Das milde Lesen

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Frank Schäfer, Das wilde Lesen, Deutsche Literaturgeschichte(n), edition kopkiosk im Andreas Reiffer Verlag, Meine 2023

Lieber Frank Schäfer!

Darf ich mich vorstellen, ich bin Inhaber (Herausgeber, wie sagt man das?) dieses Blogs, der sich auf mein vor zwei Jahren erschienenes Buch „Mann auf der Couch“ bezieht. Ich bin 67 Jahre alt und habe eine langen Weg als Journalist und Chefredakteur hinter mir, die letzten 15 Jahre mit einer Content-Agentur im kommerziellen Bereich. Politisch bin ich geprägt von dem,  was man früher „Neue Linke“ nannte und habe in diesem Umfeld auch meine Ausbildung als Redakteur und Verlagskaufmann erhalten. Heute bin ich Mitglied der MASCH (Marxistische Abendschule in Hamburg) und helfe mit, das Werk von Karl Marx lebendig zu halten. Ich bin in Wien geboren und lebe heute in Hamburg.

Eine lange Vorstellung wie diese ist irgendwie lähmend (ev. nur für mich, weiß ich jetzt nicht), sicher aber immer auch eitel, hat aber in dem Fall den Vorteil, dass sie ein paar Koordinaten setzt, die zu Ihrem schönen Buch „Das wilde Lesen“ hinführen, das sich als  eine Art Literaturkanon versteht, als ein „Gegenkanon“, steht am hinteren Klappentext. Ich bin 11 Jahre älter als Sie und in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts politisch und literarisch sozialisiert. Ich weiß nicht, für wie bedeutend Sie diesen Unterschied halten. Ich habe an so was auch nicht gedacht, als ich eine Rezension von „Das wilde Lesen“ in der taz las, die sich mit Überschrift und Foto auf Bommi Baumann bezog, einen der Autoren, die Sie in Ihren Kanon aufgenommen haben. Es war also Bommi Baumann, der mein Interesse an Ihrem Buch geweckt wurde, sicher in Verbindung mit dem Titel „Das wilde Lesen“. Den Autor Frank Schäfer kannte ich noch nicht.

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Bommi Baumann (1947-2016), Mitbegründer der Bewegung 2. Juni, wurde im Februar 1982 von Scotland Yard in einem besetzten Haus im Londoner Stadtteil Hackney verhaftet. Er schrieb das Buch „Wie alles anfing“, das Autor Frank Schäfer in seinen „Gegen-Kanon“ „Das wilde Lesen“ aufnahm

Ich freute mich richtig, als das Rezensionsexemplar ankam (vielen Dank, lieber Andreas Reiffer Verlag, meiner Rezensentenpflicht komme ich hiemit nach) und begann noch am gleichen Abend zu lesen. Außer Bommi Baumann fand ich im Inhaltsverzeichnis noch Namen wie Bernward Vesper, Wolf Wondratschek, Ror Wolf, Carl Weissner oder Jörg Schröder die meiner Erwartung an ein „wildes Lesen“ entsprachen, mit anderen konnte ich nicht so viel anfangen oder fand, beim näheren Nachlesen, die Zusammenstellung von historischen Größen wie August Böttiger, Ernst Dronke oder Hermann Ungar mit heutigen Stars wie Studio Braun und Heinz Strunk für einen „Kanon“ doch etwas beliebig. Im Vorwort wird das „wilde Lesen“ definiert als Leseerlebnisse mehr oder weniger jenseits des Mainstreams, abseits der „begradigten, flurbereinigten Lesewege“, das mag auf jemanden fast unentdeckt gebliebenen wie Wolfgang Welt zutreffen, eher nicht aber auf Heinz Struck, der heute einer der verlässlichsten Bestseller-Autoren ist.

In der Zwischenzeit hatte ich den Baumann-Text gelesen und fand ihn schon okay. Es steht nichts drin, was nicht schon bekannt wäre, aber auch nichts Falsches. Der Text hat keine Haltung, keine Meinung, das fällt auf, ist in einer Art öffentlich-rechtlichem Ton verfasst, der niemandem wehtut. Die Pointe am Schluss, „Wie alles begann“ sei ein so bedeutendes Stück, dass man es – obwohl eine Interpunktion nicht stattfindet! – als Reclam-Band herausbringen müsse, wirkt  dann schon etwas bildungsbürgerlich – ein Vorwurf, der vielleicht ins Leere zielt, immerhin soll hier ein Kanon aufgebaut werden, und Kanonisierung bedeutet ja nichts anderes als Überführung in den bürgerlichen Gebrauch.

Lieber Frank Schäfer, was ist nochmal mit dem „wilden Lesen“ gemeint? Baumann und Vesper sind da Ausreißer (obwohl Sie ihnen in Ihren Texten das „Wilde“ schnell abräumen), sofern man „wild“, wie ich es intuitiv täte, mit einer Erfahrung, mit der Gesellschaft in Widerspruch zu geraten, in Zusammenhang brächte, oder zumindest mit dem unangepassten Leben der Autoren. Beides kommt in Ihrer Auswahl vor, aber nicht als durchgängiger Zusammenhalt.

