So bleibt nur eine  lähmende Angst, mit allen bösen Folgen.

Dem Buch von Saito kommt das immense Verdienst zu, all diesen Verzweifelten zumindest einen Fingerzeig zugeben. Die Ermutigung, die von „Systemsturz“ ausgeht, liegt allein in dem Versuch, eine Gesellschaftsform zu skizzieren, die mit gegebenen Ressourcen, im Einklang mit der Natur, Wohlstand für alle schaffen kann. Wer versucht das denn heute? Die politischen Parteien zu eng mit dem System verflochten, um an solchen Alternativen arbeiten zu können, weshalb sie zu Recht an Vertrauen verlieren. Und auf der Linken gibt es schon seit langem zu wenige wirkmächtige Denker, die Auswege aus dem Kapitalismus zeigen können.

Als Mitherausgeber der Marx-Engels-Gesamtausgabe ist Saito ausgewiesener Marxist, was ihm auch in dogmatischen Kreisen zu Aufmerksamkeit und Akzeptanz verhelfen mag – und für die weitere Theoriearbeit sicher hilfreich ist.Das Tolle an dem Buch ist aber, dass es in einer Weise geschrieben ist, die keinerlei marxistisches Fachwissen voraussetzt und auch für all jene, die bisher nichts davon wissen wollten, die Bezugnahme auf den Marxismus nachvollziehbar begründet.  „150 Jahre haben Marx´Anschauungen vor sich hingeschlummert“, schreibt Saito selbstbewusst im Vorwort, „ich möchte sie neu entdecken und weiterentwickeln“, mit dem Ziel, „Fantasie und Vorstellungskraft zu befreien, damit wir im Zeitalter der Klimakrise eine bessere Gesellschaft erschaffen.“  Als Quelle des Erkenntnisgewinns empfiehlt Saito, Marx heute aus dem Blickwinkel der Klimadiskussion zu lesen – etwas, das er getan hat und das heutigen Lesekreisen sehr anzuempfehlen ist, wenn es sich nicht ohnehin ergibt.

Mit Marx gemeinsam hat Saito dessen Hang zum stellenweise redundanten Immer-wieder-Erklären, was dem Buch aber auch eine dem „Kapital“ verwandte Qualität gibt, als es auch zum Lehr- oder Handbuch taugt, mit vielen gut beschriebenen Kapiteln, die auch in sich verständlich sind. „Was machen Sie eigentlich gegen die Erderwärmung“ lautet der erste, tonangebende Satz,der den Leser toll abholt und ins Saitos in Bau befindliches Theoriegebäude lockt, in dem schlüssig nachgewiesen wird, dass der Kapitalismus die Ursacheder drohenden Klimakatastrophe ist – und dass ein Weiterleben auf diesemPlaneten nur in einem nicht-kapitalistischen System erfolgen kann. Ideologien, wonach sich mit neuer Technologie Wachstum von der CO2-Emission entkoppeln ließen, verweist er ins Reich der Illusionen bzw. der dahinter versteckten, klassischen kapitalistischen Exploitation – wie im Falle der Elektro-Mobilität, für deren „Klima-Vorteil“, den wir hier in Anspruch nehmen, die Armen und Ärmsten im globalen Süden bezahlen.

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Kohei Saito, geboren 1987, unterrichtet Philosophie in Tokio und hat in Berlin promoviert

Der Kapitalismus hat keine Pause-Taste

In der Herleitung geht Saito bis an die Anfänge des Privateigentums im 17. Jahrhundert, als die vorkapitalistischen Commons oder Allmenden mittels Einhegungen aufgelöst wurden und durch Privatbesitz verdrängt. Damit wurde das Prinzip der Verknappung etabliert, die bisher allgemein zugänglichen Güter der Landwirtschaft verwandelten sich in Waren. In diesem Zusammenhang ereignete sich übrigens auch der Sündenfall der Industrialisierung in England, die sich untrennbar verband mit dem fossilen Brennstoff Kohle und die Alternative Wasser beiseite ließ. Der Grund: Kohle lässt sich besser verknappen als Wasser, der punktuelle Abbau lässt sich besser kontrollieren – in ihrer ewigen Knappheit eignet sich Kohle ideal als Ware. Saito weist anschaulich nach, wie die Ausbeutung der Natur Hand in Hand geht mit der Ausbeutung des Menschen und wie überall, wo durch Ausbeutung der Natur Reichtum entsteht, im selben Ausmaß Armut und Verelendung steigen.

