Daddy Cool

Neue, durchgesehene Version des Kapitels „Vater“, aus „Mann auf der Couch“, Seite 152. ACHTUNG! Der Text hat Stellen, die als „eklig“ („Ekel“ ist ein tolles Wort (Polanski!), „eklig“ dagegen affig geworden, aber auch „affig“ ist ein Scheisswort) empfunden werden können. Doch der MAC erachtet es als Erfolg, wenn sich seine Scham auf den Leser überträgt und ist dem Verlag dankbar, dass die Stellen erscheinen konnten. Die „Stellen“! JAAA! „Stellen“ ist ein gutes Wort. M.H.

ÄHEM, HIR GIBT ES DEN MAC ZU KAUFEN: https://www.textem-verlag.de/textem/literatur/470

Einen der wichtigsten Träume meines Lebens träumte ich gar nicht selber. Sondern mein Vater. Jetzt kommt’s. Jetzt wird es eklig. Hatten wir schon das Thema Scham? Ich muss so 12, 13 gewesen sein. Mein Vater hatte abends Leute zu Besuch, ich saß dabei und aß noch was. Geschäftsfreunde, wie man damals sagte, andere Freunde hatte er nicht, bis auf einen, Onkel Stefan, einen fast blinden Zahnarzt, aber mit Katja, dessen viel jüngerer Frau, sie wurde »Katze« genannt, ging er ins Bett. Dann war es mit der Freundschaft auch vorbei und die ganze Familie hatte keinen Zahnarzt mehr.

         Es kam immer wieder vor, dass er mich vor Leuten bloßstellte. Der Michi, der hat zwei linke Hände, sagte er dann oft. Oder: Der Michi, der geht immer den Weg des geringsten Widerstands. Held ist er keiner, der Michi. Doch diesmal, vor den Geschäftsfreunden, kam es massiver.

         »Ich hatte einen seltsamen Traum«, sagte mein Vater – in Wirklichkeit wahrscheinlich auf Wienerisch: »I hob an komischen Traum ghobt« –, »ich lag im Bett, und mir ist eine Karotte aus dem Oasch gewachsen. Und dann kam der Michi angehoppelt, er war ein Hase, und begann daran zu knabbern.« Ich war wie erstarrt. Ich sprang nicht auf und lief nicht davon. Ich denke, ich saß einfach da und sagte nichts oder lachte mit. Kaute langsam weiter, dann war der Mund leer. Auch den Gästen muss es peinlich gewesen sein. Aber ich weiß es nicht mehr.

         Ich erinnere mich nur an den Traum des Vaters und dass er ihn in meiner Anwesenheit vor anderen erzählte, und ich denke, dass es wirklich so war. Dass es wirklich so war! HEUL DOCH! Das klingt so jämmerlich, das ist die Scham, die mich klein und unbeweglich macht, JEDEN TAG, IMMER! Selbst das Schreiben über Scham macht mich klein (deshalb müssen die Buchstaben groß sein), es ist das Schämen für das Schämen, ein dauerndes Spiegelkabinett, aus dem es für mich kein Entrinnen gibt. Scham ist die vorweggenommene Schande, bevor es aufgefallen ist also. Schlecht auffallen, das gilt es immer zu vermeiden, immer schon. Der Schande entgehen, das war auch bei Oma das wichtigste. Es gab Filme damals, die hießen „Die Schande“, es war ein großes Thema der Zeit.

         Warum hat mein Vater den Traum so exhibitionistisch erzählt ? Wollte er was verbergen damit? Er ist tot, ich kann ihn nicht mehr fragen. Ich tat es aber auch nicht, als er noch lebte. ES IST SO PEINLICH. DAS SCHEIẞEN. DAS SCHEIẞEN EINER KAROTTE. DAS KNABBERN AN DER SCHEIẞWURST, DIE EINE KAROTTE IST. ODER UMGEKEHRT. Eigentlich sagt der Vater ja, aus dem Arsch »gewachsen«. DER HASE SEIN. Der Vater sein. IN WAS FÜR EINEM FILM SIND WIR HIER? PASOLINI. GASTMAHL DER LIEBE. DAS KRANKE, DAS IRRE, DAS ABNORMALE. SICH ERNÄHREN VOM DRECK DES VATERS. Der aber auch eine Karotte ist. MAL NACHGEFRAGT: IST DIE KAROTTE NICHT AUCH EIN SCHWANZ, DER IM ARSCH AUS- UND EINFÄHRT? EIN KNÜPPEL? WIE SOLL ES JETZT WEITERGEHEN? WAS KANN JETZT NOCH KOMMEN?

            Nochmal anders nachgefragt, sachte, sachte, brachte mein Vater in dem Traum und mit dem Traum, indem er ihn halböffentlich erzählte, etwa eine gewisse Geringschätzung mir gegenüber zum Ausdruck? Der Sohn, der seine Karottenscheiße frisst? Sieht so aus. Könnte sein! Heiße Theorie. Wahrscheinlich! Durchaus! Die Worte kannst Du alle vergessen. IST DAS JETZT DIE RICHTIGE SCHEIẞPERSPEKTIVE?

Warum das ausgraben, wieder und wieder, noch einmal und noch einmal. Hier jetzt wieder. Ich wünschte, meine Geschichte mit dem Vater wäre unwichtig.

Ich müsste mich damit nicht belästigen. Ich wäre frei davon. Alle wären frei davon. Die beiden Analytikerinnen. Die Psychoanalyse. Dieses Buch. Man denkt sich, man erzählt die Geschichte, dann wird sie irgendwie fachmännisch kommentiert, zurechtgeknetet, handlich gemacht, verliert mit der Zeit ihren Schrecken, oder ihre Wirkung. Aber die Geringschätzung durch den Vater verliert ihre Wirkung nicht.

         Naja, Doktor Von sagte mir jedenfalls, wenn es wie häufig um die Schwierigkeit ging, mich über meinen Vater zu erheben, ich solle mir bewusst machen, ich hätte in meinem Leben viele Sachen besser gemacht als mein Vater in seinem Leben. In dem Alter, in dem ich jetzt bin, war mein Vater ein alkohol- und tablettensüchtiges Wrack, verarmt, allein, von allen verlassen, von mir auch. Und hatte nur noch wenige Jahre zu leben. Mir geht es blendend dagegen. Bin nicht süchtig, nicht verarmt, nicht allein, nicht verlassen. Das müsste mich doch trösten. Trösten, das sagte sie nicht. Trost ist keine Kategorie in der Psychoanalyse. Sie sagte wahrscheinlich eher, ich solle das auch sehen, oder zu sehen versuchen.

