Was Sie schon immer über Marx wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten – Folge VII.

DIE DREI versuchen mit jeweils drei kurzen Beiträgen zu einer Fragestellung, den Marxismus auf Themen anzuwenden, die es in der Form zur Zeit von Karl Marx noch nicht gab. Oder auch, klassische marxistische Thesen mit aktuellen Bedingungen zu konfrontieren. 

Folge VII.: Ist Religion gefährlich ?

DIE DREI sind im Kern Michael Hopp und Tobias Reichardt, Mitglieder der Marxistischen Abendschule Hamburg (MASCH). Hier seht Ihr das Programm der MASCH und könnt Euch über Kurse informieren: https://www.masch-hamburg.de/
Zu Hopp und Reichardt hinzugekommen sind inzwischen Barbara Eder und Michael Heidemann. Da wir die Anzahl der Beiträge auf drei begrenzt halten wollen, kann eine(r) immer sein „Recht auf Faulheit“  (1880, Essay von Marx-Schwiegersohn Paul Lafargue, der allerdings durch Selbstmord aus dem Leben schied) realisieren.

Thema heute: Ist Religion gefährlich?

Religion ist nicht gut für die Menschen, ich denke das lässt sich mit Sicherheit sagen. Gerade heute – wir leben übrigens in alles anderem als einer säkulären Zeit und die Aufklärung wirkt nicht so nach, wie es wünschenswert wäre – verwickelt Religion ganze Erdteile in schreckliche Kriege, die hunderttausende Tote fordern. Das Verhältnis zwischen Islam, Christentum und jüdischem Glauben ist vergiftet wie eh und je. Besonders fatal ist es, wenn Religion, Politik und Staatlichkeit in eins gesetzt werden – angeblich, um den jeweiligen Glauben durchzusetzen. In Wirklichkeit stecken dahinter oft andere Interessen, wie ein materialistischer Blick lehrt.
Man könnte der Religion zugute halten, etwa der christlichen, dass sie sich in bestimmten historischen Situationen auf die Seite von Befreiungsbewegungen geschlagen hat, etwa in Lateinamerika in den 70er und 80er Jahren. Das Kirchenasyl ist eine gute Einrichtung, die übrigens in Deutschland momentan geschliffen wird. Die Kirche leistet heute noch manches an sozialen Aufgaben im Staat. Was momentan in Deutschland zu vielen Kirchenaustritten führt und zu einem allgemeinen Ekel, ist das systemische Auftreten von Missbrauch im kirchlichen Milieu. Dies ist ein Skandal für sich und Ausdruck, der seit Jahrhunderten vertretenen, unterdrückerischen, verlogenen und Frauen verachtenden Sexualmoral.
Trotzdem mag ich Kirchen (die Gebäude) und finde Papst Franziskus ganz sympathisch. Vielleicht wäre er ein guter Linker geworden.- Wie die folgenden drei Beiträge zeigen, bildet die Haltung von Karl Marx zur Religion auch heute noch  eine geeignete Grundlage fr Religionskritik.
MH

Beitrag 1

Nichts, was der Fall wäre

Von Barbara Eder, Wien

Wir leben in einer Welt der modernen Ernährungsreligionen, einer breiten Palette an esoterisch angehauchten Lifestyle-Angeboten und dem erneut aufkommenden Kult des Völkisch-Nationalen. Durch Rituale, die Gemeinsamkeiten stärken sollen, versichert der atomisierte Einzelne sich erneut seiner brüchig gewordenen Identität. Freud zufolge handelt es sich bei Praktiken dieser Art um Zwangshandlungen aus dem Repertoire des Neurotikers, sie alle basieren auf dem Prinzip der Wiederholung und verlangen oft nach einem hohen Maß an körperlicher Involviertheit; im Kollektiv ausgeführt, dienen Rituale – nicht anders als kompensatorische Zwangshandlungen – seit jeher der Neutralisation unbewusster Konflikte sowie der Befreiung von Verantwortung und Schuld.

