„Ich schreibe seit etwa 30 Jahren Meinungsbeiträge für Zeitungen, in den vergangenen Monaten ist mir das aber unmöglich. Ich habe keinen Überblick mehr, das liegt aber nicht an mir“, sagt der israelische Schriftsteller Etgar Keret in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“. „Die Leute fragen. Hey, Herr Netanjahu – was ist der Plan? Und Herr Netanjahu sagt: Ähm, nunja, der totale Sieg. Dann ruft er: Guckt mal, da drüben ist ein Vogel! Die Leute sind abgelenkt und er beantwortet die Frage wieder nicht richtig.“
Bleiben wir noch kurz bei Keret, der vor kurzem im Aufbau-Verlag den Kurzgeschichten-Band „Starke Meinungen zu brennenden Themen“ herausgebracht hat. Kertes surreale, absurde Perspektive steht in bester jüdischer Tradition, eine Schreibhaltung, die sich gerade im Umgang mit den schwersten Themen bewährt. „Die Gegenwart ist einfach nicht mehr erklärbar“, sagt er auch, „es gibt keine logische Abfolge der Ereignisse mehr. Im einen Moment sind da süße Katzenbabys und im gleichen Moment explodieren Raketen. Und man weiß nicht, warum. Als hätte das irgendein Algorithmus zusammengewürfelt, eben wir auf Social Media. Alles interessant, herzerweichend oder schockierend. Aber es ergibt keine konsistente Geschichte mehr.“
„Alles liegt unter einem Nebel aus Angst und Schmerz“, wieder Keret. „Die Situation, in der sich Israel befindet – wirtschaftlich, innenpolitisch, international, die Situation der Geiseln und die unglaublichen Katastrophen, die wir über Gaza gebracht haben – , all diese Dinge werden immer schlimmer. Und wir haben immer noch keine Antwort.“
Den Nebel etwas zu lichten, machte sich die MASCH (Marxistische Abendschule), der ich angehöre, in Hamburg auf und lud vor kurzem zu der Veranstaltung „Palästina, Israel und die deutsche Staatsräson“. Als Referent geladen war der Historiker Arne Andersen, der zuletzt mit seinem Buch „Apartheid in Israel – Tabu in Deutschland?“ (Neuer ISP Verlag) von sich reden machte. Es beschreibt die Geschichte der Region faktenreich und gut dokumentiert als historische Kontinuität der Vertreibung der Palästinenser, die schon vor 1948, der Gründung Israels, ihren Anfang genommen hätte und heute ihren Höhepunkt erreicht. Mit dem Holocaust hätte so gesehen die Situation in Gaza und Westjordanland nicht unmittelbar zu tun.
In der Ankündigung zitierte die MASCH UN-Generalsekretär António Guterres, der in einer Stellungnahme vom 28. Oktober 2023 den Anschlag vom 8. Oktober verurteilte, aber auch sagte, die Angriffe der Hamas hätten „nicht in einem Vakuum stattgefunden“. „Das palästinensische Volk hat 56 Jahre lang unter einer erdrückenden Besatzung gelitten. Es hat mit ansehen müssen, wie sein Land immer mehr von Siedlungen verschlungen und von Gewalt geplagt wurde, wie seine Wirtschaft unterdrückt, seine Menschen vertrieben und seine Häuser zerstört wurden. Ihre Hoffnungen auf eine politische Lösung für ihre Notlage haben sich in Luft aufgelöst.“ Auch der Internationale Gerichtshof hielte den Vorwurf des Genozids für plausibel.
Schon im Vorfeld der Veranstaltung gab es in der MASCH Diskussionen, ob die Veranstaltung mit der Ausrichtung vertretbar sei, einzelne Mitglieder und der Vorstand drohten mit Austritt. Ein schließlich gefundener Kompromiss ging in die Richtung, mit der Veranstaltung nicht so sehr die üblichen Konfliktlinien abzuhandeln, sondern in ihr auch die Frage nach der Berechtigung der „Deutschen Staatsräson“ zu diskutieren, der unbedingten Solidarität mit Israel, mit der Deutschland (und die Afd) in Zwischenzeit ziemlich alleine dastehen.