»Glauben Sie eigentlich, dass Sie depressiv sind?«, fragte mich Doktor Von dann und wann, vielleicht einmal im Jahr. Ganz arglos, als gehöre es gar nicht hierher. »Naja, irgendwie vielleicht schon«, sagte ich dann, »manchmal bin ich so niedergeschlagen, dass ich kaum atmen kann.« »Dann müssen Sie sich was verschreiben lassen«, sagte die Analytikerin dann, »es gibt heute gute Medikamente.« »Ich will mir nichts verschreiben lassen«, sagte ich dann, »ich denke mir, was wir hier machen, hilft auch.« »Sie können sich das ja überlegen«, sagte sie dann, oder: »Wollen Sie sich das überlegen?« Ich mache einen Termin bei dem Psychiater, den sie empfiehlt, fahre hin, gehe dann aber nicht rein.

         Mein Vater war Baumeister und Architekt, mein Großvater auch schon. Beide hatten den gleichen Vor- und Zunamen. Mein Großvater war künstlerisch begabt, er entwarf in Otto Wagners Architekturbüro im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts Jugendstil-Kandelaber, die heute noch an der Außenseite der Hofburg am Heldenplatz hängen. Heldenplatz! Stolz! Mein Vater entwarf Einfamilienhäuser oder renovierte einmal die Halle eines Autodroms im Wiener Prater, das fand ich toll. Der Großvater wurde mit Mitte 30 so depressiv, dass er nicht mehr arbeiten konnte. Er saß nur mehr da und rieb sich den Kopf, bis alle Haare ausgefallen waren. Dann taub. Die Großmutter führte die Baufirma weiter, auf kleiner Flamme, aus dem Kabinett. Bald verließ auch sie nicht mehr das Haus.

         Mein Vater war das einzige Kind und fühlte sich für seine Eltern verantwortlich. Er besuchte sie jeden Tag, jahraus, jahrein, brachte warmes Essen. Mein Großvater liebte ihn »abgöttisch« – das Wort hörte ich immer in dem Zusammenhang –, wenn er ging, legte er »Junge, komm bald wieder« von Freddie Quinn auf, laut, denn er war fast taub, und öffnete das Fenster in den Hof. Dann weinte er. Die Geschichte schreibe ich schon das dritte Mal, jedes Mal wird sie noch kitschiger. Die ersten beide Male benutzte ich sie, um meine Leidenschaft für Vinyl-Schallplatten herzuleiten, Ego-Folklore, riecht schon schlecht. Mein Großvater liebte meinen Vater nicht nur, er war auch stolz auf ihn – auf seine Firma, auf das viele Geld, das er eine Zeit lang verdiente, die großen, amerikanischen Autos. Der Chrysler Barracuda, mit dem Klang einer Schiffsturbine.

         Ich konnte nicht in diese Fußstapfen treten. Meine Mutter wollte auch nicht, dass ich denselben Namen trage, das heißt, ich trage den Namen Karl nur als ersten Vornamen, der nur in Dokumenten steht. Die ersten Jahre weigerte sich mein Vater, den von meiner Mutter und ihren Eltern durchgesetzten Vornamen Michael zu benutzen. Warum durfte ich nicht König Karl III. sein? Wäre mein Leben dann anders verlaufen? Denke ja. Man nannte mich Würmchen. Na und dann die Story mit der Karotten-Scheißwurst.

Immer alles am Laufen halten, keine Überbetonungen, keine Monokausalitäten, keine Klumpenbildung, im Rückblick war das die Strategie meiner beiden Analytikerinnen, ohne dass sie je so ausgesprochen worden wäre. Zunächst spielen da auch Vater und Mutter keine hervorgehobenen Rollen und man darf sich eine Psychoanalyse eben nicht so vorstellen, dass schon in der ersten Stunde das »ödipale Dreieck« nach Sigmund Freud verhandelt und geguckt würde, in welcher Form der Ödipus-Komplex zum Ausdruck kommt.

         Es war immer eher ich, der davon besessen war, es müsse doch ein »großes Ding« geben, ein Trauma, einen zentralen Komplex, an dem alles (was eigentlich?) seinen Ausgang genommen hat. Mit diesem detektivischen Ehrgeiz verbunden ist eine Denkweise, die das vorhandene Material, die sich dauernd verändernden Erinnerungen, immer aufs Neue durchgeht, in willkürlicher, kreisender Reihenfolge, ein System drehender Scheiben als Mechanik dieses Denkens. Erinnerungselemente kommen auf so einer Drehscheibe immer wieder mal vorbei und müssen immer wieder neu untersucht werden. Die Leute, die dafür zuständig sind, stellen ihre Aufgabe nie in Frage. Bei diesen Untersuchungen werden allerdings immer andere Kriterien angewendet, man könnte heute von »Suchbegriffen« oder von »abscannen« sprechen.

         So war ich in meinen Stunden nie verlegen, immer wieder Versatzstücke meiner Lebensgeschichte im Raum lebendig werden zu lassen, neu zu arrangieren und ins Verhältnis zu setzen – und sie dann nach immer anderen »Suchbegriffen« durchzugehen. Welche Rolle spielte mein Vater bei meiner Schwulwerdung, Nichtschwulwerdung, welchen Anteil hatte er an der Art, wie ich meine Rollen als Vater und als Journalist wahrnahm? Dem Suchkriterium Vater (ich sprach schon routiniert von meinem »Vater-Thema«) widmete ich dabei besonders viel Raum in meinen Stunden und jetzt auch in diesem Buch, weil es ein so großes Thema ist, dass man immer trifft, selbst wenn man mit der Schrotflinte darauf schießt – mit einer guten Chance, ins Schwarze zu treffen, das »große Ding« festzumachen.

         Nehmen wir mal an, sie wäre das »große Ding«, die Beziehung zu meinem Vater, was sehen wir da? Zunächst einmal erntete ich bei ihm, während mich meine Oma in den Himmel gehoben hatte, eher Ablehnung oder Ignoranz, und ich musste kämpfen, überhaupt beachtet zu werden. Und er hatte einen grausamen Hang, mich klein zu machen, abzuwerten, meinen frühkindlichen Kosenamen »Würmchen« nicht als Kosewort aufzufassen, sondern die Erbärmlichkeit, das Ausgeliefertsein des Wurms zu betonen. Als mir später klar wurde, dass sich das ganze Leben um das Entkommen aus der Erbärmlichkeit und dem Ausgeliefertsein dreht, bei meinem Vater genauso wie bei mir, entstand ein Wettbewerb, wer darin besser ist, dem Schicksal davonzurennen.