Rudimente des Religiösen lagern nicht nur in den Tiefenschichten der Psyche, sondern auch am Bodensatz jeder Kultur. Demnach kann auch dort vom latenten Fortwirken transzendentaler Größen ausgegangen werden, wo diese durch die Geschichte längst zu Fall gebracht worden sind: Ohne protestantischen Bodensatz wäre die Hegel’sche Geschichtsphilosophie ebenso undenkbar wie die Saint-Simon’schen Ansätze eines Frühsozialismus ohne Neues Testament. Das aus der Verweltlichung des puritanischen Askese-Ideals resultierende, moderne Arbeitsethos ebenso wie die daran angeschlossene Prädestinationslehre, die den Gläubigen kurz vor ihrer Totalkapitulation noch einmal vor Augen führen sollte, dass am Ende alles Arbeiten einen Sinn gehabt haben wird, sind ebenso religiös grundiert wie das mit dem Erscheinen des Kommunistischen Manifests im Jahr 1847 projektierte Reich der Freiheit. Sein Fundament ist im jüdischen Messianismus zu finden, der als ewig unabgeschlossenes Denkfragment die unabänderliche Kritik am Bestehenden inspiriert hat.

Die Bewegung der Säkularisierung geht mit einer Immanentisierung religiöser Gehalte einher. Der metaphysische Ballast verschwindet dabei jedoch nicht einfach, sondern wird transformiert. Demnach waltet der bedingungslose Glaube an den freien Markt und seine Waren dieser Tage auch am Ort eines befreiend nackten Nichts. Für Marx waren derartige Restbestände des Religiösen letztverbliebene Strahlen einer „illusorischen Sonne“ – und ebenso „Opium des Volkes“: Der Konsum der aus Mohnsaft gewonnenen Droge wirkt nicht nur sedierend, sondern verzerrt auch die Wahrnehmung – im Sinn eines Vexierbildes, das sich der Netzhaut als Verkehrtes aufprägt. Die Wiederkehr des Religiösen ist demnach nicht einfach Ausdruck des Wunsches nach der Verlängerung eines ausgelaufenen Exklusivvertrags mit Gott – exemplarisch dargelegt in Martin Bubers Erzählung „Der Vertrag“ –, sondern vielmehr Folge eines anhaltenden Projektionsbegehrens: Vom Himmelreich auf Erden weit entfernt, sucht man erneut Zuflucht in Mythos und Ritual, im Kult und im Kultischen. In einer befreiten Gesellschaft wäre dieses Bedürfnis obsolet: Die Bedingungen dafür – Ungleichheit, Ausbeutung und Entfremdung – wären aufgehoben und der Ernstfall einer gottlosen Gegenwart eingetreten. Das vermeintlich höchste Wesen verabschiedet sich historisch immer dann, wenn seine irdischen Stellvertreter die Arbeit am Bestehenden in die Hand nehmen. Radikal immanent und frei von metaphysischen Unwägbarkeiten, wäre die Welt dann alles, was der Fall ist.

Seufzer der bedrängten Kreatur

Von Michael Heidemann, Bremen

Alle Jahre wieder heben die Kirchen in der Weihnachtszeit zu mahnenden Festtagspredigten an. So wurde auch diesmal in unruhigen und kriegerischen Zeiten der Geist des Zusammenhalts beschworen, Armut aber auch Überfluss gegeißelt. Die christliche Idee der Erlösung verträgt sich nicht mit einer Welt der Ausbeutung und Unterdrückung, zugleich waren die Kirchen über Jahrhunderte die zentrale Macht auch der weltlichen Herrschaft und erzogen die Menschen zu Demut und Gehorsam. In diesem Widerspruch bewegt sich das religiöse Bewusstsein seit jeher.

