Junge Römer leben hier nicht mehr

Ach Gott. Ich habe mir schon den dritten Kaffee gemacht und bin schon eine halbe Stunde um meinen Plattenspieler geschlichen, um ihm die nervigen Höhen abzutrainieren, oder sind es nur meine Ohren? Für studentische Prokrastinieren bin ich schon zu alt, aber gerade fühlt es sich ganz ähnlich an. Und viele werden jetzt sagen, hätte er doch weiter prokrastiniert, bis ans Ende seiner Tage!
Fangen wir mit dem Faktischen an, das ist noch am einfachsten: Nun, die Jubiläumsausgabe des WIENER habe ich mit der Post nach Hamburg geschickt bekommen, vielen Dank. Und dann erst nicht ausgepackt, dann nicht reingschaut, dann immer verkehrt rum hingelegt (die Porsche-Anzeige hinten nach oben), dann in die Tasche getan, dann von einem Büro ins andere getragen, von einer Wohnung in die andere, auf den Nachttisch gelegt, von dort direkt ins Altpapier, von da wieder rausgeholt, und nun, naja: liegt sie da, die Jubiläumsausgabe, am Schreibtisch 20 Zentimeter rechts von der Tastatur. Ich muss weg! Hier das Original:   https://www.youtube.com/watch?v=SVY0D37FyBU

Don´t  Look Back in Anger

Tonnenschwer kommt mir das Cover vor, ist ja auch so metallic, ich hebe es wie eine Grabplatte.
Große Buchstaben, ja, sieht aus wie von Gottfried Moritz, wenn ihm gar nichts einfällt. Ich wage es nicht, ins Impressum zu schauen. 45 Jahre?  Nicht so richtig rund, habe ich nicht gefeiert. Ich finde es mutig, fast schon todesmutig, den 50er sozusagen vorzuziehen, in der Angst, ihn sehr wahrscheinlich nicht mehr zu erleben … Wir stehen alle vor einem Abgrund, und schon mal loszuspringen, ist vielleicht eine gute Idee. Im Heft finde ich übrigens keinen Hinweis, ob noch weitere Hefte erscheinen.

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Gangsters in Love: Gert Winkler (Gründer), Lo Breier (Art Director), Michael Hopp und Markus Peichl (Chefredakteure), 2010 in Berlin. Was haben wir da in Wien nur angerichtet?

Don´t Look back in Anger! Das Interessante am WIENER (wahrscheinlich am ganzen Leben) ist, dass er mit jedem Rückblick anders aussieht, als würde er sich ständig noch verändern.
Ich gebe alle zwei, drei Jahre Interviews zu „Wie habt Ihr das gemacht beim WIENER“ (zuletzt: „New Journalism in den Zeitschriften Wiener und Tempo“ für ein Projekt an der Universität Wien, mit der Fragestellung, ob so die Fake News in die Welt gekommen sind) und wundere mich über mich selbst, das mir immer was Neues einfällt, wahrscheinlich rede ich mehr über mich selbst, als über die Projektionsfläche WIENER.
Die Fake News Debatte mit Beate Maria Ottilia Gigler, der Projektleiterin, habe ich auf das heute sehr aktuelle Thema des autofiktionalen Schreibens zu verschieben versucht … und hoffe, damit weitere Verwirrung gestiftet zu haben.

Schnarch, Gähn. Seid Ihr noch da? Wir waren bei Rückblick. Also, DEN WIENER gibt es nicht – es sind ja mindestens fünf.  Es gab die angeblich tolle, mythenumrankte (mit dem Gert Winkler-Interview strickt die Jubiläumsausgabe an dem Mythos auch noch weiter, dazu auch gleich noch) Gründerzeit, am Cover der Jubiläumsausgabe ist etwas unvermittelt das Cover der Nullnummer eingeklinkt – es macht eigentlich nur deutlich, wie unversöhnlich sich die beiden Stile – damals und heute – gegenüberstehen.
Dann die Phase von Markus Peichl und mir, die übrigens viel kürzer währte, als es oft den Anschein hat, vielleicht vier Jahre. Wenn ich in meine offizielle Vita schaue, stehen da überhaupt nur drei Jahre WIENER Chefredaktion, von 1982 bis 1985, ein Klacks in 45 Jahren! Mit Ausnahme von „Cash Flow“ habe ich alle Chefredaktionen, DIE ICH INNE HATTE (?), länger geschafft!