         Das »große Ding«, hier wäre es, es lastet schwer … Naja, ich hätte das ja in all den Jahren überwinden können. Aber offenbar »tut« der Fluch ja auch was für mich … Gibt dem blöden Über-Ich, das mir nichts zutraut, recht, versorgt mich mit irren Mengen von Schuld und Scham und bewahrt mich davor, Verantwortung zu übernehmen. Oder ist das nur die Ausrede für die Ausrede?

         Das »große Ding« wäre also: Ich konnte meinem Vater nicht gefallen, hätte ich ihm gefallen, wäre alles anders gekommen, alles … Super-Ausrede, hier spricht Würmchen. Denn im wirklichen Leben hatte ich eben doch einen Ausweg gefunden. Die vorenthaltene Anerkennung durch den Vater brachte mich dazu, mir andere Vaterfiguren, Ersatzväter zu suchen und mein Leben und Streben stark nach ihnen auszurichten. Eine Strategie.

Ich war kein unschuldiges Kind, wusste immer auch, wie ich meinen Vater treffen konnte, verstand schon früh, ihn mit Ersatzvätern eifersüchtig zu machen, gustierte unter den wechselnden Freunden meiner Mutter, ernannte »Onkel Max«, »Onkel Hannes« und vor allem auch »Onkel Herbert« schnell auch mal zu »Vatis« und provozierte damit meinen Vater.

         Vati Herbert lehrte mich zu duschen, statt zu baden, um schneller zum Mann zu werden und tatsächlich hatte ich unter der Dusche vor ihm meine erste Erektion. Vati Herbert schleuderte mich notorischen Feigling akrobatisch durch die Luft, Vertrauensübung nannte er das, hatte er in seiner Agentenausbildung gelernt, schmuggelte mich in jugendverbotene Kinovorstellungen, stellte mir Bier statt Apfelsaft hin und die ersten Male beduselt fand ich »Vati« noch toller. Meinem echten Vater erzählte ich stolz davon – »bei Vati Herbert darf ich das und das«.

         Vati Herbert, dieser ekelerregende Mann mit dem Frauenmörder-Bart, zog mich auf unheimliche Art an, wie meine Mutter ja offenbar auch. Ungut wurde es erst, als er begann, im Rausch meine Mutter zu verprügeln, und ich infolge eines Gerichtsbeschlusses auf Antrag meines Vaters zu ihm übersiedeln musste, was mich mit einer anderen Art von Angst erfüllte, denn der Schutz durch meine Großmutter fiel damit weg. Mein Vater aber hatte sich damit wieder ins Recht gesetzt. Den Triumph wollte ich ihm nicht gönnen. Nachdem er mich zu sich geholt hatte, zettelte ich einen Aufstand gegen ihn an.

         Mein gesamter Karriereweg ist gesäumt von älteren Männern, Chefredakteuren, Verlegern, denen ich gefiel bzw. denen ich zu gefallen verstand, ich habe mich auch sehr bemüht. Dieses Gefallen aufrechtzuerhalten und vielleicht sogar zu steigern, war das wahre Motiv, aus dem ich mich bemühte und tatsächlich Außergewöhnliches oder zumindest Auffälliges leistete. Der Verleger ist für Journalisten eine archetypische Vaterfigur, mit allen Konsequenzen. Wir sind verdammt, zu diesem Archetypus ein Verhältnis zu finden.

         Deshalb könnte man doch auch sagen, das »große Ding«, der zentrale Komplex, vom Vater zur Kackwurst gemacht worden zu sein, hat mich erfolgreich gemacht, hat mich eine Strategie entwickeln lassen, die im Kern zwar neurotisch ist, aber auch erstaunlich funktioniert. Die Erklärung wirkt immer so, als wäre ich schon dabei, den Mechanismus hinter mir zu lassen. So weit bin ich aber nicht. Noch mit Ende fünfzig, also vor ein paar Jahren, habe ich mich in eine derartige Vater-Konstellation begeben, aus der ich mich mit Hilfe einer anderen, neu aktivierten Vaterfigur – zu befreien versuche.

         Es hört nicht auf. Ich spüre heute noch, dass ich mich nicht motivieren kann oder depressiv werde, wenn nicht ein Vater bereit steht, der lobt und mir dann und wann die Wangen tätschelt. »Das ist unser Küken«, sagte ein bald 70jähriger Herausgeber und Verleger zu mir, dem bald 60Jährigen – er, ein großer Menschenfänger, hatte erkannt, wie mit mir umzugehen ist, und tätschelte tatsächlich meine Backe. Oma muss nicht mehr loben, das machen jetzt die alten Männer.

Das wäre also mein großes Ding, und wenn ich es in allen Verästelungen betrachte und in den beträchtlichen Folgewirkungen bis zum heutigen Tag, ist es wirklich ein GROSSES DING. Und was wurde in meinen Analysestunden dazu gesagt? Nicht viel. Stille. »Das kann vielleicht so sein« war, was sich Doktor Von abringen ließ. Mag so sein, mag aber auch nicht so sein. Sind Sie sicher? »Es ist normal, dass man sich Vaterfiguren sucht«, sagte sie auch, »so wie Sie ja auch als Vaterfigur gefunden werden – das gibt es doch auch, soviel ich weiß, oder?«

         Keineswegs wurde mir geraten, sofern überhaupt etwas geraten wurde, in Hamburg jedenfalls nicht, die ganze Sache in Frage zu stellen oder mich hier zu korrigieren. Selbst die aktuelle Affäre mit dem bald 70jährigen Herausgeber wurde freundlich aufgenommen, steckte ich in Problemen, hieß es: »Haben Sie denn schon mit Herrn Bissinger gesprochen? An Ihrer Stelle würde ich mal mit Herrn Bissinger sprechen. Er kann sicher helfen.«

         Warum auch korrigieren? Man kann es ja auch so sehen, dass ich mein düster wirkendes Lebensschicksal in etwas umgemünzt habe, das irgendwie funktioniert und mir ein doch ziemlich gutes Fortkommen ermöglicht. Während mein Vater mich sadistisch kleingehalten hat, ist er später elendig zugrunde gegangen, während ich mir gewisse Überlebenstechniken angeeignet habe. Dumm gelaufen, aber eigentlich doch für ihn.

Beim Thema Geld und Schulden war ich in einer bestimmten Phase meines Lebens allerdings dazu verdammt, die Tragödie meines Vaters zu wiederholen.

