Wird Michael Schumacher zum Helden der Linken?

Weihnachtswunder? Dass die Linke heute zu wenige öffentlichkeitswirksame “Stars” hat, ist für den MAC offensichtlich. Aber dass es gerade der seit heute 10 Jahren – Schumachers Schiunfall geschah am 29. Dezember 2013 – im Koma liegende Spitzensportler richten soll, kommt doch etwas unerwartet. Angeregt von aktuellen TV-Dokus schreibt der Journalist und Schriftsteller Jürgen Roth in der “Jungen Welt” eine Liebeserklärung an den “Piloten des Volkes”, die der MAC ganz wunderbar findet – und für die er die angekündigten Weihnachtsferien unterbricht, um Roths Text auch seinen Lesern zur Lektüre zwischen den Feiertagen zu empfehlen.

Von Jürgen Roth

Die Leute mit Geld können meistens nicht fahren, und die, die fahren können, ham kein Geld.

Gerd Noack, Entdecker von Michael Schumacher

Vor zehn Jahren hatte ich noch einen TV-Anschluss. Der 29. Dezember 2013 war einer der Tage, an dem ich aus diffusen Gründen nicht aus dem Bett kam und deshalb, weil mir auch die auf dem Fußboden gestapelten Bücher allesamt fade erschienen, den Fernseher anschaltete.

Ich zappte wie automatisch immer wieder durch die unzähligen Kanäle, die bereits seit mindestens fünfzehn Jahren unterschiedslos und rund um die Uhr den reinen Scheiß in die Welt leiteten. Ich zappte von vorne nach hinten, von vorne nach hinten, von vorne nach hinten: ein Ritual, mit dem ich mich damals ab und zu von Seelenunruhezuständen ablenkte, eine Art meditatives Selbstübertölpelungsendlosmanöver (heute dienen dazu Podcasts).

Um die Mittagszeit blieb ich bei einem der sogenannten Nachrichtensender hängen, die aus den USA die lächerliche Sitte des ständigen Ausschreiens von »Breaking News« übernommen hatten. Breaking News sind in der Regel Meldungen über zweiprozentige Aktienkursverluste irgendwelcher Sandwichhersteller, Frickelfilmfirmen und Immobilengangster, über eine geplatzte Glühbirne im Weißen Haus oder über einsetzenden Regen in Oklahoma.

Doch diesmal waren es tatsächlich Breaking News, für mich. Der »Pilot des Volkes« (Süddeutsche Zeitung) hatte mir jahrelang mehr bedeutet als Flaubert. In meinen Kalendern waren die Wochenenden markiert, an denen Rennen stattfanden und ich daher keine Termine wahrnahm, die Kicker-Stecktabelle wurde gewissenhaft aktualisiert (ja, es gab eine Formel-1-Stecktabelle), ich las die Motorsportmagazine und schrieb sogar eine recht regelmäßige diesbezügliche Kolumne für die »Wahrheit«-Seite der Taz, die die wunderbare Barbara Häusler und danach der nicht minder liberale Michael Ringel stets gegenüber der ahnungslosen Führungscrew verteidigten, die im Automobilwettbewerbs­geschehen offenbar einen faschistischen Weltvernichtungswillen oder -vorgang erschnupperte.

Michael Schumacher war am 29. Dezember 2013 gegen 11 Uhr beim Skifahren in den französischen Alpen, in Méribel, verunglückt. Es ging die Rede von einem Hubschraubereinsatz, der Einlieferung in eine Klinik und einer Gehirnerschütterung.

Am nächsten Tag bestätigte sich meine Besorgnis. Man halte mich für bekloppt, aber mich ergriff ein Gefühl schwerer Beklemmung. Was hattest denn du, Jürgen Roth, mit einem Mann zu tun, der gut zwei Jahrzehnte lang alle zwei Wochen durch Kurven geheizt und über Geraden gebrettert war?

Michael Schumacher schwebte in Lebensgefahr. Er war notoperiert und ins künstliche Koma versetzt worden. Aus Grenoble berichtete nun die halbe Welt, und ich musste daran teilhaben.

Ich taperte in die Sportsbar Rich, setzte mich an einen Tisch in einer Ecke und stierte halb weggetreten auf einen der Bildschirme. Der mir gut bekannte Wirt brachte mir ein Weizen, sah mich an und sagte: »Was ist los mit dir? Der ist doch auch nur ein Mensch.« Er hatte recht, und er hatte unrecht.

Donnerstag abend läuft in der ARD ab 23.35 Uhr für die Insomniegeplagten die fünfteilige, insgesamt zweistündige, vom BR produzierte Dokumentation »Being Michael Schumacher« (dito abrufbar in der ARD-Mediathek). Der Titel hätte nicht bescheuerter sein können, aber das ruhig komponierte, anrührende Stück ist ausgesprochen fein fotografiert, ist ein stilles Fest der Bilder, ein großformatiges und dennoch keineswegs aufdringliches Gemälde, ein taktvoll zusammengesetztes Mosaik aus historischen Zeugnissen und Aussagen von Zeitgenossen, das die Sehnsucht nach den – ich bin ein Westler – herrlichen achtziger und neunziger Jahren weckt. Wir hatten uns im »Goldenen Zeitalter« (Eric Hobsbawm), jenseits jeglicher materieller Nöte, gedankenlos beliebigen Dingen widmen können, wir hatten Rebellen sein dürfen, ohne Sanktionen fürchten zu müssen, und wir hatten gar nicht gemerkt, wie fragil Freiheit ist.

