DIE DREI versuchen mit jeweils drei kurzen Beiträgen zu einer Fragestellung, den Marxismus auf Themen anzuwenden, die es in der Form zur Zeit von Karl Marx noch nicht gab. Oder auch, klassische marxistische Thesen mit aktuellen Bedingungen zu konfrontieren. Folge IV.: Gibt es die Arbeiterklasse noch?
Das neue MASCH-Programm ist da!
DIE DREI sind im Kern Michael Hopp und Tobias Reichardt, Mitglieder der Marxistischen Abendschule Hamburg (MASCH). Hier seht Ihr das Programm und könnt Euch über Kurse informieren: https://www.masch-hamburg.de/
Inzwischen hinzugekommen sind Barbara Eder und Michael Heidemann. Da wird die Anzahl der Beiträge auf drei begrenzt halten wollen, kann eine(r) immer sein „Recht auf Faulheit“ (1880, Essay von Marx-Schwiegersohn Paul Lafargue, der allerdings durch Selbstmord aus dem Leben schied) realisieren.
Thema heute: Hilft uns Psychologie?
Die schrifttechnisch arg verkürzte Fragestellung ließ den Autoren (heute die drei Männer) viel Freiraum zur Interpretation. Zur Wahl standen die „normale“ Psychologie und ihre propagandistische Wirkung in Form Kapitalismus bejahender Ratgeber-Literatur, das „Psychologisieren“ als Alltagspraxis und verkommene Rhetorik, die Probleme individualisiert, die doch systemisch sind – und schließlich das immer wieder doch angespannte Verhältnis des Marxismus zur Psychoanalyse. Was zu all dem Marx gesagt hätte, wissen wir nicht, aber wir tasten uns von allen Seiten heran!
Ist die Psychologie eine bürgerliche Ideologie?
Von Michael Heidemann, Bremen
Folgt man den Manuskripten der Deutschen Ideologie von Marx und Engels, dann wäre die Psychologie als Teil des geistigen Überbaus selbst ideologisch. Sie lieferte nur Scheinerklärungen für Verhältnisse, die aus dem „wirklichen Lebensprozeß“ der Menschen, also aus dem materiellen Produktionsprozess zu erklären wären. Und in der Tat: die Herrschaftsapologie seelsorgerischer Bestseller wie „Der Glücks-Faktor. Warum Optimisten länger leben“, „Trotzdem Ja zum Leben sagen“ oder „Mentale Stärke und Resilienz“ springt ins Auge. Auch die akademische Psychologie ergeht sich weit überwiegend in anthropologisierenden und biologistischen Erklärungen für historische und damit veränderbare Phänomene.
Hierdurch drängt sich allerdings erst recht die Frage auf, wie Herrschaftsverhältnisse sich in das Seelenleben der Menschen einprägen, alltägliche Ohnmachtserfahrungen die Subjektivität deformieren und die durch Konkurrenz erzeugte Existenzangst der Paranoia zuarbeitet und Regressionswünsche entfacht. Die als „bürgerlich“ denunzierte kritische Theorie Adornos und Horkheimers hat Sigmund Freuds bahnbrechende Schriften zur Begründung der Psychoanalyse überaus ernst genommen und auf die historische Situation bezogen: Wieso scheiterte die Revolution in den fortgeschrittensten kapitalistischen Nationen? Wieso schlossen sich auch Arbeiterinnen und Arbeiter reihenweise dem Faschismus an, der ökonomisch gewiss nicht ihren Interessen entsprach? Welches triebökonomische Bedürfnis wurde stattdessen mit der Parole „Die Juden sind unser Unglück“ bedient?
In den Mechanismen der Massenpsychologie und der „pathischen Projektion“ erkannten Adorno und Horkheimer zentrale Elemente des Antisemitismus. Verdrängte und uneingestandene eigene Triebregungen, die gesellschaftlich tabuisiert sind, werden abgespalten, im Bild des Juden verdichtet und an den prospektiven Opfern ausagiert. Individuelle Schuldgefühle und schlechtes Gewissen werden durchs Aufgehen im Kollektiv suspendiert. Bis heute geriert sich der Antisemitismus auf diese Weise als verfolgende Unschuld. Der fundamentalen Ich-Schwäche setzte die kritische Theorie die Erziehung zur Mündigkeit entgegen, die nicht ohne selbstreflexives Einbekennen der eigenen Ohnmacht und das Aushalten von Widersprüchen auskommt. Im Parteimarxismus stießen die Erkenntnisse der Psychoanalyse hingegen auf fatales Desinteresse bis hin zur vehementen Abwehr. Zweifel an der Konstitution des „revolutionären Subjekts“ taugen eben nicht, wenn man bruchlos an der revolutionären Tat festhalten will. Auf schockierende Weise führt dies der heutige Antiimperialismus vor, der islamistischen Terrorismus zum „palästinensischen Befreiungskampf“ umlügt. Die schiere Fülle der darin enthaltenen Projektionen bedürfte einer langwierigen aufklärerischen Praxis, wenn hier überhaupt noch von ansprechbaren Subjekten ausgegangen werden kann.