»Das ist lustig, das ist schön, das ist das Zugrundegehen«, schrieb Konrad Bayer, es muss ja nicht wahr werden. Aber stimmt es wirklich, was ich hier schreibe, dass ich aus dem Ärgsten schon raus bin? Jetzt sieht es wieder nicht danach aus. Nein, ich bin nicht besser als mein Vater, warum will ich das denn auch sein?

         »Sie machen doch eigentlich alles besser als Ihr Vater, sehen Sie das denn nicht«, sagte die Analytikerin in Hamburg. Naja. Mit dem Anerkennen dieses Umstands stünde ich ohne Ausrede da, meine eigenen Schulden nicht zu bezahlen, zum Beispiel die bei der Analytikerin, die da vor mir sitzt.

         Zum Überwinden des Vaters – aber was heißt Überwinden, es geht um einen realistischen Blick – gehört übrigens auch das Betonen anderer Erlebnisse als der negativen, es gab ja nicht nur Übles und Gemeines und Herabsetzendes. Die Ausflüge ins Café Signal, in dem eine Modellbahn ihm den kleinen Mokka und mir den Almdudler brachte. Die Samstagmittage, wenn ich bei ihm zu Besuch war und wir auf dem Sofa lagen und er die neue Micky Maus UND die neue Fix und Foxi vorlas, in einem Rutsch, alle Geschichten, bevor er einschlief und ich stocksteif (die Couch war so eng), aber glücklich an die Decke starrte, bis ich auch einschlief.

         Das alles begann ich erst in der Analyse zu sehen, die Bilder waren davor regelrecht ausgelöscht, zu sehen und wertzuschätzen und mit den anderen, negativen in ein Verhältnis zu setzen.

         Die Aussöhnung, wie man so schön sagt, die übrigens auch ein Grund ist, in Analyse zu gehen, gelang und es fühlte sich wunderbar an. Ich hatte einen guten Vater, er hatte getan, was in seinen Kräften stand – und nicht getan, was er nicht vermochte. Und die Analyse hat mich von einer übertriebenen, negativen Legende befreit, die mich tatsächlich dazu verdammt hätte, bis ans Lebensende Fehler zu wiederholen, das Würmchen mit seiner Kackwurst zu bleiben. Hier wäre mal das Kapitel mit Happy End.

         Ich saß da und weinte, das war das eine Mal. Nicht weil mich mein Vater so schlecht behandelte, sondern weil ich ihn so liebe. Das habe ich mir dann doch gemerkt.

Im Sinne der Aussöhnung könnte man auch milde sagen, mein Vater hatte viel Pech mit mir, und ich mit ihm. Das ist ein Unglück. Hatten meine Kinder mehr Glück mit mir?

         »Ihr Vater hat sich auf seine Art sicher bemüht«, höre ich noch Doktor Von sagen, »oder denken Sie, er hat sich nicht bemüht?« Ich hatte die Frage damals rhetorisch verstanden und nicht beantwortet und war frustriert, dass die Analytikerin bei der Suche nach dem »großen Ding« wieder mal nicht mitmachte und zu erkennen gab, es sei an der Zeit, meinen Vater selig ruhen zu lassen. Aber ich, ich habe immer noch eine Rechnung offen mit meinem Vater und kann die Bücher nicht schließen, auch wenn mir das nicht hilft.

         Meine Eltern waren sehr jung, als ich geboren wurde, 18 und 19, Teenager-Eltern in den 50er Jahren, als es das Wort noch gar nicht gab. Schon nach einem Jahr trennten sie sich, hässlich, mit schlimmen Vorwürfen. Mein Vater wollte die ganze Geschichte hinter sich bringen, aber es gab ja den Buben, mich. Den Buben, der eher nach der Mutter kam und von der inzwischen verhassten mütterlichen Familie geprägt war, also meinen Großeltern, bei denen meine Mutter und ich wohnten.

         Wie meine Mutter hatte ich »zwei linke Hände«, wie meine Mutter war ich eher »musisch« und technischen Dingen nicht so zugeneigt wie Papa, der Bauingenieur und Architekt. Nie im Leben wäre ich auf ein Gerüst geklettert, lieber saß ich im Auto und las die Micky Maus. Als mir mein Vater ein Modellflugzeug kaufte, baute ich es so schlecht zusammen, dass die Enttäuschung mit Händen zu greifen war. Ich saß da und heulte Rotz und Wasser. Ich konnte ihm nicht gefallen, das war der Beweis.

         Solche Episoden gibt es viele, und ich habe sie alle vor meinen beiden Analytikerinnen ausgebreitet. Meine Sehnsucht, ihm zu gefallen, eskalierte in späteren Jahren, als ich als junger Chefredakteur in gewisser Weise erfolgreich war und nun damit versuchte, meinem Vater zu gefallen. Dass ich, der Tölpel, das Würmchen, Chefredakteur geworden war, CHEFREDAKTEUR, das müsste doch zumindest ein Anfang sein, dachte ich.

         Mein Vater nutzte die Situation aber eiskalt aus – »Jetzt, wo Du so erfolgreich bist, Michi, verdienst Du ja auch sicher gut« – und ließ mich für Kredite bürgen, die er nicht mehr bezahlen konnte. Ich unterschrieb, um ihm zu gefallen, vielleicht auch aus Feigheit und Schwäche, Nein zu sagen.

         Es ging um viel Geld und die Schulden brachten mich über viele Jahre in ernste Probleme. Nicht bis heute, das würde ich nicht sagen, aber manches hat damals begonnen. Nein, mein Vater ist nicht an »allem« schuld. Das kann man vielleicht über die Psychoanalyse befinden: dass sie nach vielen Anwendungen einen gewissen Gerechtigkeitssinn produziert, eine Art Pflichtgefühl, Dinge ausgewogen darzustellen.

         Ich stand also mit den Schulden da. Wenn ich mit zittriger Stimme nachfragte, ob er sich an der Rückzahlung beteiligen wollte, kündigte er Zahlungen an, die nie kamen. Die Gespräche verliefen in einer Atmosphäre, als wäre ich schuldig – und nicht er. Die »äußere« Realität verflüchtigt sich in solchen Konstellationen, verblasst gegenüber der inneren, die das Handeln diktiert.

         Sieht so aus, als wäre damals der Grundstein gelegt worden für meine Schuldenkarriere, der Grundstein für meine spätere Pleite und Insolvenz. Die Schulden für meinen Vater waren das erste fette Minus auf meinem Konto, und ich sollte bis heute nicht mehr ins Plus kommen. Tief- und Höhepunkt meiner Schuldenkarriere war die private Insolvenz, die ich im Jahr 2000 anmelden musste, in dem Jahr, in dem ich Doktor Von kennenlernte. Ich musste über sieben Jahre mit dem Existenzminimum auskommen, alles, was ich darüber hinaus verdiente, ging an die Gläubiger.

