Was Sie schon immer über Marx wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten – Folge VIII.

DIE DREI versuchen mit jeweils drei kurzen Beiträgen zu einer Fragestellung, den Marxismus auf Themen anzuwenden, die es in der Form zur Zeit von Karl Marx noch nicht gab. Oder auch, klassische marxistische Thesen mit aktuellen Bedingungen zu konfrontieren. 
DIE DREI sind im Kern Michael Hopp und Tobias Reichardt, Mitglieder der Marxistischen Abendschule Hamburg (MASCH). Hier seht Ihr das Programm der MASCH und könnt Euch über Kurse informieren: https://www.masch-hamburg.de/
Zu Hopp und Reichardt hinzugekommen sind inzwischen Barbara Eder und Michael Heidemann. Da wir die Anzahl der Beiträge auf drei begrenzt halten wollen, kann eine(r) immer sein „Recht auf Faulheit“  (1880, Essay von Marx-Schwiegersohn Paul Lafargue, der allerdings durch Selbstmord aus dem Leben schied) realisieren.

Folge VIII.: Gibt es noch Internationale Solidarität?
Wer hat nicht schon mal „Die Internationale“ gesungen? Oder „Hoch-die-internationale-Solidarität“ skandiert?  Dass die Solidarität der Arbeiter länderübergreifend sein müsse, gilt als Fundament jeder linken Bewegung. Aber was meinte Marx eigentlich mit der „internationalen Solidarität“, mit dem Schlagwort, auf das sich auch heute noch alle verständigen können – vielleicht auch nur, weil es kaum noch Inhalt hat?  Im Moment sind die Verhältnisse nicht so, dass sich internationale Solidarität entwickeln könnte. Warum? Dass die Welt heute „globalisiert“ und „digitalisiert“ ist, könnte ja eher Vorteil als Hindernis sein. MH

Selbst Gewerkschafter schimpfen schon mal auf den „chinesischen  Billigstahl“

von Michael Heidemann, Bremen

Anstatt so zu tun, als hätte ich eine schlaue Antwort auf diese Frage parat, mache ich lieber transparent, dass ich in mehreren Anläufen meine Entwürfe zu diesem Beitrag immer wieder gelöscht habe und ratlos zurückblieb. Der Grund hierfür könnte in der trostlosen Sache liegen.
Denn eine internationale Solidarität im sozialistischen Sinne gibt es schon lange nicht mehr und selbst ein liberaler Kosmopolitismus kann sich vielerorts kaum noch gegen den erstarkenden Autoritarismus behaupten. Die imperialen Gegensätze zwischen den führenden kapitalistischen Staaten spitzen sich enorm zu, was die ernsthafte Gefahr des erneuten Zerfalls des Weltmarktes mit sich bringt. Beim letztmaligen Zerfall des Weltmarkts trat der Weltkrieg an seine Stelle und auch heute stehen die Zeichen auf Militarisierung und Faschisierung der Gesellschaften.
Auch historisch war eine internationale Solidarität der Arbeiterklasse zumeist mehr Hoffnung als Realität. Marx selbst lieferte im Kapital eine Erklärung dafür. Während das Kapital seinem Verwertungsbedürfnis gemäß über nationale Schranken hinaus strebt (an die es zwecks Garantie des Eigentums durch den staatlichen Souverän zugleich gebunden bleibt), ist die nationale Borniertheit der Arbeiterklasse der adäquate Ausdruck ihrer prekären Existenz innerhalb des Kapitalismus. Ohne die Sozialgesetzgebung des Staates wäre die nationale Arbeiterklasse den Angriffen des Kapitals beinahe schutzlos ausgeliefert. Die Anrufung des Nationalstaats, der als „ideeller Gesamtkapitalist“ die Exzesse der Einzelkapitale bekämpft, ist ebenso hilfloser wie nachvollziehbarer Reflex der Arbeiterklasse. Indem sie ihn zum Adressaten ihrer Forderungen macht, verschreibt sie sich zugleich seinem Erfolg innerhalb der Weltmarktkonkurrenz. Das ist der rationale Kern der nationalistischen Losung „Wir sitzen doch alle in einem Boot“, die den Klassengegensatz im Bewusstsein auslöscht.