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Gert Winkler mit Baby, 1979 – es hat ihn überlebt. Der WIENER-Gründer starb 2016

Der WIENER ist seit 1989 tot

Wir waren bei den Phasen. Nachdem Markus und ich (nicht nur wir beide, auch Art Director Lo Breier und ein Großteil der Redaktion) ausgewandert waren, folgte in der Chefredaktion des WIENER (es gab noch ein kurzes Zwischenspiel mit einem der Geringer-Brüder) im Jahr 1989 der rechte Militarist Gerd Leitgeb, der aus dem Heft eine „Massenillustrierte“ zu machen versuchte, es vor allem aber deutlich nach rechts rückte, in schroffer Abkehr zu dem wofür er bisher gestanden hat, nämlich für  FORTSCHRITTLICHES in Gesellschaft und Kultur.
AB DEM ZEITPUNKT WAR DER WIENER TOT und jede Geschichtsschreibung müsste hier enden oder einen großen Absatz machen. AB DEM ZEITPUNKT WAR DER WIENER TOT.
Er war reaktionär geworden. Und das ist er bis heute. Wenn reaktionär bedeutet: Von einer Veränderung der Gesellschaft nichts wissen wollen. Der WIENER davor hat sich zB vor dem damals schon historischen Wiener Aktionismus verbeugt, während Gerd Leitgeb einer war, der die Künstler ins Irrenhaus oder Gefängnis gesteckt hätte, wenn sie nicht schon da saßen.

In seinem Nachruf auf Gerd Leitgeb schrieb der „Falter“ völlig richtig, Leitgeb habe in Österreich den „Fellner-Journalismus vorweg genommen“.  Mit Leitgeb war der WIENER tot. Die Jahre davor hatten wir einen manchmal siegreichen, oft verzweifelten Abwehrkampf gegen das Fellner-Blatt „Basta“ geführt, das aber noch nicht annähernd so ungut war, wie das, was noch kommen sollte.

Die Übernahme des WIENER durch Leitgeb (möglich gemacht durch einen überforderten Eigentümer, der um sein Geschäft fürchtete) markiert im österreichischen Journalismus eine Zeitenwende, die zu einer völlig ruinierten, der Demokratie abträglichen Medienlandschaft führte, mit der heroischen Ausnahme des „Falter“.  (Historisch gesehen sollte man mehr über den „Falter“ reden als über den WIENER, der doch nur ein Quatschblatt ist.) Die Österreicher (viele!) kennen heute nichts anderes mehr als den Lug und Trug, an den sie über Jahrzehnte gewöhnt wurden – ein Klima der ständigen künstlichen Aufregung und gleichzeitigen Vernebelung, das nach und nach immer mehr Ganoven den Weg in die Politik ebnete. 

Die teils ängstliche, teils feindselige Abwehr des „Auslands“ auf allen Ebenen, die Politik und Kultur vorleben, hat bei den Medien dazu geführt, dass es seit Jahrzehnten keine Innovationen mehr gibt.  Der WIENER „unserer Zeit“ war tatsächlich die einzige aus Österreich hervorgegangene Medienentwicklung, die es zu internationalem Ansehen und Respekt gebracht hat. Ist so.
Einen sehr hohen Anteil daran hatte übrigens Markus Peichl, der sich auch in der Zeit nach „Tempo“ in Deutschland als der „Medienösterreicher“ bewährte, der über Jahre mit den „Lead Awards“ großen Einfluss auf die Entwicklung des deutschen Journalismus nahm und ein viel grösseres Rad drehte, als man sich das in Wien vorstellen kann. Dementsprechend wird Markus in der Jubliäumsnummer kaum noch erwähnt und ihm persönlich heute mit einer Mischung aus Neid und unterwürfigem Respekt begegnet.

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Gottfried Moritz, in der Redaktion des WIENER in der Wipplingerstrasse, irgendwann in den 80ern. Damals Grafiker, hat er jetzt als Art Director den 45-Jahre-WIENER gestaltet

Schämt Euch!

Wir sind immer noch bei den Phasen.
Nach Leitgeb wurde es dann diffus, von der im Jubiläumsheft an mehreren Stellen sehr belobigten „Ära Sax-Reismann“ habe ich nie was gehört, ich kenne die Leute nicht, auch nicht ihre Arbeit. Oh, doch. An Manfred Sax fand ich lustig, dass man in seinem Nachnamen nur einen Buchstaben ändern muss, naja, vielleicht doch nicht so lustig. Ich sprach mit Markus ob wir ihm deshalb eine Sexkolumne anbieten sollten, aber irgendwie war uns das zu blöd alles.
Gleichzeitig oder danach kam beim WIENER der Verlagswechsel und damit die Männerheft-Phase (hatte im WIEN ER, habe so ein T–Shirt, Sax dann nicht seine Sex-Kolumne?) und darauf die Autoheft-Phase, die bis heute andauert.
Andrea Fehringer schreibt in ihrem Beitrag, dass sie in der Zeit mit Sex-Sax die einzige Frau in der Redaktion war – und bestätigt damit mein Gefühl, dass der WIENER schon seit vielen Jahren eine „Buberlpartie“ ist, ein treffendes Wort, mit dem das Umfeld von Sebastian Kurz beschrieben wurde und das vielleicht auch hier zutrifft.
Weit und breit keine Margit J. Mayer, klar.