Eva half mir durch die Dürreperiode. Meinen Plattenspieler, meinen einzigen Wertgegenstand, konnte ich all die Jahre retten, nur einmal drohte der Insolvenzverwalter, ihn abzuholen, tat er dann aber nicht. Auch mit Schallplatten hatte ich Glück, es war die Zeit, als es interessantes Vinyl noch zu Spottpreisen auf Flohmärkten gab. Und mit der Zeit machte es mir sogar Spaß, mich in das Angebot von Aldi einzuarbeiten und mich samstags friedlich und demütig in die Schlange der Habenichtse vor der Kasse zu stellen, also in die Schlange der normalen Menschen, zu denen ich langsam auch zu gehören begann.

         Trotzdem, die Insolvenz war nach der Alkoholsucht der zweite große Schamkomplex meines Lebens. Ich verbarg sie vor den Leuten, bestellte im Restaurant nur ein Getränk, ich hatte ja schon vorher gegessen. Auch vor den Kindern getraute ich mich erst viel später, meine Pleite einzugestehen, nach und nach, Andeutungen in einzelnen Gesprächen, die ganze Wahrheit, die Kombination aus Schulden & Alkohol, wahrscheinlich bis heute nicht, aber vielleicht ist das ganze vielleicht doch nicht so interessant, wie ich denke, oder so bedeutsam, für andere. Wenn die Kinder älter werden, ist nur noch eine alte Geschichte für sie. Sie sind mit ihrem neuen Leben beschäftigt, während ich mit meinem alten da sitze.

Als ich wieder eine Anstellung als Chefredakteur in einem großen Verlag bekam, musste ich die Insolvenz beim Vertragsgespräch mit dem Vorstand erklären. Das war ein gutes Training und ich machte auch die Erfahrung, dass es Verständnis und Unterstützung gibt. Auch heute, wenn ich dieses Buch schreibe, ist unsere Agentur jederzeit vom Absturz bedroht. Der Umgang mit Geld ist die Krankheit meines Lebens. Mit dieser Krankheit kam ich auch bei Doktor Von an- und an dieser Krankheit sollten wir auch scheitern, dann, am Ende.

         Als die sieben Jahre vorüber waren und die private Insolvenz zu Ende ging, ich war erstmals im erwachsenen Leben schuldenfrei, führte ich keineswegs Freudentänze auf. In den Stunden mit Doktor Von hatte sich herausgestellt, wie sehr ich die Insolvenz auch als Schutz empfunden hatte, als Schutz vor den Gläubigern, aber auch vor mir selbst, weil ich mich nicht weiter verschulden konnte. Ich konnte einfach keinen Unsinn machen. Die Insolvenz war ein geschützter Raum für mich, wieder so eine Art Uterus, in dem ich mich entwickeln konnte. Und die Scham passte ohnehin in mein Konzept.

Für meine Entwicklung mussen allerdings die Mütter meiner Kinder bitter bezahlen, für die ich auch kein Geld mehr hatte. Bei Pia konnte die englische Familie aushelfen. Eva war ohnehin gewohnt, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich musste mein überforderndes Wochenend-Papi-Herumgefahre extrem reduzieren. Damit kam ich aber auch zur Ruhe und konnte mich auf mein Leben in Hamburg zu konzentrieren. Am Ende, das dachte ich mir zwar damals noch nicht, damals plagten mich mehr die Schuldgefühle, aber heute denke ich es, am Ende haben die Kinder mehr davon, einen halbwegs reifen Vater zu haben als jemanden, der die Kontrolle über sein Leben verloren hat, aber jedes zweite Wochenende vor der Tür steht.

         Das Ende der Insolvenz war unspektakulär. Emotional war ich seltsam abgestumpft, weder hasste ich meinen Vater, der am Anfang meines Schuldendesasters stand, noch den Insolvenzverwalter, noch die Bank, die mich und viele andere mit der Finanzierung einer überteuerten Eigentumswohnung in Berlin in die Pleite getrieben hatte. Ich blieb Aldi-Kunde und kaufte auch weiterhin Platten vom Flohmarkt. Es war alles, wie es ist, oder wie es war. Schule des Lebens. Danke, Papa.

         Bei Doktor Von war meine persönliche Pleite ohnehin nie richtig angekommen. Den Zusammenhang mit den Ur-Schulden, die mir mein Vater angehängt hatte, fand sie sicher zu weit hergeholt. Ich erklärte ihr den Hergang und die Rechtslage einer privaten Insolvenz mehrmals, sie verstand es nie richtig. Vielleicht hatte ich nur nicht die richtigen Worte gefunden, oder sie maß dem Drama nicht die Bedeutung bei wie ich lange Zeit. »Was bedeutet es denn jetzt, wenn Sie keine Schulden haben?«, fragte sie mich etwa und ich reagierte gereizt, was soll es denn schon bedeuten, dass ich eben keine Schulden mehr habe!

         Die Weisheit, die in dieser Frage steckt, erkenne ich erst heute. Ja, was bedeutete es? Jetzt erkenne ich: Ich war nur teilweise geheilt. Denn ich vermied es weiterhin, meine Finanzen in die Hand zu nehmen, sondern übertrug die Rolle des Insolvenzverwalters auf Eva, die sich um unsere inzwischen gemeinsamen Finanzen kümmerte. »Mit Geld habe ich heute eigentlich nichts mehr zu tun«, sagte ich manchmal in der Stunde, als könne ich mir das leisten.

         Mit Eva, wir waren zu der Zeit ja schon dabei, uns selbstständig zu machen, hatte ich eine gemeinsame Kasse, die sie verwaltete, und ich bekam nur eine Art Taschengeld, es war mir auch recht so. Damit kam ich in die peinliche Situation, immer wieder mal betteln zu müssen, ob ich mir denn eine Schallplatte oder ein Buch oder ein HiFi-Teil kaufen »dürfe«, was Eva auf Dauer unsexy fand. Inzwischen ist es auch zum Problem in unserer Beziehung geworden.

         Mein weiterhin gestörtes Verhältnis zu Geld offenbarte sich auch in dem ständigen Ärgernis um die Bezahlung meiner Rechnungen von Doktor Von, das eskalierte und zum Abbruch der Therapie mit beitrug. Das Anerkennen der Realität – und Rechnungen, die man für erbrachte Leistungen erhält, sind so eine Realität – enthält für mich Unerträgliches, heute noch rede ich rum, finde Ausreden und bekomme, wenn ich dann mit dem Rücken zur Wand stehe, einen kindischen Wutanfall.