Die in den Nationalstaat integrierte Arbeiterklasse – dies ist die historisch fragwürdige Leistung von Sozialdemokratie und Gewerkschaften, den Rest erledigten Faschismus und Nationalsozialismus – profitierte in den westlichen Industrieländern nach dem Zweiten Weltkrieg zwischenzeitlich erheblich vom Produktivitätsgefälle auf dem Weltmarkt und der Verschiedenheit der nationalen Arbeitslöhne. Legt man das bloße materielle Interesse zugrunde, besteht kein Grund für den VW-Facharbeiter, sich mit der Textilnäherin in Bangladesch oder dem Coltan-Schürfer im Kongo zu solidarisieren, denn seine Lohnzuwächse sind vermittelt durch die ausbeuterische internationale Arbeitsteilung. Selbst gestandene Gewerkschafter wettern deshalb schnell mal gegen den „chinesischen Billigstahl“, wenn die nationalen Pfründe erodieren.
Ob und wie aus diesem circulus vitiosus auszubrechen sei, durch den die Arbeiterklasse nicht nur ans Kapital, sondern auch den nationalen Souverän gekettet ist, vermag ich nicht zu beantworten. Um die Idee einer solidarischen Menschheit zumindest im Denken zu bewahren, solange verändernde Praxis verstellt bleibt, muss auch die Korrumpierung aufgearbeitet werden, die sie in der linken Parole „Hoch die internationale Solidarität!“ erfuhr. Zumindest dann, wenn damit mehr gemeint sein soll als die Hingabe westlicher Berufsrevolutionäre an den autoritären Staatssozialismus oder nationalistische „Befreiungsbewegungen“, die mit derlei Sprechchören bis heute gefeiert werden. Um die Solidarität mit Streiks entlang der globalen Lieferketten geht es dabei jedenfalls nur selten.

Karl Marx lebt hier nicht mehr. Oder doch?

Von Michael Hopp, Hamburg

Der Begriff von der „internationalen Solidarität“ ist Weltkulturerbe. Er ist sowas wie die Religion der Linken, ihre Folklore, verkitscht, missbraucht – und heute noch der größte gemeinsame Nenner, auf den sich mehr oder weniger alle  – von SPD bis Antifa – verständigen können, vielleicht auch, weil er so gut wie keine Aussage mehr hat. So hoch der Anspruch der „Internationalen Solidarität“ – im Sinne eines international geführten Klassenkampfs – auch aufgehängt ist, so vage ist er theoretisch geblieben und so wenig konnte umgesetzt werden.

Die Internationale Arbeiterassoziation, 1864 unter Mithilfe von Marx, konstituiert, war der erste Zusammenschluss von europäischen Arbeiterorganisationen. Obwohl sie nach zwölf Jahren tief zerstritten auseinanderfiel, überdauerte ihr Mythos, doch auch die 1889 gegründete Zweite Internationale, nach Marx Tod, war nur eine lockere Vereinigung selbständiger nationaler Parteien. Ihre Grundsatzdebatten beeinflussten die Politik der Mitgliedsorganisationen kaum, formulierten aber Maßstäbe eines idealen sozialistischen Handelns. Die Vereinigung zerbrach 1914, als sich fast alle Mitglieder in der Kriegsfrage dem jeweiligen nationalen Konsens anschlossen. 1923 kam es zu einem erneuten Zusammenschluss als Sozialistische Arbeiter-Internationale, doch konnte diese nicht die programmatische Bedeutung ihrer Vorläufer erreichen. 1940 endeten ihre Aktivitäten, bis 1951 ein weiterer Neubeginn als „Sozialistische Internationale“ erfolgte, von der heute kaum noch die Rede ist.
Immer wieder wurde beschworen, die „Lehren“ aus dem Scheitern der verschiedenen „Internationalen“ zu ziehen. Aber die konkreten Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften in ihren jeweiligen Ländern und Industrien schienen im 20. Jahrhundert keinen Vorteil darin zu sehen, sich international zu verbinden. Der Kapitalismus hingegen entwickelte sich genauso, wie im „Kapital“ beschrieben, riss das Gesetz des Handels an sich und unterwarf den ganzen Planeten seiner Verwertungslogik. Ihm gegenüber steht heute eine rückläufige (durch den Wegfall von Industriearbeitsplätzen), fragmentierte Arbeiterbewegung, die nicht mehr aus der Defensive kommt, weil sie mit ihren heutigen, kleinteilig regionalen Mitteln, in Zeiten der Globalisierung des Arbeitsmarkts und  der Automatisierung und Digitalisierung kaum noch Druck aufbauen kann. Auf internationaler Ebene politisch zu agieren, ist heute eher den NGO´s überlassen, von denen einige auch soziale Fragen aufwerfen, aber nie die Klassenfrage.

Von einer sozialverträglichen Regulierung des Arbeitsmarkts, in der Geschichte die Etappenerfolge des Klassenkampfs, sind wir weltweit weiter entfernt denn je. Digitale Märkte – wie Dienstleistung oder KI – sind mit ihren gesichtslosen Heeren von Lagerarbeitern, Kurieren und Clickworkern – so intransparent, daß sie sich staatlicher und gewerkschaftlicher Kontrolle systemisch (nicht in Ausnahmen) entziehen. Wie wäre hier der „Klassenkampf“ zu führen?  Wenn, wie aktuell im Markt der KI, der eine, amerikanische Konzern seine Vormachtstellung und 45 Milliarden Dollar an Börsenwert verliert, und der andere, chinesische, mit Investitionen von einem Bruchteil, binnen zwei Tagen Weltmarktführer wird, wird die Frage nach Auswirkungen auf Arbeitsplätze überhaupt nicht mehr gestellt. Die Menschen – wieviele? wo? unbekannt –, die da arbeiten, programmieren, Daten einrichten und kontrollieren, finden an keiner Stelle Erwähnung oder Beachtung, die „Aufwände“ für sie gehen in den „Kosten“ oder „Investitionen“ unter. Se bleiben versteckt, gesichtslos (es gibt keine Fotos, obwohl heute sonst alles fotografiert wird) und anonym, eigentlich Sklaven, keine Arbeiterklasse, die aufstehen könnte. Karl Marx lebt hier nicht mehr.