Die Diskussionen in der MASCH kamen nicht unerwartet, ist doch die deutsche Linke ist über die Israel-Frage seit Jahrzehnten notorisch zerstritten. Neben klassisch „antiimperialistischen“ und „postkolonialen“ Positionen gibt es extrem Israel-freundliche Strömungen. Dass der Hinweis auf die historisch gesichert dargestellte und inzwischen von Israel selbst gar nicht mehr bestrittene Vertreibungspolitik als „antisemitisch“ gebrandmarkt wird – davor war auch die Diskussion in der MASCH nicht gefeit.
Übrigens scheint sich auch die neue deutsche Bundesregierung aus der Klammer der Staatsräson nicht befreien zu können, sondern sich im Gegenteil immer weiter hineinzureiten. Ein Hinweis darauf liegt im Verhalten führender CDU-Politiker, die permanent signalisieren, der vom Weltstrafgericht in Den Haag wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Verhaftung ausgeschriebene Benjamin Netanjahu könne in Deutschland „frei ein- und ausreisen“.
Austeritätspolitik und Kriegswirtschaft gehören eng zusammen und haben schlimme Folgen, wenn noch der Bruch internationalen Rechts dazukommt, kommt Deutschland in eine Schräglage, in der von „Räson“ (Anstand) nicht mehr die Rede ist.
Die MASCH-Veranstaltung ist am Ende konstruktiv über die Bühne gegangen. Die anfangs von Tobias Reichardt vorgestellten drei „Hauptpositionen“ der Linken zu Palästina gaben dem Vortrag von Andersen einen Rahmen, der auch anderen Positionen Raum verlieh. Sie war damit ein Beitrag dazu, dem „Spaltpilz“ Palästina in der Linken, weitere Nahrung zu entziehen. Im Folgenden Reichardts Skizzen gängiger, im Gegensatz stehender linker Vorstellungen, im Wortlaut. M.H.

Linke Positionen in Deutschland gegenüber dem Nahost-Konflikt
Von Tobias Reichardt
Im Folgenden werde ich mehrere linke Strömungen in ihrer Haltung zum Israel-Palästina-Konflikt skizzieren. Die Positionen sind verhärtet, aufgrund des Gewichts der Vorwürfe – Antisemitismus, Völkermord – erscheint Verständigung oft kaum möglich. Wir wollen es trotzdem versuchen. Da es in der Vorbereitung der Veranstaltung Bedenken gegenüber der Haltung des Referenten Arne Andersen gab, sollen in der Einleitung auch andere Positionen skizziert werden, um der Veranstaltung einen Rahmen zu geben und die Diskussion nach dem Vortrag zu erleichtern. Ich stelle drei ausgeprägte Positionen dar. In der Praxis gibt es noch mehr Positionen und sie sind auch oft differenzierter, als ich sie hier vorstelle.
Klassischer Antiimperialismus
Der klassische Antiimperialismus, den vor allem Lenin geprägt hat, war dann typisch für die neu erwachende radikale Linke in den 60er und 70er Jahren, die sich ja auch zumeist als leninistisch verstand. Für die 68er Bewegung waren auch in Deutschland die Proteste gegen den Schah (den man wohl als Handlanger des Imperialismus bezeichnen kann) und gegen den Vietnamkrieg wichtig. Der Protest gegen die Ausbeutung oder Unterdrückung der Länder der Dritten Welt machte einen wesentlichen Aspekt der Neuen Linken aus. Zu Recht verwiesen diejenigen Linken, die merkten, dass es dem Proletariat in den fortgeschrittenen Ländern relativ gut ging, auf das Elend in vielen Ländern der Dritten Welt. Im internationalen Verhältnis reproduzierten sich die sozialen Gegensätze des Kapitalismus. Die formale Entkolonialisierung war noch nicht lange her und gelang oftmals nur unter Einsatz von Gewalt. Viele linke Bewegungen und Initiativen in Deutschland beriefen sich auf Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt – wie etwa in Kuba, in Vietnam oder in Nicaragua und weiteren mittel- und südamerikanischen Ländern. Oft handelte es sich dabei nicht bloß um billige politische Bekenntnisse und Solidaritätsbekundungen. So gründeten sich Lateinamerika-Initiativen oder Afrika-Solidaritätsinitiativen, die teilweise bis heute die Entwicklungen in den betreffenden Ländern beobachten und auch praktische Unterstützung für die Menschen vor Ort leisten. Ich denke dabei etwa an das 1976 gegründete Schweizer Afrika-Komitee unseres Freundes Hans-Ulrich Stauffer.
