Bloggergott Rainald Goetz und der alte Hut

Wer sich als Marxist (ohne Anführungszeichen) bezeichnet, gerät oft unter Rechtfertigungsdruck – selbst und besonders dann, wenn er es mit einem gewissen Stolz tut. Hä, Marxist? Wieso denn das? Ist das nicht ein alter Hut („Weltanschauung des 19. Jahrhunderts“, wie der Historiker Kowalczuk denkt), wie willst Du damit die Gegenwart erklären, digital und so.
Der MAC hat verschiedene Methoden, damit umzugehen (und kämpft zusätzlich mit dem Gegenwind, dass seine kommerzielle berufliche Tätigkeit als Unglaubwürdigkeit ausgelegt wird, als dürften nur Erben großer Vermögen privatisierend Marxisten sein).
Oft flüchtet er sich in den flotten Spruch „Marx ist nicht alles, aber ohne Marx ist alles nichts, haha“. In die dann gelockerte Stimmung lassen sich gut ein paar Sätze platzieren, des Inhalts, die Beschäftigung mit dem Werk von Karl Marx bilde nach wie vor und unvermindert eine einzigartig gute Grundlage, wenn man einen kritischen Blick auf die Gegenwart haben will. Marx sei seiner Zeit weit voraus gewesen, liesse sich noch anfügen, so dass seine Halbwertzeit noch lange nicht erreicht sei, und dann wäre es immer noch der halbe Wert, naja.
Wenn man das, so die Erfahrung des MAC, halbwegs locker und unverkrampft und mit freundlichem Ausdruck (!) rüberbekommt, geben sich die meisten Skeptiker zufrieden und wechseln zum Salatbuffet.
Ob damit ein Teilnehmer des Lesekreises gefunden ist, steht auf einem anderen Blatt.

In einem gerade erschienenen Sammelband des Autoren-Superstars und Blogger-Idols  Rainald Goetz, ein Heroe des MAC (siehe auch https://michael-hopp-texte.de/die-fundamentalen-fragen-nicht-ueberschlau-bestuermen/), ist nun ein Beitrag von 2012 aufgetaucht mit dem Titel „Warum ich Marxist geworden bin“, der eine ganz andere Begründung liefert als der MAC – die mit WITZ und LÄSSIGKEIT daherkommt, Talente, die uns ernsten (?) Marxisten vielleicht etwas abgehen, manchmal. M.H.

Warum ich Marxist geworden bin

Mittwoch, 25.7.12, Berlin

Von Rainald Goetz

Um heute nochmal über Geld reden zu können. Zwei Minuten nach neun stand ich bei Herrn Teickner im Büro, er nahm den Schlüssel vom Bord, und wir gingen zu meinem weiter hinten geparkten Wagen. Ich hatte mein Jackett abgelegt, und Herr Tickner meinte, so schlimm wirds ja nicht werden. Nein, aber der Sommer ist da, mir war schon heiß vom Herradeln.

Unterwegs erklärte Herr Teickner nocheinmal, was er mir gestern Abend am Telefon schon gesagt hatte: der Scheinwerfer rechts sei kaputt, eventuell könnten sie das Ersatzteil aber vom Lager bekommen, dann kostet die Reparatur nur 100 Euro, nicht 320. Dann die Hinterachslager, Kostenpunkt 300 Euro, die sind völlig durchgeschlagen. Okay, ich glaube zwar, daß die vor vier Jahren auch schon mal erneuert wurden, aber egal, ein groBer Posten, egal wie sinnlos, gehört beim Werkstatt-Tüv sozusagen als Obolus an den Tüv-Gott, der ja in die Werkstatt kommt, man muß nicht zu seinem separaten Tüv-Tempel an den Rand der Stadt hinpilgern, was ja auch wieder einen halben Tag Zeit kostet, praktisch dazu. Aber Herr Teickner hatte gestern am Telefon eine Rechnung aufgemacht, daß alles insgesamt sich auf etwa 1000 Euro belaufen würde, das fand ich zu viel, und wir vereinbarten einen Termin heute morgen um neun zur Besprechung.