Karl Marx ist gemeinhin als scharfer Kritiker der Religion bekannt. Ihm gilt die Kritik der Religion gar als „Voraussetzung aller Kritik“ (Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie). Erst wenn der illusorische Glaube an eine ins Jenseits verschobene Erlösung, der zum stumpfen asketischen Aushalten im Diesseits verpflichtet, hinweggefegt sei, werde der Blick der Menschen frei für ihre Potentiale, durch kollektive Tat das universelle Glück auf Erden zu realisieren. Die Religion stellt für Marx im Anschluss an Feuerbach und auch Heine eine gigantische Ersatzhandlung dar – die Projektion des menschlichen Wesens ins Himmelreich. Sie ist Ausdruck wie Rechtfertigung des Leids auf Erden: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“ Notabene: Erst der Marxismus machte aus dem „Opium des Volkes“ ein „Opium für das Volk“, um es seinem manipulationstheoretischen Ideologiebegriff einzupassen, während Marx differenzierter das Bild eines geistigen Betäubungsmittels zeichnet, mit dem sich die Menschen gleichsam selbst sedieren.

Während der Herrschaftsanspruch der christlichen Religion im Zuge der modernen Aufklärungsphilosophie radikal zurückgewiesen wurde und die kirchlichen Gottesdienste heute eher kulturindustriellen Erbauungs-Events gleichen, hat die islamische Welt bislang keine konsequente Aufklärung erfahren. Hier sind Marxisten zu pragmatischen Bündnissen mit liberalen Kräften verpflichtet, um den Vormarsch der Scharia zu stoppen. Der radikale Geist der Aufklärung ist im Westen indes einem abgeklärten Geisteszustand gewichen. Über das kulturelle Erbe des Christentums weiß man sich längst erhaben, verfällt stattdessen einem pseudoreligiösen, positivistischen Wissenschaftsglauben. Während die Religion den Glücksanspruch in die Transzendenz verschiebt, hat der abgeklärte Postmodernismus den Glücksanspruch gleich ganz aufgegeben. Dagegen wäre – durchaus im Sinne von Marx – an die philosophischen und auch theologischen Voraussetzungen der Gesellschaftskritik zu erinnern, wie sie in den Begriffen der Kritik der politischen Ökonomie sedimentiert sind: das Absolute, Totalität, Substanz und gar die Transsubstantiation, von der Marx im Zusammenhang der Verwandlung von Ware in Geld und Kapital spricht.

Marx wurzelt in der Religionskritik

Von Tobias Reichardt, Hamburg

Die marxsche Gesellschaftskritik nimmt historisch ihren Ausgang von der Religionskritik, wie sie in den Kreisen der Linkshegelianer geübt wurde, setzt sich aber schon früh auch von ihr ab. Laut Marx war Religionskritik schon damals nicht mehr auf der Höhe der Zeit, nicht mehr auf der Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie kam über die Aufklärung, in der Kritik an Kirche und Religion bereits eine wichtige Rolle spielte, nicht wesentlich hinaus. Stattdessen habe sich ein zeitgemäßes kritisches Denken, so Marx, mit der Struktur der modernen Gesellschaft auseinanderzusetzen, sich also vor allem mit der jungen Wissenschaft der Ökonomie kritisch zu beschäftigen. Die Religion dagegen sei ein bloßes Oberflächenphänomen.

Aus marxistischer Sicht sind komplexe gesellschaftliche Phänomene in ihrem historischen Kontext zu verstehen. Das heißt, auch die Religion ist als Teil einer geschichtlichen Entwicklung zu sehen. Sie ist nicht pauschal als unsinnig oder gar bloß als von Priestern ausgehender „Betrug“ zu betrachten, wie manche Aufklärer es taten. Auch Phänomene von Religion, die uns irrational, inhuman oder absonderlich erscheinen, waren einmal einer geschichtlichen Entwicklungsstufe im weitesten Sinne angemessen. Religion hatte auf diesen Stufen die Funktion, natürliche und gesellschaftliche Phänomene zu erklären und die gesellschaftliche Ordnung zu legitimieren, damit zum sozialen Zusammenhalt beizutragen. Als wissenschaftliche Erklärungen noch nicht zur Verfügung standen, war Religion gewissermaßen ihre „ihre Zeit in Gedanken gefasst“ (Hegel) oder der „Geist geistloser Zustände“ (Marx).