Gegen solchen Antiimperialismus kann man eigentlich nichts haben, oder?
Nun ja, sicherlich wird man in dem einen oder anderen Fall – vielleicht auch in vielen Fällen – eine naive Projektion feststellen können. Ob die jeweiligen Bewegungen wirklich das repräsentierten, was die deutschen Linken in ihnen gesehen haben, ist fraglich. Oftmals bekannten sich Bewegungen aus bündnispolitischen Gründen aufgrund des Einflusses der Sowjetunion oder Chinas zum Marxismus-Leninismus, ohne dass dies mit der realen Politik viel zu tun hatte. Schließlich gab es einige Fälle offensichtlicher Irrwege: einige, auch prominente Linke meinten z.B. – sei es aus Unwissenheit, sei es aus ideologischer Verblendung – die Roten Khmer unterstützen zu müssen die weder ihrem Land noch dem Sozialismus irgendetwas Gutes, dafür aber viel Schlechtes getan haben. Aber auch anderswo erhebt sich der Verdacht, dass die „Befreiungsbewegungen“ in den Ländern der Dritten Welt letztlich nicht das waren, wofür die westlichen Linken sie hielten. Die nordkoreanischen Befreiungskämpfer begründeten eine neue unterdrückerische Dynastie. Die afghanischen Verbündeten der Sowjetunion haben, sobald sie an der Macht waren, andere Linke verfolgt. Ansonsten haben sie, wohl aufgrund einer falschen Einschätzung der Lage, nicht viel erreicht. In Afghanistan, in Persien und im arabischen Raum haben sich die unterdrückten Völker langfristig in Richtung Religion und weg von westlicher Aufklärung geschweige denn Sozialismus entwickelt.
In der Frage Israel/Palästina repräsentierte für den klassischen Antiimperialismus Israel eine Kolonialmacht, eng verbunden mit der imperialistischen Hauptmacht USA. Die Palästinenser waren in dieser Logik die Unterdrückten, das unterdrückte Volk, dem die sozialistische Solidarität gelten musste. Die Tatsache, dass Israel unter starkem linken Einfluss gegründet und auch eine Folge der Ermordung der europäischen Juden war, spielte kaum eine Rolle für die politische Einordnung.
Ich möchte zusammenfassen: Der Antiimperialismus war im Prinzip berechtigt. Wie alles Menschliche, war er jedoch auch kurzsichtig und voller Fehleinschätzungen. Teilweise war er von den psychischen Bedürfnissen junger westlicher Revolutionäre bestimmt, die von den realen Verhältnissen vor Ort nicht viel wussten. Der Einfluss sozialistischer Vorstellungen und die Möglichkeiten sozialistischer Politik wurden wohl oft überschätzt. Manch eine „Befrei-ungsbewegung“ erwies sich mit der Zeit als nicht besser als die Imperialisten, manchmal auch als schlechter.