Aus Platzgründen konnte auf die ebenfalls verdienstvolle kritische Psychologie nach Klaus Holzkamp nicht mehr eingegangen werden.
Sind Träume eine Produktivkraft?
Von Michael Hopp, Hamburg
Ich weiß, im Titel dieser Kolumne scheint es um „Psychologie“ zu gehen, die heute eine Gattung der medizinischen Versorgung ist und nicht besonders auffällig. Wie jede andere Medizin hält sie die Menschen am Laufen im Kapitalismus. Ich denke, geistesgeschichtlich und von ihren Ursprüngen ist die Psychoanalyse näher an Marx als der Jugendpsychologe um die Ecke, zumal sie in einem jüdischen Milieu von Sozialisten und Kommunisten entwickelt wurde. Nach einer 20jährigen Psychoanalyse und einer lebenslangen Nähe zum Marxismus, die sich zuletzt noch intensiviert hat, ist mir diese Kombination auch lebensgeschichtlich vertraut und ich habe auch versucht, in meinem Buch „Mann auf der Couch“ davon zu erzählen.
Um es klar zu sagen: Marxismus und Psychoanalyse sind für mich eng verwandte Wissenschaften, weil beide von der Bedingtheit des Menschen handeln und von seinen Möglichkeiten, diese zu gestalten.
In beiden ist Entfremdung ein zentrales Thema, der Marxismus konzentriert sich auf die Entfremdung innerhalb des Naturverhältnisses, die Psychoanalyse auf die Entfremdung von sich selbst, was am Ende zwei Seiten einer Medaille sind.
Ähnliches vertrat schon die sogenannte „Sexpol“-Bewegung , die auf den Kommunisten, Arzt und Psychoanalytiker Wilhelm Reich zurückging, der in den 30er Jahren das Thema Sexualität in die Linke einbrachte. Zu seiner Zeit scheiterte er – hatte aber hohe Wirkung auf die Linke der 60er und 70er Jahre, die die sexuelle Befreiung als wichtige Dimension der Freiheit in ihre Utopien mit aufnahm und auch die Lebenspraxis danach ausrichtete. Wer hatte den regenbogenbunten KiWi-Band „Die Funktion des Orgasmus“ nicht zu Hause stehen? Das Motiv der sexuellen Befreiung (die bei Reich „für alle“ gemeint war) differenzierte sich später mit den Kämpfen um Abtreibung in die sexuelle und soziale Befreiung der Frau und taucht heute in der „Queer“-Bewegung wieder auf – beides Bewegungen, die von der marxistischen Linken heute eher distanziert betrachtet werden. Aus guten und aus schlechten Gründen.
Ich denke, die schwer auflösbare Spannung zwischen den beiden Welten liegt im Umgang der Psychoanalyse mit dem Irrationalen, dem nicht-Vernünftigen, das einem streng auf Rationalität und Messbarkeit ausgerichteten Marxismus widerstrebt. „Träume sind die Abgase der Hirnstoffwechsels“, erklärte mir mal ein Anhänger der kritischen Psychologie. In der Psychonalyse dagegen sind Träume eine wichtige Produktivkraft zur Befreiung des Menschen von inneren Zwängen, die ihn von seiner Verwirklichung in der Gesellschaft abhalten.
Die marxistische Linke würde zweifellos weiter verarmen, wenn sie das psychoanalytische Denken ausschließt. In meiner Zeit in der Zeitschrift „Neues Forvm“ schrieben die eindrucksvollsten Analysen immer die Autoren, die den marxistischen mit dem psychoanalytischen Blickwinkel zu verbinden wussten. Auch heute wäre diese Qualität gefragt, mit der Trump-Wahl zeigt sich, wie viel Irrationalität und Fiktionalität den Lauf der Welt mitbestimmen. Begriffe aus der Gefühlswelt wie „Wut“ befeuern die politische Rhetorik von rechts. Die marxistische Analyse muss dafür Begriffe finden, sonst kann sie die Gegenwart nicht mehr erfassen.
Weiters wäre der Linken auch in der Selbstbetrachtung ein wenig psychoanalytischer Blick zu empfehlen, um etwa dem Zwang zur Wiederholung von Fehler zu entkommen. Marx selber hat mit der „Charaktermaske“ eine „psychoanalytische“ Begrifflichkeit etabliert, die unterscheidet zwischen der gesellschaftlichen Rolle und dem persönlichen Ich.
Also, Marx lesen UND Freud lesen, wie wir es in der MASCH auch tun. Was dagegen ?
Wie steht der Marxismus zur Psychologie?
