Colafläschchen, Paddeln und Marx lesen

Zwei voll gepackte Taschen, reisefertig am Bett des Reha-Zimmers, glotzen mich an am Abreisetag: Wo sollen wir eigentlich hin in Hamburg? Und was willst du da tun? Ich bin runter von den Tabletten und nicht mehr in Watte gepackt. Dass die Sonne warm strahlt, spüre ich wieder auf der Haut, aber auch die negativen Sachen kommen stärker an. Dass das Spiel zu Ende ist, Abpfiff. Dass ich ein paar Dinge übersehen habe. Aber heute ist der Himmel blitzblau über Niedersachsen, der Fahrer nach Hamburg ein netter Mann. Ich sitze wie ein zu großes Kind auf der Rückbank des Kombis, in meinem Reha-Beutel kein Tagesplan, sondern zwei kleine Flaschen Mineralwasser, zwei Äpfel und eine Tüte Colafläschchen von Haribo, mein Gott, wie gut organisiert bin ich plötzlich! Das Gespräch, mein Gott, wie bin ich gesprächig geworden, ergibt schnell, auch der fahrende, nette Mann ist ein Fan von Gummibärchen, der allerdings immer wieder versucht hat, sich die Sucht abzugewöhnen. In freudiger Übereinstimmung teilen wir die Erfahrung, dass Gummibärchen, aber eigentlich nur die Colafläschchen, eine ganze Mahlzeit ersetzen können, weil sie den Magen auf eine bestimmte Art versiegeln. Ich verleite den Fahrer zum Rückfall und packe ihm immer drei oder vier Fläschchen auf die offene Handfläche, die er akrobatisch gedreht und aufgeklappt in die hintere Sitzreihe streckt, wie den Greifarm eines Roboters aus dem Teleskop-Gelenk. Im Stil des Genießers genehmigt er sich die Fläschchen jeweils auf einen Schwung. Die Welt ist okay. In Hamburg angekommen, nehme ich mit meinen Taschen den Lastenaufzug in die Wohnagentur und Eva empfängt mich, die knapp vor mir gekommen ist. Die Sonne fällt schräg durch das Fenster, durch das man auf eine kleine Terrasse klettern kann, und zeichnet eine streng abgegrenzte Trapezform aus Licht auf den Holzboden, alles wirkt ganz arglos. Die Pflanzen wirken gesund und gut genährt in den drei Wochen, in denen ich weg war. Man sieht der Agentur nicht an, dass sie gerade pleite gegangen ist. Abends gehen wir zur Feier meiner Rückkehr in ein Restaurant in St. Pauli, und lesen auf einer Denkmal-Tafel, dass es das Haus ist, in dem die Beatles untergebracht waren, als sie 1960 nach Hamburg kamen, in Stockbetten.

Eva bittet mich, weiter Texte für ihre Reisebuch-Reihe zu schreiben, wie ich es schon während der Reha getan hatte. Kurze, anschauliche Texte, die ein bestimmtes Feeling mit Serviceinformation verbinden, es geht um „Wasserwege“ in und um Hamburg, Ziele zum Paddeln oder „SUP“-Fahren um Alster und Elbe in Hamburg, und außerhalb Hamburgs wie die Plöner Seen oder der Segeberger See. Etwa 30 solcher Texte sind für mich zu machen. Da ich das wenigste aus eigenem Erleben kenne, ist viel Recherche und Einfühlung gefragt. Zunächst tue ich mir schwer, komme mit zu viel Ambition an und bin immer ums Doppelte zu lang, dann bekomme ich die kleine Form ganz gut in den Griff, merke aber auch, dass ich keine eigene Sprache zur Beschreibung von Flora und Fauna habe. Ich schreibe: „Wir schrecken auf vom Trompeten der Kraniche, wenn sie Sex haben“, der Textchef macht dann daraus: „ … vom Trompeten der Kraniche, wenn sie auf der Balz sind.“ „Nicht so viel Sex“, lacht Eva und ich denke, ja, das sagen viele. Insgesamt lobt sie mich aber, dass ich fleißig und schnell und irgendwie auch gut bin, und das tut mir gut.

Warum finden ganz unterschiedliche Menschen zusammen, um gemeinsam einen 155 Jahre alten Text zu erarbeiten?