„Antideutsche“
In den neunziger Jahren entstand, angesichts der Krise der Linken nach dem Ende des Ostblocks und aufgrund nationalistischer Tendenzen in Deutschland, eine neue Strömung: die Antideutschen. Die Zeitschrift „Bahamas“ war damals (ab 1992, Mitherausgeber war Jürgen Elsässer) das Zentralorgan der Antideutschen und war aus einer Splittergruppe des „Kommunistischen Bundes“ hervorgegangen. Die Antideutschen neigten dazu, Antisemitismus und völkischen Nationalismus als Hauptgegner auszumachen und besonders stark zu betonen. Für sie war quasi das gesamte politische und intellektuelle Feld außer ihnen selbst – von der TAZ bis zur FAZ, aber auch die Bundesregierung – antisemitisch. Anknüpfend an historische Thesen vom „deutschen Sonderweg“ war für sie der Antisemitismus tief in der deutschen Psyche verankert, auch bei den Linken. Die antideutsche Linke hat einen zunehmend positiven Bezug zu Israel eingenommen. Israel galt als Zufluchtstätte der verfolgten Juden, als Hort von Demokratie und westlicher Aufklärung. Man propagierte eine bedingungslose Solidarität mit Israel. „Antiimperialismus“ wurde für sie zu einem mehr und mehr negativ besetzten Begriff, von Antizionismus ganz zu schweigen. Der Westen wurde tendenziell nicht mehr als imperialistisch betrachtet, sondern als fortschrittlich-zivilisierend.
Ich würde gerne sagen, dass die ideologische Position der Antideutschen kompletter Humbug ist. Aber ich muss doch zugestehen, dass sie zwar im Großen und Ganzen, nicht aber in allem Unrecht haben.
Die Leistung der Antideutschen und ihrer Epigonen sehe ich darin, dass sie auf die Schwä-chen des Antiimperialismus der Linken, insbesondere der 68er, des Marxismus-Leninismus und der K-Gruppen der 70er Jahre aufmerksam gemacht zu haben. Diese Schwächen bestehen darin, dass Kämpfe in der Dritten Welt zu Projektionsflächen gemacht wurden. Laut den Antideutschen fand hier ein „völkisches“ Denken Eingang. In dem Eintreten für unterdrückte Völker wurde die Kategorie Volk zu unreflektiert übernommen. Ob man sich wirklich als Linker mit einem „Volk“ identifizieren sollte – anstatt mit den jeweiligen fortschrittlichen Kräften – wurde nicht hinterfragt. Zu Recht haben die Antideutschen infrage gestellt, dass die Unterdrückten immer gut sein müssen. Sie können ja auch dümmer, skrupelloser und rückschrittlicher sein als die Unterdrücker. Im Antiimperialismus gab es bisweilen eine romantisierende Sicht auf die Unterdrückten.
Außerdem muss man ihnen zugestehen, dass die Antideutschen das Augenmerk auf den Antisemitismus gerichtet haben, der zuvor wohl von vielen als irrelevante ideologische Mucke weniger verirrter, als bloße Variante von Rassismus und damit als unbedeutend angesehen wurde. Zweifellos gab es auch manifesten Antisemitismus in der Geschichte der Linken. Die Nachfolger der Antideutschen liegen daher auch in der Kritik der nächsten von mir darzustel-lenden Strömung, des Postkolonialismus, einigermaßen richtig. Ihre Kritik ist manchmal von bewundernswerter intellektueller Brillianz.
Allerdings würde ich sagen, dass die Antideutschen selbst wieder zu ethnischen und simplifi-zierenden Kategorien tendieren: „Die“ Deutschen sind Antisemiten und „böse“, „die“ Juden und Israel verkörpern das Gute. Viele Schriften aus dem antideutschen Spektrum sind letztlich immer weniger durch Analyse und stattdessen durch das Aufzählen empörender Fakten gekennzeichnet. Auch für sie ist Israel eine Projektionsfläche, ein Mythos. Weniger geht es ihnen um rationale Analyse der ökonomischen und politischen Verhältnisse in Israel und im Nahen Osten.
Über manche Themen lässt sich mit manchen oder vielen Vertretern dieser Strömung nicht rational diskutieren. Ihr Verhältnis zu Israel ist hoch emotional und einseitig. Die Zusammenarbeit mit manchen Personen aus diesem Spektrum ist dann durchaus herausfordernd. Gleichzeitig sind diese Personen oft bei anderen Themen – die mit Israel nichts zu tun haben – durchaus vernünftige Zeitgenossen.

