Entdeckungen auf der INDIECON 2023. Ich weiß, das ist schon ein paar Wochen her. Tut aber der Qualität dieser supergehaltvollen und toll gestalteten Drucksachen keinen Abbruch, denke ich. In der Auswahl alles, was der Mensch so braucht zum täglichen Überleben: Neue Arbeit, Literatur – und Philosophie, dieses Gurkerl im Knie
Neue Narrative – Das Magazin für Neues Arbeiten, NN Publishing GmbH, Berlin, Ausgabe 18/2023. Redaktion: Laura Erler, Paul Fenski, Sebastian Klein, Emma Marx, Taraneh Taheri, Dominik Wagner, Martin Wiens, Hie-suk Yang
Das ist ein wunderbares Magazin, 100x besser als alles, was es dazu bei den Großverlags-Zeitschriften gibt bzw. gibt es da eigentlich gar nichts, was gibt es da schon noch. Gleichwohl ist „New Work“ ein großes Thema unserer Zeit und eines, wie „Neue Narrative“ zeigt, das sich zu einer gelasseneren, nachdenklicheren, sophisticated-eren Aufbereitung anbietet, als dies online möglich ist. Beim Blättern durch das liebevoll, aufwendig und didaktisch schlau gestaltete 130-Seiten-Magazin dämmert es, wie unendlich viel mehr in dem Begriff von „New Work“ steckt, als das schon bis zum Überdruss abgehandelte Spannungsverhältnis zwischen konventionellem Büro, isolierendem Homeoffice und öffentlichem Workspace. Zum Beispiel: Das Thema „Sprache“, das mit der Coverline „Wir müssen reden“ den Schwerpunkt der Ausgabe bildet. Was ist zu beachten, wenn wir gewaltfrei, wertschätzend, mehrsprachig, in digitalen Kanälen kommunizieren wollen? Wie gelingt dies auch in Kurztext-Formaten wie Chats? Wie gehen wir mit Aggression und Wut um? Welche Kommunikationsbasis muss für Remote Arbeit überhaupt erst erarbeitet werden, damit sie nicht in Frust und Chaos endet?
Die Artikel sind gut recherchiert und auf charmante Art involvierend aufbereitet, mit hübschen Schautafeln oder auch Frageelementen zum Selbstausfüllen. Beeindruckend und eine gute Voraussetzung zum erfolgreichen Weiterbestehen ist das riesige Netzwerk von Autoren und Experten, über das „Neue Narrative“ offenbar verfügt und das auf den letzten Seiten stolz präsentiert wird. Einziger Minuspunkt: Der Titel „Neue Narrative“ verspricht irgendwie anderes und ist vor allem maximal unsexy. Aber ich gebe zu, „New Work“ wäre auch nicht der Hammer. Vielleicht, wie bei einem berühmten Titel, einfach die Redaktionsadresse? „Uferstrasse 6“? Naja. Und brand eins ist auch längst umgezogen.
Der Schnipsel, Stirnholz Verlag, Kiel, Ausgabe 23/2023. Redaktion: Dara Brexendorf, Maline Kotetzki, Elena Kruse, Katharina Noß, Kaspar Pansegrau, Zara Zerbe, Nikolai Ziemer
Ein Literaturmagazin, das glücklich macht, aus so vielen Gründen. Erstens: Es ist jung und neu, also anders als ich und meine Generation. Diversität und Gleichberechtigung werden nicht behauptet, sondern einfach gelebt, sind einfach da. Ein Literaturmagazin mit einer Vielfalt von Beiträgen ist natürlich ideal geeignet, dies umzusetzen. Zweitens: Sprache und Schrift finden zu einem gemeinsamen Ausdruck. Nicht alle Literaturmagazine gehen damit um. In „Der Schnipsel“ erscheint jeder Beitrag in einer angepassten Typographie oder Gestaltung. Das erhöht nicht nur die Freude am Lesen, macht sie „sinnlich“, sondern bringt auch Spannung, Vielfalt, Abwechslung ins Magazin, ein „Flow“ entsteht, eine Melodie, die unterlegt ist. Teils werden Elemente der konkreten Poesie aufgegriffen, in einem Fall ist der Text in einer weißen, fetten Typewriter-Schrift negativ auf schwarze Seiten gestellt, was ihm eine dringliche, fast aggressive Ausstrahlung verleiht. Die Typographie dient dem Text nicht nur, sie inszeniert ihn. Drittens: Die Freude an neuer experimenteller Sprache – hier mutig zu sein, ist die Existenzberechtigung eines Literaturmagazins.