Meine Idee war: mit 500 Euro müßte man hinkommen, mehr ist bei dem alten Wagen absurd, der Wagen ist ja fahrtüchtig, er hat keine wirklichen, sicherheitsrelevanten Mängel, und für die Werkstatt ist es ein kleiner, ordentlicher 350-Euro-Auftrag mit Reparaturen, die ohne Tüv gar nicht gemacht werden müßten, weil sie überflüssig sind. Wir standen dann neben dem rechten Kotflügel und schauten unter der Motorhaube von hinten ins Innere der Karosseriefront. Der Scheinwerfer selber ist nicht ka-putt, wie Herr Teickner zuerst gesagt hatte, nein, der geht, das hatte ich erst vorgestern an einer Ampel, wo sich im Lack des Wagens vor mir beide Lichter meines Autos spiegelten, gesehen, nur die Halterung des Motors, mit dem der Scheinwerfer bei extremer Zuladung höher und tiefer gestellt werden kann, war abgerostet, etwas wackelig hing er neben dem Scheinwerfer. Diese Beobachtung teilte ich Herrn Teickner mit.

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„Mein tägliches Textgebet“ – „Abfall für alle“ von 1999 riss die Grenzen nieder zwischen online und analog Publizieren. Aus online-publizierten Blog-Texten machte Suhrkamp ein Brett von Band – und damit Geld. Goetz ist der Gott der Blogger

Herr Teickner schaute auf das von seinem Mechaniker ausgefüllte Papier und tippte mit seinem Kuli zwischen den verschiedenen Posten und den dahinter von ihm aufnotierten Schätzpreisen herum, rechnete und kalkulierte dabei murmelnd vor sich hin und war also sichtlich verhandlungsbereit, er weiß ja, daß ich weiß, daß der Preis nach Optik angesetzt wird, also nach dem Eindruck, den er von mir hat, wieviel ich mir das in etwa kosten lassen könnte. Ich bin kein Student, nicht selber Handwerker, auch kein mittlerer Angestellter irgendwo in einer Behörde, einem Ministerium, sicher auch kein Chef, das sieht er ja alles und kommt zu dem Schluß: genügend Geld ist da, großes Interesse an Autos nicht wirklich, Kunde ist mit anderem primär beschäftigt und deshalb vermutlich froh, wenn die Sache ohne weitere Organisationsaktivität für ihn erledigt wird, und all das stimmt ja auch, nur: die Absurdität des Ganzen fordert meinen Widerspruchsgeist heraus.

Insbesondere das Klassenkalkül und die Selbstverständlichkeit, mit der ein Nichtproletarieraufschlag um das Fünffache, von 200 auf 1000 Euro, angesetzt und fällig wird, stört mich dabei diffus, denn die Implizitmitteilung heißt ja: du bist Depp, dafür mußt du zahlen, Gehobenheitsdepp. Das Zahlen wäre mir egal, aber die Wertung will ich nicht unwidersprochen akzeptieren, dem trete ich entgegen, vom Werkstattchef als Depp angesehen zu werden, auch wenn ich Depp in dessen Welt bin, zumindest nicht ohne mich dagegen zu wehren auf eine Art, die mir angemessen vorkommt.

Es geht also insgesamt sozusagen um die EHRE in diesem Gespräch, das wir hier über Geld führen. Und weil Herr Teickner das auch alles wahrnimmt und weiß und ein insgesamt auch nicht maßlos geldgieriger und maßlos an der Selbstbestätigung seiner Überlegenheit über mich interessierter, eher freundlich lächelnder, nachsichtsvoll all diese Dinge betrachtender Mensch ist, lenkt er ziemlich schnell ein, dreht seinen Mechanikerzettel um, während ich alles mögliche zum Benzinverbrauch und der Absurdität eines solchen Autos hier in der Stadt mitteile, und meldet als Ergebnis: maximal 550 bis 580 Euro. Gut, nochmal 30 Euro draufgeschlagen für die Ehre seinerseits, einverstanden. Dann wird im Zurückgehen zum Büro der Zeitplan besprochen, wir verabschieden uns, er geht in die Werkstatt, ich hole mein Jackett und radle heim.

Deshalb also bin ich Marxist geworden, um in den seltenen Fällen, wo es um Geld geht, auch mal meine eigenen Interessen vertreten zu können, sonst aber meistens genau NICHT meine eigenen, sondern die Interessen derer, die real schwächer sind als ich. Das ist der Gefühlslinkismus, der von den echten Marxisten ja immer als unzureichend kritisiert wird, weil er nicht beweisbar ist, auch nicht durch noch so gute Gründe beweisbar, sondern einfach nur von der Intuition geleitet, was für eine Gesellschaft sympathischer sein könnte als die bestehende. Eben eine, wo jeder gerade nicht nur dauernd seinen eigenen Vorteil und seine eigenen Interessen im Auge hat, sondern immer auch den und die des anderen und des Ganzen mit.

Ichzugang von der Mutter, Weltzugang vom Vater; Scham und Ehre.

© Suhrkamp Verlag, Berlin

Aus: Rainald Goetz, wrong, edition suhrkamp, 2024, € 24,00

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