„Postkolonialismus“ und Identitätslinke
Der Postkolonialismus ist eine intellektuelle Strömung, die vor allem von den USA („Postcolonial studies“) ausgehend heute große Teile der Linken und der Proteste gegen Israels Politik bestimmt. Die gegenwärtigen Proteste gegen die israelische Besatzung an Universitäten – in den USA und in Europa – kann man wohl dieser Strömung zuordnen. Dieser Protest, Kritik an der Politik der Westmächte und Eintreten für unterdrückte Völkerschaften ist natürlich zunächst einmal gut gemeint und zu begrüßen.
Man kann den Postkolonialen aber auch eine gewisse Einseitigkeit vorwerfen. Alle Konflikte werden im Licht des Kolonialismus gesehen, was übertrieben ist. Es gibt zudem keine Theorie des Imperialismus. Man hat bei den Postkolonialen zumeist den Eindruck, die Westmächte seien aus Rassismus kolonial, aus Bosheit. Man hat den Eindruck eines Denkens in Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Oftmals wird hier ja in Anknüpfung an Hautfarben der amerikanischen Bevölkerung tatsächlich von „Schwarz“ und „Weiß“ gesprochen, wobei „schwarz“ dann unterdrückt und lieb, „weiß“ unterdrückerisch, rassistisch und böse bedeutet. Der Postkolonialismus gehört zur sogenannten „Identitätspolitik“. Soziale und politische Prozesse werden als Kämpfe zwischen Identitäten gesehen. Dabei gibt es einige blinde Flecken. Dass es z.B. in den Ländern der Dritten Welt autochthone Herrschaftsverhältnisse gibt, wird zumeist nicht beachtet. Für die meisten Postkolonialen sind Unterdrückte gut. Denn aufgrund ihrer eigenen Unterdrückungserfahrungen seien sie sensibel für die Not von Unterdrückten. Es handelt sich um vereinfachte und moralisierende Vorstellungen von Herrschaft, die dem Marxismus eigentlich komplett entgegenstehen.
Der Postkolonialismus lehnt sowohl die Aufklärung als auch alle auf ihr beruhenden Vorstellungen ab. Er hat daher keine Maßstäbe für die Bewertung von Gesellschaften und Weltanschauungen. Alle sind ihm gleich viel wert. Religiöse und fundamentalistische Vorstellungen kann er nicht kritisieren. Wer religiöses Bewusstsein in den ehemaligen Kolonien oder den Islamismus kritisiert, gilt als antimuslimischer Rassist. Michel Foucault, ein Vorläufer der Postkolonialen, sprach sich für die iranische Revolution aus. Denn aus seiner Sicht handelte es sich um Unterdrückte, die sich gegen die westlich-amerikanische Fremdherrschaft auflehnten. Gegen die islamische Religion hatte er nichts.
Im Sinne der Überbetonung des Kolonialismus wird die Judenvernichtung als ein abgeleitetes Phänomen betrachtet. Der Kolonialismus sei vorrangig. Israel ist ihnen zufolge ein Kolonialstaat.
Besonders augenfällig wurden die Probleme des Postkolonialismus durch die Präsidentin von Harvard, Claudine Gay. In einer Anhörung im US-Kongress wollte sie sich nicht darauf festlegen, dass die Forderung nach Völkermord an Israelis unbedingt verwerflich sei. In manchen Kontexten sei es schon okay, Völkermord an Juden oder Israelis zu fordern. Ich unterstelle Claudine Gay nicht unbedingt Antisemitismus im Sinne eines Glaubens an die jüdische Weltver-schwörung. Man sieht aber leicht, dass durch solche Dummheit dem Antisemitismus mehr als nur die Toren geöffnet werden.
Es ist im Übrigen bemerkenswert, dass die radikalindividualistische Postmoderne wieder anschlussfähig zu einem völkischen Kollektivismus wird. Die Identitätspolitik nimmt auch ethnische Identitäten auf wie ein Schwamm. Sie teilt noch viel offener und ungehemmter als der Antiimperialismus Menschen ihren Nationen zu. Da soziale Gegensätze in der Identitätspolitik kaum eine Rolle spielen, ist man dann primär Angehöriger einer unterdrückten oder einer unterdrückenden Volkes. Und wer unterdrückt ist, hat Recht, auch wenn man Taliban oder Ayatollah ist.