Thematisch gehen die Beiträge in ihrer Mehrzahl sehr nahe an den Alltag ran. Wir erleben psychedelisch aufgefasste, „krasse“ Begebenheiten aus dem Leben eines „Pizza Delivery Boys“, in zwei Texten wird angesprochen, auf völlig unterschiedliche Weise, was es bedeutet, wenn die Demenzerkankung in der Familie auftritt, in einer Story scheint der Klimawandel schon ein Stück weiter fortgeschritten zu sein, „diese Hitze“ lässt sich aus der Geschichte nicht mehr wegdenken. War das jetzt viertens? Egal. Die Besprechung lässt sich nur mit einem Gag beenden, mit einer Anspielung auf den Hefttitel „ach, eigentlich alles“, wie sie auch schon im Editorial vorkommt. Was mir an der 23. Ausgabe (Gratulation!) von „Der Schnispel“ besonders gut gefallen hat? Ach, eigentlich alles!
Prothese Magazin, keine Verlagsangabe, Hamburg, Ausgabe 4/2022. Herausgeber*Innen: Mirjam Groll, Simon Gumprecht, Art W. Krüger, Veronika Zöller
Mache ich es mir zu einfach, wenn ich sage, dass das „Prothese Magazin“, unter den Philosophie-Magazinen das ist, was „Der Schnipsel“ unter den Literaturmagazinen ist? Auf jeden Fall: ganz vorne dabei. Auch hier lohnt es sich, den himmelhohen Unterschied hervorzuheben zu Mainstream-Projekten wie dem am Kiosk erhältlichen „Philosophie-Magazin“, das es mit seinem „zugänglichen, lebendigen und lesbaren Journalismus“ etwas übertreibt, ohne dass ihm die Leser*Innen deshalb die Tür einlaufen, aber das ist ja nie so. Auch das „Prothese Magazin“ ist besonders schön designt, die Gestaltung steht hier aber strenger im Dienste der Inhalte, Fußnoten sind angenehmbar auffindbar auf der selben Seite in einer Marginalspalte untergebracht. Es gibt aber keineswegs nur Textwüsten, sondern richtig „Fotografie“ und in der Mitte sogar eine philosophische Fotostrecke.
„Unterhaltung“ ist das Thema der Ausgabe. Eine gute Idee, denn hier handelt es sich um einen Begriff, der alles- und nichtssagend zugleich ist und damit ganz zwangsläufig am Behandlungstisch der Philosophie landet. In einer Zeit, in der der Anspruch auf Unterhaltung auf keine begrenzte Erlebnissphäre mehr beschränkt ist (wie klassisch das Kino), sondern die gesamte menschliche Interaktion durchdringt und sozusagen alles zur Unterhaltung geworden ist, kann in einem Magazin zum Thema praktisch auch alles Thema sein. Und so reicht das Themenspektrum von einer Beschreibung der Zugfahrt als öffentlichen Raum (mit den dafür typischen „Unterhaltungen“), einer kleinen Studie über die „unterhaltende“ (?) Wirkung des Bansky-Stencils „Bomb Hugger“ in Hamburg, oder die immer „unterhaltsame“ Memifizeriung klassischer Kunstwerke in Social Media. Alles superfit geschrieben und dokumentiert und absolut gut lesbar, aber ohne gleich „Journalismus“ zu sein. In einem weiteren Beitrag, der meines besonderen Interesses gewiss sein konnte, geht es darum, wie weit auch die Liebe als Unterhaltungsform „kommodifiziert“ wird. Eva Illouz wird zitiert, die im Zuge der Moderne eine Transformation dahin beobachtet haben will, dass sich die Liebe immer mehr über das Kriterium der Wahl konstituiere, womit sie sich zunehmend für die „Einspeisung in die kapitalistischen Verwertungssysteme“ eigne. Das Online-Dating könne in dem Zusammenhang als Beispiel für die „Rationalisierung von Liebesbeziehungen“ genannt werden, bei der es am Ende nur noch um die Feststellung von Ressourcen ginge, wie sozialer Status, Bildung oder Schönheit. Und viele Themen mehr! All voll! (Den Witz verstehen nur Leser des „Prothese Magazins“.)
Hinterfragt sei noch die Entscheidung der Redaktion, auf Vorspänne, kurze Einleitungstexte zu Beginn der Artikel, zu verzichten. Dies erhöht zwar einen puren, wissenschaftlichen Eindruck, erschwert den Einstieg in Texte aber doch um einiges. Und in der hinteren Umschlagklappe versteckt sich ein – Poster! Geil!