Als die Opferrolle vergessen war

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Das ist ein Buch, das aus den Nähten platzt. Es steckt so voll mit erlebter Zeitgeschichte, dass  einem schwindlig werden mag, vor allem wenn die eigene Biografie nicht viel mehr hergibt als das am Ende doch beschauliche Leben eines Journalisten, in einer Zeit höchster politischer und sozialer Stabilität. Bezieht man die mit erzählten Geschichten der Elterngeneration der Autorin mit ein, um die es ganz wesentlich geht, führen Helene Maimanns Erinnerungen auf 360 Seiten in hohem Tempo praktisch durch das ganze 20. Jahrhundert, mit seiner Geschichte von Völkermord und Krieg.
Das Buch lässt einen ein wenig erschöpft zurück, glücklich und traurig zugleich. Glücklich, weil es Hoffnung macht mit einer Menge von Beispielen, wie Menschen auch in schwerster Zeit  ihr Schicksal in die Hand nehmen und nicht passiv erleiden. Und traurig, weil im Moment vieles von dem, was auf diesem Erbe seither an zivilisatorischer Kultur aufgebaut wurde, wieder zerstört wird. „Zukunft“ müssen wir uns gerade erst wieder erarbeiten, gegen enorme Widerstände, seien es ökologische Begrenzungen oder solche in den Köpfen der Menschen.
Worum geht es? Im schwer belasteten, von vier „Siegermächten“ besetzten Nachkriegs-Wien wächst eine Generation von Einwandererkindern auf, zu der Helene Maimann gehört und zu deren Chronistin sie geworden ist. Die Eltern dieser Generation hatten ein extremes Leben hinter sich, als Kämpfer bei den internationalen Brigaden ins Spanien, in Frankreichs Resistance, als Schmuggler und Spione, als Überlebende in einem KZ oder in Sibirien. „Wir wuchsen auf mit einem leuchtenden Stern über uns, dem roten kommunistischen oder dem blauen jüdischen oder beiden“, lautet eine vielzitierte Stelle des Buchs.
Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte für sie die Welt eine andere werden, sie versuchten in Wien, dieser Nahtstelle zwischen Ost und West, einen Neuanfang. Mit Handel aller Art, legal oder am Schwarzmarkt, ihre Mehrsprachigkeit und ein unerschütterlicher Glaube an eine bessere Zukunft kamen ihnen dabei zugute. Manche der in Wien gestrandeten Ostjuden, die beim Schmuggeln erwischt wurden, mussten das Land wechseln, andere bauten in Wien florierende Unternehmen auf. Ihre Kinder liessen sie meist im Ungewissen, über das was sie erfahren haben, so wie bei den Tätern gab es auch bei den Opfern ein großes Schweigen.

Ein Archiv des „Entzückens und Grauens“

Ihre Kinder wollten sie, meist „ohne religiöses Bekenntnis“ großziehen, denn „das Judentum war abgelebt, eine Religion wie jede andere und für Kommunisten unerheblich“. Doch die Fragen waren unausweichlich.  Wo waren die Großmütter hingekommen, deren Fotos im Schlafzimmer stehen? „Umgekommen“ waren sie, wie es damals immer hieß, und die Kinder stellten keine weiteren Fragen. Bis es irgendwann auch für “Helly” klar war: „Wir sind ja Juden.“ Das Verschwiegene hörbar zu machen ist auch der Grundton des Buchs der Historikerin, Autorin und Filmemacherin Helene Maimann, die die Geschichten der Eltern hell ausleuchtet und den zeitlichen Abstand nutzt, sie historisch einzuordnen. Schon früh entwickelt sich Helly zu einer Materialsammlerin und Chronistin ihres eigenen Lebens. und verfügt so im Laufe der Jahre über ein „Archiv des Entzückens und des Grauens“, aus dem sie schöpfen kann.
Maimann erzählt im Telefonat, dass es ihr darum ging, die Juden „jenseits der Opferrolle“ zu zeigen. Die Fixierung auf die Shoa, gerade auch in Deutschland, führe dazu, dass man den Juden nur als Opfer denken könne, während sich ihre Generation schon nicht mehr als Opfer sah, weil sie am Beispiel ihrer Eltern vom „wehrhaften Juden“ geprägt war, vom Juden mit der Waffe in der Hand. 1,5 Millionen Juden hätten als Soldaten am Kampf gegen Hitler-Deutschland teilgenommen, in der Roten Armee, der US-Army oder der Polnischen Armee. Andere kämpften in ganz Europa im Untergrund oder als Partisanen gegen den Faschismus. „Das wurde vielfach verdrängt“, sagt Maimann, „aber auch heute sieht man es nicht gerne, wenn sich der Jude wehrt.“ 