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Frauen gab´s auch im WIENER, hier eine unbekannte. Ist es Claudia Robot, die hier ihre Musikkarriere (“Ich steh´auf Wien”) plante?

Ist ja auch egal, alles.
Wie egal, merkt man an den Rückblick-Seiten der Jubiläumsnummer, die in einem brachialen Layout zusammenzwingen, was nicht zusammengehört.
Auch „unsere“ Jahre kommen darin vor – mir in diesem Auftritt, in diesem Rahmen völlig fremd, NEIIIIIN, möchte ich immer nur rufen, wie in einem Albtraum, so war das nicht gemeint … alles in mir ruft NEIIIIIN und es stimmt, ich war der, der die billigen Sex-Titel beim WIENER eingeführt hat, wie kann ich dafür Abbitte leisten?
Wenn der WIENER eine ständige Verwandlung ist und eine ganze Reihe von Identitäten hat – dann ist die heutige, dass er so breitbeinig auftritt, so grell, alles irgendwie zu groß und zu laut – wäre er ein Mensch, mit dem man ein Gespräch zu führen versucht, er würde einen dauernd anschreien – und doch nichts zu sagen haben.
Das komplette Fehlen von INHALT und HALTUNG, das ist das Traurige am heutigen WIENER. – und in diesem Modus ist auch das Jubiläumsheft gemacht, das kein Verhältnis zur Vergangenheit findet, sondern sie einfach entsorgt.
Wofür steht der WIENER? Für NICHTS, sagen die heutigen Macher. Vielleicht für Autoverkaufen. Ein SORRY an alle die je was anderes gedacht haben. Leckt´s uns am Oasch.

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Paul “Pauli” Schirnhofer, der viele tolle Bilder gemacht hat für den WIENER, Porträt, inszenierten Strecken … aber am liebsten: Reportage

Am Beginn des Heftes eine völlig hohle Strecke mit „Stauneziffern“, die es erheblich findet und dafür eine Doppelseite aufwendet, das Steven Spielberg bisher 4.156 Minuten Film gemacht hat. Hä? Filme sind hier übrigens noch „Streifen“. Die Sprache! Irgendwo im Graubereich zwischen affigen Austriazismen und schlechtem Deutsch, zumindest in dem, was die Redaktion selber schreibt. Und die ständige Angeberei! Jedes Auto eine „Legende“. Das Verbrenner-Auto wird gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Nein, Blattkritik sollte das keine werden. Mehr eine Haltungskritik.

Wie soll ich´s sagen, ich hatte den jetzigen Chefredakteur beim Abschied für Gert Winkler im Wiener Filmmuseum kennengelernt. Er sprach mich an auf eine komische Art, ich wusste damit nicht umzugehen. Ich sah noch, wie er wie ein – sagt man doch in Wien – Pompfineberer von einem zum anderen schlich und es ihm ganz offensichtich wichtig war, zur Trauergesellschaft dazuzugehören.
Ist auch gut alles, hätte ich vielleicht nicht anders gemacht.

ABER – dass er, der Chefredakteur, mit dem riesig dimensionierten Gert Winkler-Interview im Jubläumsheft so tut, als stünde er in der Tradition oder in einer Kontinuität mit dem, was einst Gert Winkler wollte mit dem WIENER (und er wollte was, wenn wir das auch nicht immer verstanden, er wollte was), das finde ich empörend. 
Es ist nicht so, dass ich mir groß was einbilde auf meine Nähe zu Gert Winkler, ich war ihm vielleicht gar nicht so nahe, eigentlich war er einer, der gar nicht so viel Nähe zuließ. Ich fand ihn in vielem toll, manchmal ging er mir auch auf die Nerven.
Ich würde nicht mal sagen, dass ich oder Markus den WIENER groß im Sinne von Gert Winkler gemacht haben.  Manchmal haben wir sein Feeling getroffen, manchmal aber auch gar nicht. Wir haben uns auch nicht dauernd damit beschäftigt, ihn glücklich zu machen.  Und es ist prinzipiell ungut, hier an einem Toten herumzuzerren, der sich nicht wehren kann.

ABER – dass Gert das heutige Heft in die Tonne treten würde (vielleicht auch manche von „unseren“ damals …), das weiß ich ganz genau und wenn der heutige Chefredakteur nicht ganz doof ist, dann weiß er das auch selbst. Und deshalb ist das Interview und der Umgang damit nicht richtig und verlogen. Ende.

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