Dieses negative, von Angst und Abwehr geprägte Verhältnis zum Geld führt auch dazu, dass es mir schwerfällt, um Geld zu kämpfen, Forderungen durchzusetzen, Verhandlungen zu führen. Für einen Unternehmer, der ich heute bin, eine schlechte Voraussetzung. Was sich in meinen Größenphantasien abspielt, verflüchtigt sich sofort unter dem kritischen Blick eines Gegenübers.

         Hier wirkt auch mein überstrenges Über-Ich, dem ich einfach nicht genügen kann. Was ich für meine Leistung auf die Rechnung schreiben kann, erscheint mir immer zu viel, ich will es immer reduzieren, so sehr wir das Geld auch brauchen, um die Gehälter unserer Angestellten bezahlen zu können. Nicht gut.  

unknown 1
Aufgedeckt! Der Mann, der den Karren in den Dreck fährt … Naja. Daddy Cool!

Geblieben aus der Schulden-Konstellation mit dem Vater, wenn wir hier Kausalitäten annehmen wollen, ist auch meine Schwierigkeit, Nein zu sagen. Ich konnte nicht Nein sagen, als Tom begann Drogen zu nehmen, was er mir später bitter vorhielt. Eventuell bin ich mit den später nachgekommenen Kindern wie den beiden Mädchen Tonti und T. etwas besser geworden, aber viel nicht. Und ich kann im Geschäft nicht Nein sagen, oder fast nicht, wenn ein Deal ganz schlecht ist und man eigentlich Nein sagen müsste, allein um Selbstbewusstsein zu zeigen oder um die Kosten wieder einzuspielen. Nein sagen fällt mir auch schwer, wenn Mitarbeiter Forderungen stellen, die mir eigentlich gegen den Strich gehen oder die ich mir gar nicht leisten kann.

         Diese Schwächen gelten zwar mitunter als sympathisch, aber man wird damit nicht richtig erfolgreich. Nicht Nein sagen können kann auch lebensgefährlich sein, da fällt mir ein Traum ein, ich fahre mit hoher Geschwindigkeit auf ein Hindernis zu, aber mein rechtes Bein ist bleischwer, ich kann nicht auf die Bremse steigen.

         Im wachen Leben entwickelt sich mein rechtes Bein tatsächlich in diese Richtung. Ich habe eine Arthrose im Hüftgelenk und an schlechten Tagen muss ich das Bein mit beiden Händen anheben, um es im Auto entsprechend in Position zu bringen. Überhaupt bemerke ich, dass sich mit dem Älterwerden meine Macken immer deutlicher am Körper abbilden. Die Füße schmerzen, weil ich die Last nicht mehr tragen kann, sagt der Osteopath.

Mein Vater ist schon lange tot, er starb zwei Jahre nach meiner Mutter, völlig verarmt. Als er in dem Alter war, indem ich jetzt bin, ging es ihm sehr, sehr schlecht, so schlecht wie es einem Mann nur gehen kann. Ruiniert von Tabletten und Alkohol, ein Mann, der alles verloren hatte, den Besitz, die Frauen, die Kinder. Der aber Größe darin zeigte, das alles zu ignorieren. Noch ein paar Monate vor seinem Tod gelang es ihm, an einen gebrauchten Mercedes zu kommen, mit dem fuhr er ohne Führerschein zu imaginären Terminen.

         Jetzt, wo alles zu spät ist, suche ich die Nähe zu meinem Vater. Ich bin 64 Jahre alt, er ist vor 18 Jahren gestorben. Ich denke jeden Tag mehrmals an ihn, aber »an ihn denken« trifft es eigentlich nicht, eher erscheint er mir, verknüpft mit Körpergefühlen, Gerüchen, Bildern, beim Blick auf meine Hände, sie sind so groß wie seine, oder wenn ich nackt vor dem Spiegel im Badezimmer stehe. Ähneln sich unsere Körper? Ich habe ihn nie nackt gesehen. Ich habe ihn nie beim Sex gehört.

         Nur Noni, seine zweite Frau und meine Stiefmutter, der ich in der Pubertät erotisch sehr nahe gekommen war, vertraute mir einmal an, mein Vater habe eine »sexuelle Eigenheit« – es war damals die Zeit der endlosen Aufklärungsgespräche zwischen Eltern und Kindern, YouPorn gab es noch nicht –, eine Eigenheit, über die sie nicht sprechen könne. Ich hoffte immer darauf, Noni, so nannten meine Kinder ihre Stief-Großmutter später, würde einmal darauf zurückkommen, aber die beiden, die Stiefmutter und mein Vater, haben das Geheimnis mit ins Grab genommen.

         Meine Phantasie war immer, es sei etwas Anales gewesen, das hätte sich dann sozusagen auf mich vererbt, oder etwas Orales, das heißt, sie musste ihm dauernd einen blasen. Der Wunsch besteht bei mir weniger, die wenigsten Frauen können das, eigentlich nur Nutten, und wenn es schlecht gemacht wird, ist es unangenehm.

         Papa hatte Haare auf der Brust, ich nicht. Schon mit 50 bekam er einen leichten Buckel, ich gehe mit 64 Jahren noch stramm. Er war nicht sportlich, ich bin es auch nicht. Er konnte aber manche Dinge sehr gut, wenn es ihm der Beruf abverlangte oder der Selbstinszenierung diente, zum Beispiel gelenkig wie ein Affe ein Baugerüst hochklettern, mit »Jaxon & James«-Hut, tiefschwarzer Sonnenbrille und einer »Smart«-Zigarette im Mundwinkel. Als Kind starb ich vor Neid und Scham. Heute noch, wenn ich Baustellen sehe, muss ich an ihn, den Baumeister, denken. Wie er mich, ich war sieben, acht Jahre alt, mitnahm, um mir seine Welt zu zeigen. Wie ich trotzig im Auto sitzen blieb, den Blick starr in die Micky Maus gerichtet. Ich las nicht, ich hatte nur Angst, wovor eigentlich? – eventuell auch auf das Gerüst klettern zu müssen.