Was „wild“ bei Ihnen nicht bedeutet, ist klarer zu erkennen – auf keinen Fall ein eigenes wildes, unangepasstes, widerständiges Schreiben, denn Ihre Texte mögen supersauber gearbeitet sein, „wild“ sind sie an keiner Stelle. Dort wo Aufregung war, soll wieder Harmonie einkehren, am Ende wird alles gut.  Ein guter Junge, hätte er nur etwas weniger Lithium genommen, so rufen SieWolfgang Welt nach und ich will gar nicht unterstellen, dass das nicht gut gemeint ist.

Die ruhige, souveräne Präsentation der Texte in Ihrem Band finde ich gut, dass bibliographische Hinweise auf die besprochenen Bücher fehlen, weniger, aber es gilt der Hinweis, das findet man im Internet. Das Gefühl, dass sich beim Lesen einstellt, dass es sich um journalistische Arbeiten handelt, bestätigt sich mit dem „Textnachweis“ auf Seite 234, der angibt, in welchen Medien die Texte zuerst erschienen waren. Ich hatte beim Lesen die längste Zeit geglaubt, sie seien exklusiv für das Buch entstanden. Dass der Band ein „Best Of“ ihrer Autorenkarriere ist, hat mich dann doch etwas enttäuscht, zumal es die Klappen- und Verlagstexte verschweigen. Eventuell reicht, was ihnen als Journalist vor die Flinte gekommen ist über die Jahre, für einen „Kanon“ dann doch nicht aus.  Könnte sein.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit dem Band, der mir am Ende doch viel Freude gemacht hat – und mich dazu angeregt, meinen eigenen „Wilden Kanon“ aufzustellen. Vielleicht gefällt er Ihnen ja auch!

Mit freundlichen Grüßen, Michael Hopp

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Kanon kommt von Kanone

Welche Bücher den MAC in den 70er-Jahren geprägt haben

A.S. Neill, Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung, Rowohlt Verlag, 1969

Damit hat in der Schule alles angefangen. Wir begannen jetzt, die Lehrer zu erziehen

Wilhelm Reich, Der sexuelle Kampf der Jugend, Raubdruck, 1932

Unverzichtbar, um die ersten Triebregungen mit Bedeutung zu legitmieren

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Theo van den Boogaard, Anne und Hans kriegen ihre Chance, Melzer Verlag, 1973

Wieder Sex und Aufstand, als pornographischer Comic, war auf dem Index, beim MAC als Raubdruck immer zu haben

Robert Crumb, Fritz The Cat, Brumm Comix, 1971

Die Anti-Mick-Maus. Sex und Anarchie, arbeitsscheuer Kater wird zum Bombenleger

Günter Amendt, Sexfront, März Verlag, 1970

Hier wurden wir aufgeklärt und mit unserer Sexualität bekannt gemacht – in antikapitalistischer Grundhaltung

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Kursbuch 37, Verkehrsformen II Emanzipation in der Gruppe und die Kosten der Solidarität, Kursbuch/Rotbuch Verlag 1974

Der Aufsatz „Die Homosexualität in uns“ von führte zur Gründung der Schwulenbewegung in Berlin

Timothy Leary, Politik und Ekstase, Volksverlag, 1982

LSD sollte über die Wasserleitung verteilt werden, interessanter Vorschlag!

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Das Tibetanische Totenbuch, Walter Verlag, 1969

Auf dem Hardcover-Umschlag schnitten die Dealer im Café Savoy ihre Haschisch-Platten mit einem heissen Messer in kleinere Stücke

Che Guevara, Bolivianisches Tagebuch, Kiepenheuer und Witsch, 1969

Fritz Fanon, Die Verdammten dieser Erde, rororo Taschenbuch, rororo aktuell, 1969

Es gibt Kolonailismus und Rassismus, Vorwort von Jean Paul Sartre

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Karl Marx, Das Kapital, Band I, Dietz Verlag, 1928

Immer wieder angefangen, heute noch am fertiglesen

Peter Handke, Die Angst des Tormanns vor dem Elfmeter, Suhrkamp Verlag, 1970

Sprache ist etwas, mit dem viel zu machen ist

Elfriede Jelinek, wir sind lockvögel, Baby

Bernward Vesper, Die Reise, März Verlag, 1977

Literatur als rauschhafte Erfahrung

The Beatles, Songbook, dtv Verlag, 1971

Diese tollen Fotos, die die Songs illustrieren – von Alan Aldrige

Bob Dylan, Tarantula

Das musste man nicht versehen, nur HABEN

Hunter S. Thompson, Fear and Loathing in Las Vegas, Zweitausendeins Verlag, 1974

Das hat mich beim Schreiben ermutigt

Tom Wolfe, The Right Stuff, Bantam Books, 1979

Reportage als Roman, ewiges, unerreichtes Vorbild

Carlos Castaneda, Die Briefe des Don Juan, Fischer Tachenbuch Verlag, 1971

Als wir auch noch mystisch wurden

Joseph Conrad, Herz der Finsternis, Diogenes Verlag, Original von 1902

Erst nach der Verfilmung „Apocalypse Now“ von Coppola gelesen, aber dann

Raymond Chandler, alle, Diogenes Verlag

Glaube nicht, dass jemand schreiben kann, der die Übersetzungen von Hans Wollschläger nicht gelesen hat

Patricia Highsmith, Der talentierte Mr. Ripley, Diogenes Verlag, ab 1961

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