Auch heute, in der liberalen und säkularisierten westlichen Gesellschaft, kann Religion für einzelne noch ein Bedürfnis sein. Der Mensch ist kein reines Vernunftwesen. Den meisten Menschen fällt es schwer, ihr Leben nur auf rationale Überlegungen zu bauen. Sie brauchen einen emotionalen – oder „spirituellen“ – Halt. Wer nicht mehr an die Lehren der Kirchen glauben kann, sucht sich häufig einen Ersatzglauben wie Esoterik oder Veganismus. Manche, die nicht religiös erzogen wurden, suchen als Jugendliche oder Erwachsene aktiv nach einer Religion, die ihrem Leben Sinn und Struktur gibt.

Selbst in der Geschichte der – ihrem Selbstverständnis nach religionskritischen und zumeist atheistischen – Linken haben sich religiöse Denkmuster fortgesetzt: In sozialistischen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts hat es reichlich Dogmatismus und Personenkult gegeben, die an religiöse Verhaltensweisen erinnern. Seit die sozialistische Perspektive abhandengekommen ist, sind große Teile der Linken „woke“ geworden. In dieser Ideologie nehmen, wie in einer Religion, Vorschriften darüber, was man sagen, denken und tun darf, einen großen Raum ein. Man zählt sich selbst zu den Erwählten und verdammt andersdenkende „Sünder“ oder „Ketzer“. Das Bedürfnis nach einer unerschütterlichen Richtschnur für die Lebensführung ist groß. Der US-amerikanische Publizist und Linguist John McWhorter hat diese Nähe „woken“ Denkens zur Religion in seinem Buch „Die Erwählten“ hervorgehoben. Andere Linke suchten und suchen anderswo Orientierung: Als „Antideutsche“ haben sie den Kult um ein „Heiliges Land“ wiederentdeckt. Während sie andere Staaten und Gesellschaften herrschaftskritisch analysieren, ist Israel für sie von rationaler Analyse ausgenommen und in erster Linie eine moralische, wenn nicht sogar religiöse Größe. Nicht zufällig bedienen sich (anti-)deutsche Freunde Israels bisweilen einer religiösen Metaphorik und legen religiöses Verhalten an den Tag, das durch Eifer, Tabuisierung und Denkverbote gekennzeichnet ist. Nicht selten zeigen sie dabei sogar Sympathie für das Judentum als Religion. Es ist wohltuend, zu einer Gruppe der Guten, der „Rechtgläubigen“ oder sogar der „Auserwählten“ zu gehören – dies gilt für Woke wie für Anti-Deutsche.

Doch nicht nur in diesen Ersatzformen, sondern auch in ursprünglicher, ungebrochener Gestalt ist Religion heute noch in vielen Teilen der Welt lebendig. Die Welt ist nicht durch einen einheitlichen geschichtlichen Fortschritt gekennzeichnet, vielmehr existieren verschieden entwickelte Länder und Kulturen nebeneinander. Für viele Länder des Globalen Südens ist die Religion ein nicht zu unterschätzendes Entwicklungshindernis.

Wenn sie auch im Privatleben und sogar in ganzen Regionen für viele Menschen ihre Bedeutung behalten mag, so ist Religion dem Entwicklungsstand von Wissenschaft und Technik nicht mehr angemessen. Sie ist nicht geeignet, Natur und Gesellschaft zu verstehen oder gar die Herausforderungen der Gegenwart zu lösen. Religionen sind jedoch in der Lage sich weiterzuentwickeln und sich an den gesellschaftlichen Fortschritt anzupassen, wie insbesondere das Christentum in der europäischen Geschichte bewiesen hat. Um den erreichten Stand von Entwicklung und menschlicher Freiheit nicht zu gefährden, müssen moderne Gesellschaften Religion aufs Privatleben beschränken. Es ist insbesondere Aufgabe der Linken, sich allen Tendenzen von Religion entgegenzustellen, dem Glauben politische Geltung zu verschaffen und damit Rückschritten den Boden zu bereiten.