Neben dem Haus in Hamburg-Lokstedt, in dem ich mit Eva und Tonti und T. lebe, ist seit einem halben Jahr eine große Baustelle, eine Neubausiedlung entsteht. Große Kräne stehen da, die in der Nacht den Himmel über unserem Haus beleuchten, wie ein künstliches Firmament. Am Anfang dachte ich, die Baustelle würde uns stören. Doch inzwischen sehe ich jeden Morgen aus dem Fenster und erfreue mich an den Fortschritten. Ich denke an meinen Vater, wie er aus dem Volvo steigt und alle zusammentrommelt und das Kommando übernimmt, und Teil, wichtiger Teil, eigentlich der zentrale, dieser Welt des Werdens ist.

         Schon bald werden Kinder einziehen, die hier, in diesen Häusern, erwachsen werden und später mit weicher Stimme von ihrem Elternhaus sprechen werden. Es freut mich zu sehen, wie in den ausgehobenen Gruben über Nacht Keller gemauert werden, ich bewundere die rasende Geschwindigkeit, in der Mauern wachsen, nach dem Bauklötzchen-Prinzip, wie mit Lego-Steinen. Ich bin fasziniert von der rätselhaften Choreographie der Bauarbeiter, wie sie nie richtig zusammenarbeiten, sondern seltsam vereinzelt über das ganze Gelände verstreut herumstehen.

         Morgens beim Brötchenholen beim Bäcker am Rand des Baugeländes treffe ich auf diese Bauarbeiter, die dann vielleicht schon ihr zweites Frühstück holen. Es sind Menschen, auf die ich sonst nie treffe, auch nicht bei Aldi. Sie sehen gefährlich aus, ungewaschen, unrasiert, kräftig, auf archaische Art männlich mit ihren großen Körperteilen. Sie sind stark. Sie kommen aus Polen, Lettland, Litauen, Rumänien, aus all den nahen, aber mir fremden Ländern, die ich nur aus dem Eurovisions-Songcontest kenne.

         Aber vielleicht spielen bei den Bauarbeitern die Sprachunterschiede gar keine Rolle, weil sie eine universelle Sprache entwickelt haben, die Bausprache. Auch die Sprache meines Vaters war ganz anders, wenn er mit seinen Arbeitern sprach, bellte. Der entfernteste Ort, von dem »seine« Arbeiter herkamen – zuerst war ich stolz auf meinen Vater, dass er Arbeiter »hatte«, später hasste ich ihn dafür als Kapitalistenschwein, dass er sie ausbeutete –, war das Burgenland. Die sprachen aber auch schon damals eine andere Sprache, die ich nicht verstand, wie kroatisch oder ungarisch. Sie hatten keine Zähne und rochen stark und ich fürchtete mich.

Nachdem mein Vater das erste Mal mit seiner Baufirma pleitegegangen war, richtete er sein Büro in der Wohnung in der Margaretenstraße ein. Mein Kinderzimmer, Jugendzimmer, ich war damals 14 und es hing voll mit Postern der Beatles, der Archies (gezeichnet) und von Barry Ryan, lag nahe der Eingangstür, durch die in der Früh um 5 Uhr 30 die Arbeiter kamen, um von meinem Vater zu erfahren, auf welche Baustelle sie fahren sollten.

         Oft kamen sie auch nur, um die Mitteilung zu erhalten, dass mein Vater an dem Tag keine Arbeit für sie hatte, laut fluchend und Türen knallend verließen sie das Büro dann wieder und fuhren zurück ins Burgenland.

         In dieser Zeit lagerte in einem Abteil meines Schranks einiges Werkzeug von meinem Vater, diese harten, mich überfordernden Gegenstände, mit denen ich nichts zu tun haben wollte. Oft riss er morgens meine Tür auf, machte die Deckenbeleuchtung an und rumpelte mit dem Werkzeug herum, während ich noch im Bett lag, ohne ein »guten Morgen« und ohne mich eines Blicks zu würdigen. Am schlimmsten war, wenn er den Raum wieder verließ, das Licht ausmachte, die Tür hinter sich schloss und ich im Dunkeln oder Halbdunkeln – die Tür war eine Glastür, ich sah immer schemenhaft, was auf der anderen Seite vorging – allein zurückblieb. Papa konnte mir nicht deutlicher zeigen, dass ich das Würmchen war, das nutzlose, unsichtbare Würmchen.

Wenn es im Vorzimmer wieder ruhig geworden war, drehte ich mich oft auf die andere Seite und holte mir einen runter. Das lenkte mich ab und es war etwas, von dem ich das Gefühl hatte, man könne es mir nicht wegnehmen. Es ging immer irgendwie, es kostete nichts, es war meins und in gewisser Weise war es auch »Ich«, es war mein weißer Saft, der hier austrat, in dem meine Lebensenergie steckte. Dass ich damit etwas abgab, in die Welt brachte, das es vorher da noch nicht gab, spürte ich schon daran, dass ich nach dem Abspritzen todmüde wurde.

         Auf der anderen Seite tat ich es auch für meinen Vater, der mir immer über die Schulter schaute auf meine »zwei linken Hände«, auf meine »Wichsgriffel« (hat er das je gesagt?), die sie in dem Augenblick ja wirklich waren, obwohl ich ordnungsgemäß mit der rechten Hand wichste, und nicht mit beiden. Ich war damals der festen Überzeugung, dass mein Vater einen größeren Schwanz hatte als ich, viel größer, ich hatte die Vorstellung, sein Schwanz sei schlaff so groß wie meiner voll erigiert. Wie groß wäre dann der Schwanz meines Vaters in voller Erektion? Ein Prügel, eine Waffe, ein Schwert. Das sich jederzeit gegen mich richten kann.

         Papa roch nach Pitralon, einem in den 30er Jahren entwickelten Traditions-Rasierwasser. Die braunen Glasflaschen mit dem schwarzen Verschluss und dem roten Label standen immer im Bad herum, nie gingen sie aus. Mein Vater war immer glatt rasiert, ich kenne überhaupt kein Barthaar meines Vaters, und danach brauchte er die »desinfizierende« Wirkung des Pitralons, die einherging mit dem starken Geruch nach Teer, Nadelholz und Kampfer, ein schwerer, eigentlich medizinischer Geruch, der nachher noch lange im Badezimmer stand. Papa nutzte das Rasierwasser – man begann damals schon, Aftershave zu sagen – aber auch zwischendurch, nachdem er zum Beispiel auf der Toilette gewesen war, Männerdüfte gab es damals noch nicht.