Von Tobias Reichardt, Hamburg
Als Marx seine Theorie entwickelte, existierte die moderne Wissenschaft der Psychologie noch nicht. Auch die Fragen, die Marx sich stellte, waren nicht psychologischer Natur. Dass das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein bestimme, bedeutete für ihn vor allem, dass die soziale Lage und die daraus sich ergebenden Interessen das Bewusstsein, die Ideologie und das soziale Handeln der Menschen erklärten. Emotionen spielten in diesem Modell keine wesentliche Rolle. Insbesondere die Frankfurter Schule hat dann dazu beigetragen, den zunächst vor allem ökonomisch orientierten Marxismus mit der Psychologie zu verbinden. Zweifellos war die Entstehung der Psychologie ein wissenschaftlicher Fortschritt. Gleichzeitig war die Entwicklung von Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie auch ein gesellschaftlicher Fortschritt, der es ermöglichte, mehr Menschen in ihren subjektiven Leiden zu helfen. Ebenso war es ein Fortschritt für den Marxismus, auch die subjektiven Mechanismen, die den Menschen bestimmen und die sich gewiss nicht allein auf rationale Interessenverfolgung reduzieren lassen, in der Theorie zu berücksichtigen. Die (Sozial-)Psychologie hilft zum Beispiel dabei zu erklären, warum Lohnabhängige gegen ihre eigenen Interessen rechtsradikale Parteien wählen, was auch hier bei „DIE DREI“ bereits diskutiert wurde.
Auf der anderen Seite stellt dieser Fortschritt der „wissenschaftlichen Produktivkräfte“ auch ein gestiegenes Potenzial dar, die Menschen zu manipulieren, indem ihre emotionalen Bedürfnisse gezielter angesprochen und für Zwecke der Herrschaft nutzbar gemacht werden. Oftmals hatte die Linke daher ein kritisches Verhältnis zur Psychologie: Man kritisierte eine Individualisierung gesellschaftlicher Probleme, die darin bestehe, dass der Einzelne für Probleme verantwortlich gemacht wird, die sich in Wirklichkeit aus der kapitalistischen Gesellschaft ergeben. Man argwöhnte, dass Unangepasste zu Kranken erklärt und dann mit Medikamenten oder Therapien zur Konformität gebracht würden. Bei aller prinzipiellen Berechtigung von Psychologie und Psychotherapie ist diese kritische Perspektive zu bewahren. Die westliche Welt erlebt heute einen Psycho-Boom. Eine Entstigmatisierung und Normalisierung psychischer Krankheiten findet statt und wird politisch auch gewollt. Die Zahl der diagnostiziert psychisch Kranken ist enorm gestiegen. Immer häufiger schicken Eltern ihre Kinder in eine Psychotherapie. Teilweise verwenden Jugendliche ihre (angebliche) Diagnose in den Sozialen Medien als Mittel, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Der Marxismus setzt jedoch in der Tradition der Aufklärung voraus, dass der Mensch zu vernünftiger Selbstbestimmung fähig ist. Er soll ja nicht nur für sich selbst Verantwortung übernehmen, sondern darüber hinaus auch die soziale und politische Welt gestalten, verändern, verbessern können. Sich einem Psychotherapeuten wie einem Beichtvater anzuvertrauen steht dazu in einem gewissen Widerspruch. Es besteht die Gefahr, dass das Individuum sich übermäßig mit seinen individuellen psychischen Problemen beschäftigt, dass kleine Probleme dadurch vielleicht zu großen gemacht werden. Eine Überbetonung psychischer Verletzungen und deren Aufblähung zu angeblichen Traumatisierungen wird zu Recht vielfach als victim culture kritisiert. Der woke Zeitgeist neigt dazu, Menschen als passive und hilflose Opfer zu sehen. Ihre Handlungsfähigkeit und die Fähigkeit, auch schwierige Situationen zu bewältigen, wird dabei unterschlagen. Dies widerspricht aber dem Gedanken von Mündigkeit und Selbstbestimmung und trägt eher dazu bei, den psychischen und sozialen Zustand des „Opfers“ noch zu verstärken.
Formen von Gemeinschaft, die dem Individuum Halt gegeben haben, wie die Familie, sind im Kapitalismus im Verfall begriffen, ohne dass adäquate neue Formen entstanden wären. Einsamkeit nimmt zu. Die Sozialen Medien schaffen keine höhere Form der Gemeinschaft, sondern verschärfen eher das Problem, indem sie z.B. Konkurrenz bei Jugendlichen um Aufmerksamkeit und Anerkennung verstärken. Diese Tendenzen, die die Gesellschaft selbst hervorgebracht hat, sind wichtige Ursachen psychischer Probleme und Erkrankungen. Die Lösung dafür kann nicht individuell sein. Der Marxismus sieht in einer „Psychotherapie für alle“ keine Lösung, sondern in einer das soziale Ganze berücksichtigenden wissenschaftlichen Analyse und im reflektierten politischen Handeln, das auf die Schaffung und Stärkung von Formen solidarischer Gemeinschaft zielt.