4 Kommentare zu „Was Sie schon immer über Marx wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten – Folge VII.“

  1. MH schreibt: „Hier [in der islamischen Welt] sind Marxisten zu pragmatischen Bündnissen mit liberalen Kräften verpflichtet, um den Vormarsch der Scharia zu stoppen.“ Das sehe ich ganz genauso. Und nicht nur dort. Auch hierzulande sollten aufgeklärte Formen des Islam unterstützt werden – Ansätze, die den Islam weiterentwickeln und mit der Moderne komaptibel machen wollen.

    1. Michael Heidemann

      Tobias, Deine Kritik der Antideutschen fand ich etwas wohlfeil. Sie trifft den Gegner nicht im Umkreis der Stärke, setzt also nicht bei seinem entwickeltsten Stand an, sondern arbeitet sich an seinen plumpesten Erscheinungen ab. Natürlich gibt es die umtriebigen Philosemiten, die sich mit einer starken militärischen Macht identifizieren und darin ihr lupenreines Gewissen zur Schau stellen. Aber dass auf Israel als dem „Jude unter den Staaten“ (Poliakov) das alte antisemitische Ressentiment, das nach 1945 nicht plötzlich verschwunden war, übergegangen ist, dass die Existenz dieses souveränen Schutzraums jüdischer Menschen permanenter Bedrohung ausgesetzt ist, wird man gerade nach dem 7.10.2023 doch nicht ernsthaft bestreiten können. Und deshalb finde ich den Akzent der Kritik falsch gesetzt.

      So kritisierenswert man viele theoretische wie praktische Entwicklungen der ‚antideutschen Bewegung‘ (wenn ich sie mal so nenne, meist handelt es sich bei ‚antideutsch‘ eher um eine pejorative Fremdzuschreibung) finden mag, so wichtig finde ich die konsequente Aufklärung über den Antisemitismus durch uns Marxisten. Gerade in Zeiten, in denen sich die postmoderne (oder wie Du sie nennst: ‚woke‘) Linke dem Islamismus als antizivilisatorischem Bündnispartner in die Arme wirft. Es ist erschreckend, wie nach einer kurzen ca. zweiwöchigen Phase des betretenen Schweigens die westliche Linke nach dem 7.10. beinahe geschlossen auf die Propaganda der Hamas umgeschwenkt ist und den islamistischen ‚Befreiungskampf‘ feierte. Ohne einen Begriff von Antisemitismus lässt sich das nicht erklären, denn eine proletarische Arbeiter*innenselbstverwaltung mit umfassenden LGBTQI-Rechten ist von einer palästinensischen ‚Befreiungsbewegung‘ wohl eher nicht zu erwarten.

      Der Antisemitismus bleibt ein „Ritual der Zivilisation“ (aus: Dialektik der Aufklärung), so lange die Herrschaft historisch nicht überwunden ist. Für den Stachel, dieses Ritual unentwegt in seiner alltäglichen ebenso wie zerstörerischen Wirkung polemisch vorzuführen, sollte man der antideutschen Strömung – die ja global gesehen eine auf den deutschsprachigen Raum beschränkte Anomalie geblieben ist – dankbar sein.