         Papa roch den ganzen Tag stark nach Pitralon, zog eine richtige Fahne hinter sich her, für mich als Kind hatte das den Vorteil, dass ich schon vorgewarnt war, wenn er da war. Als ich meine erste elektrische Eisenbahn bekam, zu Weihnachten 1958, roch es nach Pitralon, aber auch, als er mich ins Gebet nahm, dass es in der Schule nicht so weitergeht. Es roch nach Pitralon, wenn ich am Samstagmittag beim Micky Maus– und Fix & Foxi-Vorlesen an ihn geschmiegt auf der Couch lag, und es roch nach Pitralon, als er mir eine knallte und ich mit dem Kopf gegen die Klotür flog, weil ich sein Büro verwüstet und mit Farbspray »Kapitalistenschwein« an die Wand gemalt hatte.

         Als junger Mann hatte ich den Duft immer noch in der Nase, wollte aber nicht selbst danach riechen, fast schon wie stinken kam es mir vor, Pitralon hatte in der Zwischenzeit den Ruf, billig zu sein, uncool. Das Männer-Aftershave war nach und nach durch »Männerdüfte« verdrängt worden. In den Achtzigerjahren, in der Zeit bei Wiener und Tempo, rochen wir alle nach »Cool Water« von Davidoff, danach nach »Égoïste« von Chanel. »Égoïste« gab ich später an Tom und Evas Sohn Philipp weiter, die sich damit vielleicht mit mir verbunden fühlen, hoffentlich auf eine freundliche Art. Den letzten Egoisten-Duft, den ich Tom zu Weihnachten schenkte, schenkte er mir allerdings ungeöffnet anlässlich eines Umzugs zurück.

         Da Eloise Kosmetik-Redakteurin war und es in dem Männermagazin im Verlag Condé Nast »Männer Beauty«-Seiten gab, war ich plötzlich auch beruflich mit dem Thema befasst und begann, Männerduft-Kritiken zu schreiben. Es sollte mehr als reine Produktwerbung sein, aber den Firmen auch nicht wehtun. In der Psychoanalyse bei Doktor Von in Hamburg konnte ich mit meinem Fachwissen nicht punkten. Nachdem ich zu den ersten Stunden für mich normal duftend gekommen war, bekam ich den Rüffel, ich solle auf das Einparfümieren verzichten, auch andere Patienten wollten den Raum noch benutzen. Dabei dachte ich, ich röche gut!

         Im neuen Jahrtausend hatte ich Eloise und den Job im amerikanischen Männermodemagazin längst verloren, und schon lange bekam ich keine Düfte mehr in die Redaktion geschickt. Ich hatte Geldprobleme und wenn ich mal welches zur eigenen Verwendung hatte, kaufte ich mir lieber Bücher, Platten oder hielt mein HiFi-System am Laufen.

         Männerdüfte interessierten mich zwar weiterhin, aber die Versorgung mit den hochwertigen, teuren Produkten war nicht mehr gewährleistet. Das gefiel zwar Doktor Von, aber mich konnte es nicht froh machen, ich wollte mir von ihr nicht alle Laster austreiben lassen. Vor zwei, drei Jahren wurde ich in der Hamburger Drogeriekette »Budnikowsky« fündig, die mit ihrem vielfältigen Angebot von Spitzwegerichtee, »Pronto Classic«-Möbelpolitur (die ich zum Reinigen meines Antriebsriemens beim Plattenspieler verwende) bis zu Tofuwurst, »Manner-Schnitten« aus Wien und preisgünstigen Massagestäben aus allerlei Lebensnöten hilft.

         In einer Filiale in Hamburg-Eimsbüttel gibt es ein Regal mit »Rasierwasser« und da stand eine unscheinbare, grüne Verpackung mit der Aufschrift »Pitralon« – in einer Preshave- und einer Aftershave-Variante. Zuerst dachte ich an eine Fälschung, da die 125-mg-Packung aber nur 4 Euro 80 kosten sollte, griff ich beherzt zu. Doktor Von musste es ja nicht wissen, da Pitralon, wenn es denn das echte war, hundert Mal penetranter und aggressiver riecht als die eleganten Düfte, die ich für die Stunden nicht nehmen sollte.

         Seither nehme ich das neue »Pitralon«, bei Wikipedia kann man nachlesen, wie weit es, nach einer bewegten, europaweiten, bald 100-jährigen Geschichte mit vielen Eigentümerwechseln und Markenrelaunches, überhaupt noch original ist – und was hieße schon »original«, für mich zählt ja nur die Zeit, in der mein Vater es verwendete. Und es macht mich jeden Morgen froh.

         Das Design ist zwar viel langweiliger als zu der Zeit, als mein Vater es benutzte, damals machten sich »Pitralon«-Anzeigen sogar in Artdirectors-Zeitschriften wie dem twen gut, das »Präparat«, so wurde es einst genannt, riecht aber noch ähnlich, wenn dem Geruch auch eine entscheidende Note fehlt und er sich schneller verflüchtigt als früher. Vielleicht bot mein Vater eine besonders gute Haftfläche, während ich eher Duft-abstoßend bin.

         »Pitralon« brennt immer noch leicht, wenn man es aufträgt, und kann oder seine Herkunft als Arzneimittel nicht verleugnen. Es ist noch viel besonderer als ich je gedacht hätte, denn es wurde, das erfahre ich erst jetzt aus Wikipedia, so steht es da, anfänglich nicht als Körperpflegeprodukt, sondern als Arzneimittel  gegen Pilzerkrankungen der Haut sowie von Kopf und Barthaaren, gegen eitrige Ekzeme und infizierte Wunden entwickelt: Die erkrankten Stellen sollten vier bis sechs Mal pro Tag je fünf biszehn Minuten lang mit einem vollgetränkten Wattebausch bedeckt werden. Wegen seiner besonderen Eigenschaften gehörte das Präparat zur Feldausstattung der deutschen Wehrmacht. Geil!

Die Baustelle am Nachbargrundstück, das »Pitralon«, das Brennen, wenn man es aufträgt, und der zweifelhafte, etwas halbseidene, billige (4,80 Euro!) Geruch, den man dann verströmt, nichts bringt mich meinem geliebten Vater näher. Wenn ich aus unserem Fenster auf die Baustelle blicke und dabei, also gleichzeitig, das Rasierwasser auftrage, kann ich mich praktisch zu ihm hinbeamen. Ironie ist auch scheiße, sagte ich schon, und Doktor Von ließe mir das alles nicht durchgehen. Nazi-Duft. Der Duft, das Rasierwasser, es schmerzt beim Auftragen. Schmerzensmänner sind wir, die anderen Schmerzen zufügen, mein Vater und ich.

aus: Michael Hopp, Mann auf der Couch. Textem Verlag, Hamburg 2021


 

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Scroll to Top
Scroll to Top