Sport war etwas Sich-selbst-Genügendes und dadurch ein glückspendender Modus der Welterfahrung, nicht bedrängt und kontaminiert von Rassismusgequatsche, Belehrungsgenöle, Gesinnungsgebrüll, hysterischem Klimageklingel und grün-protonazistischem Transformationsterror. Sport war Spaß, war Rock ’n’ Roll, war unermessliche Spannung, die sich in kindlicher Freude zu entladen vermochte, war Schmutz und Glamour, Verschwendung und Schönheit, Harakiri und Wohlempfinden, Verausgabung und Erschöpfung. Sport war eine Feier der Fähigkeit des Menschen, Grenzen zu überschreiten, und das hatte »der Junge aus dem Erftkreis« (Anno Hecker) zusammen mit seiner »siegreichen Roten Armee« (Thomas Hüetlin, 2004 im Spiegel), der Scuderia Ferrari, ins Werk zu setzen vermocht.

Im Deutschlandfunk konnte ich dazumal eine neunminütige Eloge auf den Oberbefehlshaber der Männer aus Maranello plazieren, auf Jean Todt. Ich konnte einen Beitrag über das, was Michael Schumacher in den übelsten Schikanen am Lenkrad veranstaltete, einsprechen, ohne dass ich vorher eine Genehmigung hätte einholen müssen. Nachdem mein Text »Bremsen ist die Kunst« im Adenauer-Sender gelaufen war, rief mich Hermann Gremliza an und fragte, ob das Ding in der nächsten Konkret erscheinen dürfe. Ich musste ihn leider abschlägig bescheiden, ich hatte den Hymnus schon an den Freitag weitergereicht.

Ab 1997 waren die schöne Frau und ich jedes Jahr in Spa. Wir schlossen Freundschaften mit Handwerkern, mit Versicherungsvertretern, mit kiffenden Anarchisten und verrückten Finnen. Wir campten im belgischen Schlamm. Wir hockten morgens auf einem Affenfelsen in den Ardennen, tranken Dosenbier und gerieten außer uns, wenn der Göttliche aus Kerpen vor unseren Augen sein Gefährt, die glutrote liegende Statue, durch die Neunzig-Grad-Winkel von Bus Stop peitschte. Der Bub von der Kart-Bahn, den ein Zufall auf eine Bühne geschleudert hatte, die er dann wie ein ­Michelangelo neu entwarf.

Michael Schumacher war »ein diabolisches Genie« (Kommentar auf Youtube), geboren aus dem rheinischen Kleinstbürgertum. Er hat uns große Momente geschenkt. Er war ein Arbeiter und ein »cracking ­bloke«, wie die britische Kommentatorenlegende Murray Walker meinte, und er war »der Beste aller Zeiten« (­Walker), ein Badass, ein »Randalierer« (Martin Brundle) und ein feinfühliger Charakter, »außergewöhnlich höflich und hilfsbereit« (Walker), dankbar und ­loyal.

Ich vermisse die Sonntage mit Michael Schumacher. Ich vermisse die Gottesdienste in den vom hypnotischen Sound der höllisch kreischenden V10-Maschinen aufgerichteten Kathedralen. Ich vermisse Michael Schumachers »mindblowing« (Brundle), seine majestätischen Auftritte (Barcelona 1996, Spa 1998, Malaysia und Suzuka 2001 and so on), und wer ein Gespür für die unfassbare Gewaltgrazie des Volant-Artisten Michael Schumacher bekommen möchte, dem empfehle ich das Cruising auf Youtube: »Schumacher best lap ever«, »Ferrari F2004 V10 ex Schumacher Extreme Sound at Monza Curcuit«, »Fiorano F1 Testing 2004« et cetera.

Ich trinke jetzt zwei, drei Stumpen Rubinette-Brand vom Obstbaufamilienbetrieb Fahner in Igensdorf in der Fränkischen Schweiz. Dieses Destillierkunstwerk in der 200-Milliliter-Flasche hat mir mein Freund Udo R. vor Weihnachten geschenkt. Anders sind die schmerzlichen Erinnerungen nicht auszuhalten.

Youtube-Tipps:

“Schumacher best lap ever”: https://www.youtube.com/watch?v=gOp2l1hsqGk

“Ferrari F2004 V 10 ex SchumacherExtreme Sound at Monza Circuit”: https://www.youtube.com/watch?v=gLyqoX3LZrk

“Fiorano F1 Testing 2004”: https://www.youtube.com/watch?v=nWiSyR2EFVY

Der Beitrag von Jürgen Roth ist zuerst in “Junge Welt” Nr. 301 vom 28. Dezember 2023 erschienen. Jürgen Roth ist Schriftsteller, Autor zahlreicher Bücher und schreibt in konkret, Junge Welt, taz, Titanic und anderen. Themen findet er in Sport, Pop und Politik

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