Die wichtigste Erkenntnis, nach den vier Wochen, die ich jetzt wieder zurück bin: Es hat keinen Sinn, einen „Kapital“-Lesekreis zu besuchen, und sich danach darüber lustig zu machen. Zunächst dachte ich, die MASCH * wäre eher einer Fortsetzung der Reha, lauter alte Säcke wie ich – doch dann war ich, bis auf die beiden Leiter, der einzige Mann unter Frauen im Alter zwischen 20 und 56, wie die Vorstellungsrunde ergab. Es stresst mich immer, mich vorzustellen, aber jetzt gerade besonders, weil es im Moment gar keinen Bereich gibt, wo ich eine gute „Story“ habe. Kaum mache ich den Mund auf, habe ich schon das Gefühl, es ist falsch, was ich sage, oder falsch gesagt. Marxismus? An ähnlichen „Exerzitien“, erkläre ich in nicht funktionierender Ironie, unsicher, hätte ich schon in den 70er Jahren teilgenommen, aber immer wieder abgebrochen, wir hätten damals nicht nur viel gekämpft, sondern auch viel gefeiert. Das könnte eine kleine Pointe sein, aber es glotzen alle eher unverständig. Dann kommt aus dem ersten Band prompt das Kapitel dran, an dem ich damals schon gescheitert war, „Ware und Geld“, erster Abschnitt, erstes Kapitel, das mit den Rechenübungen: „Wir erinnern daher, dass, wenn der Wert eines Rockes doppelt so groß ist als der von 10 Ellen Leinwand, 20 Ellen Leinwand dieselbe Wertgröße haben wie ein Rock.“ Wertgröße! Auch jetzt, fünfzig Jahre später, fällt es mir schwer, hier durchzusteigen, oder nur die Konzentration zu halten. Der klugen Moderation der Lesekreis-Leiter Tobias und Paul und der konzentrierten Atmosphäre entnehme ich und kann das gut akzeptieren, dass Textarbeit bedeutet, erstmal am Text zu bleiben, Zeile für Zeile, und nicht auf Stichworte hin gleich loszuquatschen. Wie hat Marx das gemeint, Marx sagt doch auch, was will uns Marx da sagen … schnell war ich von dem Singsang selig eingelullt, das könnte ewig so weitergehen, mir fehlt es an nichts. Ich mochte ALLE hier, die Kunststudentin, die Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Abiturientin auf dem zweiten Bildungsweg, die Sozialarbeiterin für psychisch Kranke … alle! Es ist ja egal, was wir hier „mitnehmen“, dachte ich gerührt, das Ereignis ist doch, dass wir hier zusammenfinden, wir verschiedene Menschen, die sich sonst nie getroffen hätten, angezogen von … nun, einem 155 Jahre alten Text, der mit kühnen Erkläransätzen weit in die Gegenwart reicht, und an den sich für nicht wenige Menschen heute noch die Hoffnung richtet, es stecke etwas in ihm, das heute noch nützlich sein kann, haben wir es uns erstmal „erlesen“, es erstmal freigelegt, jeder für sich, bei aller Mühe, die dies bereitet, etwas, das wie eine Droge wirkt und uns so eine Art mentaler Superkräfte verleiht.

wertform
Foto: Michael Hopp

Spätabends, wieder in der Wohnagentur, klettere ich ins Bücherregal und fische den ersten Band von „Das Kapital“ (schwarz gebundene Kautsky-Ausgabe!) runter, den mir mein Lehrherr Günther Nenning 1975 ins Wiener Allgemeine Krankenhaus gebracht hatte, wo ich schlimm darniederlag mit infektiöser Hepatitis, die ich mir in der Berliner Schwulenszene geholt hatte. „Gegen Gelbsucht was Rotes“ hatte Günther als Widmung reingeschrieben. Den Band nehme ich zum zweiten Tag des Lesekurses mit, gebe ein wenig an damit, aber gut sozialverträglich, und habe dann eine schöne Beschäftigung, den Text in der alten Tiefdruck-Version mit den Ausdrucken abzugleichen, die wir im Kurs hatten. Am Abend mache ich aus meinem wunderbaren Wochenende einen Facebook Post und gebe ihm den Titel „Außerhalb des Kreises“, nach einem Song von Rosachrom, der Band meines im Frühjahr verstorbenen Freundes Franz Dorfner.  Ich meinte wohl: innerhalb. Obwohl, Karl Marx ist außerhalb und innerhalb gleichzeitig, das ist das Tolle daran, und da will ich sein.

Traum Nr. 10 **

Ich träumte, ich hätte eine Grapefruit im Geschirrspüler gewaschen. Interessanterweise ging sie aber nicht kaputt dabei. Ich fragte mich nur, ob ich sie noch essen kann. Das beschäftigte mich den ganzen Tag.


* „Das Kapital“ und Lesen: Diese beiden Begriffe gehören in ganz besonderer Weise zusammen, seit Erscheinen des ersten von drei Bänden, 1867 beim Verleger Otto Meissner in Hamburg, bilden sich in vielen Ländern, innerhalb und außerhalb der Arbeiterbewegung, Lesekreise, um gemeinsam die 2310 Seiten der drei Bände zu erschließen, oder zumindest manches davon. „Das Kapital“ ist einer der wirkmächtigsten Texte der Geschichte. In Hamburg macht es sich die vor 30 Jahren gegründete MASCH (Marxistische Abendschule) zur Aufgabe, die Kultur der Kapital-Lesekreise fortzuführen. Michael Hopp belegte einen Kurs am 11. und 12. September 2022, der im „Centro Sociale“ in der Sternstrasse abgehalten wurde. Jeden Dienstag bietet die MASCH einen Online-Kurs an. Wer ein Jahr lang teilnimmt, hat den ganzen ersten Band geschafft. info@masch-hamburg.de

** Traum Nr. 10 träumte Michael Hopp in der Nacht zwischen dem ersten und dem zweiten Tag des „Das Kapital“-Lesekurses, an dem er teilnahm.

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