„Helene Maimann ist die scharfsinnige Erzählerin unserer Generation, deren kämpferische Eltern uns beigebracht haben, den Kopf hochzuhalten und uns mit der Welt auseinanderzusetzen“, wird der österreichische Schriftsteller Robert Schindel auf der Rückseite des Buchs zitiert. Tatsächlich entwickelten sich nicht wenige dieser Einwandererkinder zu prägenden Figuren der Wiener Linken und der Wiener Kulturszene der 60er und 70er Jahre, wirkten maßgeblich mit an Zeitungen und politischen Gruppierungen, gründeten kreative Wohngemeinschaften oder bereicherten die schlampige, gleichgültige Wiener Art um Internationalität, Stil und Haltung.
Bei Demonstrationen, ob gegen Waldheim oder die chilenische Militärjunta, ist die junge Helly stets dabei, studenten- und frauenbewegt, an vorderster Front. Ihren Radius dehnt sie weit über Wien aus,  über europäischen Brennpunkte wie Paris bis nach Indochina aus. Als sie alle beinahe oder schon im Pensionsalter sind, kommt es in Wien zu einem Treffen von etwa hundert aus der großen Clique, das inzwischen als erste „Kinderjause“ in Wien legendär geworden ist. Weitere Kinderjausen folgten, und ein Netzwerk entstand, das für „Helly“ das Netzwerk bildet für die Recherche in Form unzähliger Einzelgespräche.

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Helene “Helly” Maimann: Historikerin, Autorin, Film- und Ausstellungsmacherin in Wien. Chronistin ihrer Generation der Einwandererkinder

Politisierung auf Ferienfreizeit und Schikurs

Ich war sofort elektrisiert, als ich von dem Buch erfuhr, denn einige der darin porträtierten Einwandererkinder waren Bekannte und Freunde und begleiteten meine politische und kulturelle Sozialisation im Wien der 70er Jahre. Einiges davon habe ich in meinem eigenen Buch „Mann auf der Couch“ beschrieben.  “Der leuchtende Stern” führte mich zu der Erkenntnis, wie wenig ich damals wusste über den familiären Hintergrund der Freunde, wie wenig es mich vielleicht auch interessierte – und wie sehr ich profitierte vom Umgang mit ihnen. Auch andere Rezensenten hat das Buch eingeladen, ihr eigenes Leben dazu in Bezug zu setzen und damit im Netzwerk der „KInderjausner“ Geborgenheit zu finden.
So erfuhr ich meine erste Politisierung als 14jähriger auf einem Schikurs, auf dem Georg, ein Vertreter des „Verbandes Jüdischer Mittelschüler“ (VJM) zum Streik aufrief, unter Berufung auf A.S. Neills „Theorie und Praxis der Antiautoritären Erziehung”, besuchte an Samstagen aufgeregt und unsicher Treffen des VJM und wurde kurz darauf Mitglied der „FÖJ“ („Freie Österreichische Jugend“)  und Stammgast ihres „Club Links“. Die FÖJ  war aus der Jungen Garde der Kommunisten hervorgegangen. Ihre Ferienfreizeiten und Skiwochen machte auch die junge Helene Maimann mit, das diesbezügliche Kapitel ist eines der schönsten im Buch. Allein bis 1969, als sich die FÖJ  von der KPÖ löste, hatte sie mit ihrer „Jugendarbeit“ im kleinen Österreich 150.000 österreichische Jugendliche sozialisiert. Jugendarbeit! Auch darüber lässt sich eine Träne oder mehr verdrücken, weil die heutige Linke eine Pubertäts-umfassende Jugendarbeit gar nicht mehr anbietet – ein wichtiger Grund ist für ihren Mangel an Nachwuchs, weil das politische Erwachen im Ferienheim oder am Skikurs viel leichter, schöner und nachhaltiger erfolgt, als es die tollsten Social-Media-Kampagnen bewirken können.
Später, als junger Mann, waren die Kommunarden, Künstler und Intellektuellen – seien es Toni Spira, Robert Schindel, Robert Horn, Edek Bartz, Albert Misak, aber auch der unvergessliche „Musikprofessor“ Stefan Weber mit seiner Anarchoband Drahdiwaberl, aus der später der Weltstar Falco hervorging, – die inspirierendsten Leute für mich, privat und in meiner Arbeit als Journalist . Im „Wiener“, der Zeitschrift, deren Chefredakteur ich damals war, wurden sie entsprechend gefeatured, als das was sie waren: die kulturelle und politische Avantgarde der Stadt, die „Durchstarter“, wie wir sie damals nannten. Auch Helene Maimann veröffentlichte ihren ersten journalistischen Text im „Wiener“.