      1. Kritik des Antisemitismus – und überhaupt personalisierender Auffassungen von Herrschaft – ist überaus wichtig, keine Frage! Antideutsche (und auch Woke) mögen auch berechtigte Punkte haben. Tatsächlich scheinen mir „Antideutsche“ oft recht zu haben, wenn sie den Postkolonialismus und seine theoretischen Wurzeln (wie Said und Foucault) kritisieren. Aber mir ging es hier ja nicht um eine umfassende Würdigung dieser Strömungen, sondern nur um den einen Punkt der Ähnlichkeit mit Religion. Und tatsächlich kenne ich manche deutschen „linken“ Israel-Fans, die beim Thema Israel das Hirn abstellen und nur noch Gut und Böse kennen. Kritische Theorie spielt dann für sie in Hinblick auf Israel keine Rolle mehr. Das ist moralisierend und manchmal sogar quasi-religiös. (Der Nahostkonflikt ebenso wie Antisemitismus generell ist natürlich genauso nüchtern rational gesellschaftstheoretisch zu analysieren wie andere soziale Phänomene auch. Moralische und theologische Vorstellungen sowie Identifikationsbedürfnisse sind fernzuhalten.)

        1. Michael Heidemann

          Man darf aber auch nicht unberücksichtigt lassen, welcher Hass und welche Hetze den innerlinken Kritikern des Antisemitismus seit jeher entgegenschlug. Der linke (nicht zuletzt durch die Propaganda der UdSSR befeuerte) Antisemitismus nach 1945 wurde bis heute innerhalb der Linken nie konsequent aufgearbeitet. Stattdessen wurden die vereinzelten Kritiker, die selber aus linken Traditionen stammten, aufs Übelste schikaniert. Das deutete sich bereits bei Adorno und Horkheimer an, die ja von den revoltierten Studenten als Verräter an der Sache angesehen wurden, weil sie den linken Voluntarismus und die Begeisterung für terroristische Akte nicht gutheißen wollten. In so einem tatsächlich „toxischen“ Umfeld „nüchtern rational gesellschaftstheoretisch zu analysieren“, ist gar nicht so einfach und vielleicht auch gar nicht geboten. Denn Marx selbst hat gewisse reaktionäre Phänomene seiner Zeit ja bereits als unter aller Kritik bestimmt, weshalb gegen sie nur noch die beißende Polemik zu führen sei. Dort, wo die Polemik allerdings ihre Bindung ans Argument verliert, droht sie natürlich ihrerseits in den partikularen Standpunkt und ins Identitäre zu kippen, da gebe ich Dir recht.

          Erschwerend hinzu kommt noch, dass die bürgerliche Öffentlichkeit innerlinke Kritiker des Antisemitismus natürlich immer dankend gerne als vermeintliche Kronzeugen zur Komplettdemontage der Linken heranziehen. So stehen die linken Nestbeschmutzer dann ziemlich schnell auf ziemlich verlorenem Posten, indem sie auch noch vereinnahmt werden bzw. der Verlockung selbst nicht mehr widerstehen können, zum Linkenhasser zu werden. Es kann ein Moment von Selbstschutz haben, dann in die Gegenidentifikation zu kippen und gegenüber der eigenen, anfangs noch wohlbegründeten politischen Parteinahme unkritisch zu werden. Das ist freilich keine Entschuldigung, denn kritische Theorie muss Widersprüche aushalten können und darf deshalb nicht moralisierend oder identitär werden.

          Allerdings sehe ich einen gewichtigen Unterschied zwischen moralisierender und moralischer Kritik. „Moralische (…) Vorstellungen“ sind darum auch keineswegs aus der Gesellschaftanalyse „fernzuhalten“, denn ohne sie wäre die Gesellschaft-analyse überhaupt keine Gesellschafts-kritik.

          Kurzum: Gegen einen Seitenhieb auf identitäre Antideutsche habe ich gar nichts einzuwenden, allerdings geriet mir in der Knappheit Deines Kommentars die ideologiekritische Strömung, die mit dem Label ‚antideutsch‘ in ihren theoretischen Traditionen verbunden ist, zu sehr mit in Verruf. All die jungen „Yallah Intifada“-Krakeeler, die aktuell in der Linken neu heransozialisiert werden, können den Kommentar nämlich voller Inbrunst mitgehen. Für sie ist das Label ‚antideutsch‘ einfach nur eine Feindbestimmung.

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