Bei den Postkolonialen fällt es mir schwer, etwas Positives zu finden. Natürlich ist es schön, dass sie sich der Intention nach gegen Unterdrückung einsetzen. Es scheint aber, dass die subjektiven Bedürfnisse der Postkolonialen, die Projektionen hier noch größer sind als beim traditionellen Antiimperialismus. Es fehlt auch die marxsche Theorie, die bei den traditionellen Linken ja zumindest in einem gewissen Umfang vorhanden war. Der Postkolonialismus ist aus meiner Sicht kaum in der Lage, Ordnungen von Ungleichheit und Unterdrückung zu verstehen. Dafür steht bei ihm viel zu sehr moralisierend der Rassismus/ Kolonialismus im Vordergrund, als ginge es um die Einstellungen von Individuen und nicht um ökonomische und politische Interessen. Die Politik, die dem Postkolonialismus entspricht, besteht dann eher in Straßenumbenennungen und anderer Symbolpolitik als in wirtschaftlichen Veränderungen.
Angesichts der Schwächen der drei von mir kurz skizzierten Strömungen plädiere ich für weniger Moral, weniger Projektion und mehr marxistische Analyse und Theorie. Im Sinne einer aufgeklärten Linken ist es nicht, vorbehaltlos und undifferenziert auf der Seite der Unterdrückten oder Machtloseren zu stehen – dann müssten wir ggf. auch die Taliban, die Roten Khmer oder den Islamischen Staat unterstützen, sondern für sozialen Fortschritt einzutreten – für eine solidarische und aufgeklärte Gesellschaft, in der Individuen gleiche Rechte haben und sie nicht als Ethnien, Religionen oder Identitäten gegeneinander aufgehetzt werden.
Ich würde zu den drei genannten Positionen noch die der „antinationalen“ Linken stärken, die zwar sehr marginalisiert ist, aber dennoch sich richtigerweise der verkürzten Parteinahme in dem Konflikt entzieht und somit die von Tobias ausgemachten Schwächen aufgreift.
Diese Strömung steht sowohl den „klassischen Antiimperialisten“ als auch den „Antideutschen“ kritisch gegenüber und nimmt eine eigenständige Position ein. Während sie mit den Antideutschen die Betonung auf die Kritik des Nationalismus teilt, lehnen die Antinationalen deren unkritische Identifikation mit dem Westen, insbesondere mit Israel, ab.
Antinationale verstehen sich als universalistisch und radikal emanzipatorisch. Sie lehnen nicht nur den deutschen Nationalstaat, sondern die Nation als solche ab. Für sie ist nationale Zugehörigkeit kein fortschrittliches, sondern ein regressives Konzept. Daraus folgt auch ihre Haltung zu Israel und Palästina: Die Unterstützung gilt nicht automatisch einem Staat – weder Israel noch Palästina – sondern den emanzipatorischen Kräften auf beiden Seiten. In der Praxis bedeutet das oft, dass sowohl die repressive israelische Besatzungspolitik als auch autoritäre, religiös-fundamentalistische Kräfte auf palästinensischer Seite kritisiert werden
Der Anspruch sollte sein, eine materialistische Kritik an Staat, Nation und Kapital zu formulieren, ohne in ein vereinfachtes Lagerdenken oder Freund-Feind-Schemata zu verfallen.
Auch das passiert bei der Kritik an irgendwelchen Positionen zum Nahostkonflikt sehr häufig, dass die Personen alleine aufgrund einer Eigen- oder Fremdzuschreibung einer bestimmten Strömung zugeordnet werden und daher die Positionen schon von vorneherein als „feindlich“ gelten und sich dann überhaupt nicht mehr inhaltlich mit ihnen auseinandergesetzt werden muss.