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Helene Maimann mit Paul Haber nach einem Hakoah Schwimmtraining in den kühlen Morgenstunden, 1965.© Helene Maimann, Zsolnay Verlag

Kinder müssen sich nicht schuldig fühlen

Die Kinder der Überlebenden wirkten damit als echte Vorbilder, Trendsetter, als Leute die „hip“ waren und anderen Orientierung boten – gerade auch dem Schreiber dieser Rezension, mit seiner nicht-jüdischen Herkunft aus einer normal antisemitischen österreichisch-tschechischen Familie. Dass die Opferkinder den Täterkindern Orientierung bieten mussten, ist  … nun ja, was ist das eigentlich? Im Telefonat mit der Autorin erzähle ich, wie sehr es mich geprägt hatte, in dem jüdischen Milieu ohne Vorbehalte aufgenommen worden zu sein – und wie sehr mich das bis heute, gerade in der aktuellen Situation, in dem Glauben an eine multikulturelle, multiethnische Linke bestärke.
„Kinder können nichts für ihre Eltern“, antwortet Helene Maimann, „es ist doch eine schreckliche Bedrohung für Kinder, wenn sie für ihre Eltern verantwortlich gemacht werden.“  Das Judentum kenne weder Erbsünde noch Beichte und habe einen anderen Umgang mit der Schuld. Im Buch ist die verstorbene österreichische Filmemacherin Toni Spira zitiert, in der Emigration geboren und unter Weltveränderern aufgewachsen, die meisten hatten die Nazizeit im Widerstand und im Exil überlebt, vieles davon Juden, die sagten, dass sie keine mehr waren:  „Ohne Hitler hätte mich das Judentum nicht interessiert.“ Die Nähe der Juden dieser Zeit zur kommunistischen Bewegung, die im Buch an vielen Stellen zum Ausdruck kommt, sei weniger der kommunistischen Idee selbst gegründet, als dem Umstand, dass sich der Kampf gegen den Faschismus am besten mit den Kommunisten führen ließ und „Religion“ dabei keine Rolle spielte. Für den sakulären Juden ist weniger das Judentum, als der Antifaschismus bestimmend für die Identität – Auffassungen, die moderner wirken als das meiste, was wir heute vorfinden.
Ein Jude, der seine Identität immer politisch definierte, war auch Bruno Kreisky, Österreichs erfolgreichster Bundeskanzler nicht nur nach Jahren im Amt – es waren 13.  Kreisky schaffte es , in einem antisemitischen Land alle Beliebtheitsrekorde zu brechen und war auch der erste westliche Staatsmann, der PLO-Chef Yasser Arafat aus der politischen Isolation befreite. Sein Erfolg bei den Österreichern mag auch damit zu tun gehabt haben, dass er die Entnazifizierung scheute und zeitlebens ein gebrochenes Verhältnis zum Judentum hatte. Wie Helene Mailmann den wechselhaften Verlauf ihrer Begegnungen mit Bruno Kreisky beschreibt, gehört zu den berührendsten Passagen im Buch.

Helene Maimann: Der leuchtende Stern – Wir Kinder der Überlebenden, Paul Zsolnay Verlag, Wien 2023, 364 Seiten, 28,00 €

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