Die Alternative, die Saito vorschlägt, wäre ein Degrowth-Kommunismus, eine Gebrauchswertwirtschaft, die sich in der Produktion wie in der Konsumation von der kapitalistischen Überflusswirtschaft radikal abwendet. Den Akzelerationismus wie den „Luxus-Kommunismus“ lehnt er ab, weil hier die Systemfrage nicht gestellt wird und so getan wird, als könne via Wahlen im demokratischen System so viel Druck erzeugt werden, dass beim Kapitalismus kurz auf die Pause-Taste gedrückt wird – um nach irgendwie überstandener Klimakrise wieder fröhlich weiter zu machen.

Saito bemüht sich sehr den Nachweis zu erbringen, dass Marx der Vater des Degrowth-Kapitalismus sei und belegt an Hand noch wenig bekannter, in den letzten zwei Jahren vor seinem Tod entstandenen Notizen, seine Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, die zur Abkehr vom „Produktionismus“ der früheren Jahre geführt habe. Die Idee, die sich ständig entwickelnden Produktivkräfte des Kapitalismus würden später auch im Sozialismus genutzt, wich bei Marx der Erkenntnis: „Wenn man von Produktivkräften spricht, will man damit den Grad der Herrschaft des Menschen über die Natur, den Grad der Beherrschung der Natur kennzeichnen.“  Saito greift „Marx´Stoffwechseltheorie“ auf, in der es heißt, die unbegrenzte Wertsteigerung des Kapitals sei von den ursprünglichen Kreislaufprozessen der Natur entfremdet und führe letztlich zu einem „unheilbaren Riss“ zwischen Mensch und Natur.

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Marx-Notizen aus den 1860er Jahren: Aus den “Exzerptheften”, die er als Exilant im Londoner British Museum anfertigte

Ist Marx jetzt auch der Übervater der Ökobewegung?

Ich weiss nicht, ob Saitos Herleitungen und seine Quellenlage reichen werden, das „missing link“ zwischen Ökologie und Marxismus zu bilden, aber es fragt sich, ob der Quellen-gestützte, lupenreine Nachweis überhaupt notwendig ist – angesichts der Offensichtlichkeit der gezeigten Zusammenhänge. An mancher Stelle hätte man Saito mehr Mut gewünscht, in der Theoriebildung selbst voranzugehen, statt sich in der Anstrengung zu verlieren, Marx nun auch zum Übervater der Ökologie zu erklären.  Warum wäre es nicht zu ertragen, wenn Marx, ein Denker des 19. Jahrhunderts, nicht alles klitzeklein und mit fertiger Theorie vorhergesehen hätte, was uns 200 Jahre später beschäftigt?

Mit Marx sagt Saito, dass die Arbeit das Bindeglied zwischen Mensch und Natur ist und der Kern zu Veränderung in der Änderung der Produktionsverhältnisse liegt, ganz wesentlich in deren Zielen. Was wird produziert? Wieviel? Und wie Marx sagt er, dass der gewünschte Überfluss einer künftigen Gesellschaft nur erzeugt werden kann, wenn die erwirtschafteten Werte bei den Produzenten selbst bleiben und nicht als Mehrwert für die Akkumulation von Kapital abgeschöpft werden. Doch obwohl Saito historisch den negativen Einfluss des Privateigentums auf die Entwicklung einer Gesellschaft zeigt, hat er für die heutige Zeit auf die Frage nach dem Eigentum keine rechte Antwort: Auf Seite 217 schreibt er etwas überraschend, die „Besitzfrage ist nicht das grundlegende Problem“.

Wie das gemeint ist, müsste vielleicht noch ausgeführt werden. Ansonsten gilt, man kann darüber streiten, ob Saito mit seiner Version des Degrowth-Kapitalismus schon der große Wurf gelungen ist, aber Richtung und Methode stimmen und „Systemsturz“ ist in seiner breiten Ansprache jetzt schon ein einzigartiges Werk.  Wir brauchen, zwei, drei, hundert Saitos! Und wir dürfen nicht vergessen, Kohei Saito ist 36 Jahre alt. Er hat noch Zeit.

Kohei Saito: Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus, dtv Verlag, 2023, 25 Euro

1 Kommentar zu „Der unheilbare Riss“

  1. Man muss ergänzen, dass Saito bei Weitem nicht der erste ist, der einen Zusammenhang zwischen Marx und Ökologie herstellt. U.a. John Bellamy Foster ist da zu nennen, der schon im Jahr 2000 “Marx’s Ecology” veröffentlicht hat. Das Thema lässt uns anscheinend nicht los…

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