Was hätte Marx gesagt? Vielleicht hat er ja auch anderes gesagt, als oft gedacht wird. Wenn man heute nochmal in die Quellen schaut, lesen sie sich weniger als Aufruf zur Internationalisierung der  Klassenkämpfe (dies wäre nur eine Folge), als zur Niederreissung der Grenzen. In den Statuten der von Marx und Engels mitbegründeten «Weltgesellschaft der revolutionären Kommunisten» (im April 1850 in London) heißt es: «Das Ziel der Assoziation ist der Sturz aller privilegierten Klassen … Zur Verwirklichung dieses Zieles wird die Assoziation ein Band der Solidarität zwischen allen Fraktionen der revolutionären kommunistischen Partei bilden, indem sie, dem Prinzip der republikanischen Brüderlichkeit entsprechend, alle nationalen Schranken verschwinden lässt.» (MEW 7:553.)
Auch das hat der Kapitalismus, in unseren Breiten in Form der EU, vorweggenommen – was aber kein Problem sein müsste, da die „universelle Entwicklung der Produktivkraft“(inklusive Globalisierung, Internationalisierung) immer die Voraussetzung und Vorstufe ist für Sozialismus und Kommunismus: «Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker ‹auf einmal› und gleichzeitig möglich, was die universelle Entwicklung der Produktivkraft und den mit ihm zusammenhängenden Weltverkehr vor­aussetzt.» (MEW 3:35.) Es ist nie zu spät!

Identität und Religion anstelle von Solidarität

Von Tobias Reichardt, Hamburg

Die sozialistische Bewegung ist seit ihrem Beginn internationalistisch ausgerichtet. Schon das Kommunistische Manifest ruft die „Proletarier aller Länder“ auf, sich zusammenzuschließen. Der Sozialismus betrachtet die Menschen als, wenn nicht gleich, so doch ähnlich. Ethnische oder kulturelle Unterschiede werden in der Linken und in der Arbeiterbewegung letztlich als weniger wichtig betrachtet als die Herrschaftsverhältnisse, in denen man sich befindet. Ein französischer und ein deutscher Arbeiter hätten mehr gemein als sie trennt. Mit Marx sind aber auch verschiedene „Kulturen“ zu hinterfragen. Auch solche Kulturen stellen keine unhintergehbaren Differenzen dar, sondern sie ergeben sich (oder lösen sich auf) durch verschiedenartige ökonomische Verhältnisse und Entwicklungen.

Die Geschichte der Linken weist sicherlich einige bemerkenswerte Beispiele internationaler Solidarität auf wie den Kampf für die spanische Republik, die Proteste gegen den Vietnamkrieg und die Unterstützung anderer antikolonialer und antiimperialistischer Bewegungen. Insgesamt hat sich die internationale Solidarität jedoch angesichts der kulturellen, sprachlichen und politischen Differenzen immer wieder als schwierig erwiesen. Die Unterschiede der Lebenslagen, Gesellschaften und Interessen sind sehr groß. Dass die Lage französischer und deutscher Arbeiter relativ ähnlich ist, hat schon im Ersten Weltkrieg nicht ausgereicht, den Nationalismus zu überbrücken. Wie ist es dann mit deutschen Angestellten einerseits und Afghaninnen andererseits? Gibt es da gemeinsame Interessen oder auch nur eine Grundlage für Verständigung? Haben deutsche Arbeiter viel gemein mit den Einwohnern von Gaza? Konflikte auf anderen Kontinenten sind schwer zu durchschauen. Viele Linke fühlen sich heute Transpersonen im Westen näher als einer gänzlich un-woken Unabhängigkeitsbewegung in einem afrikanischen Land. Auch wenn sie sich für antirassistisch und antikolonial halten, ist ihnen der politisch korrekte Sprachgebrauch wichtiger, interessanter und einleuchtender als die materiellen Lebens- und Sterbensbedingungen von Hunderten von Millionen Menschen.

Wir befinden uns in einer historischen Phase, in der sich gesellschaftliche Konflikte zuspitzen, was sich auch in internationalen Konflikte zeigt, die Spaltung zwischen den Nationen verschärft sich. Eine grenzüberschreitende Allianz der Beherrschten wird in dieser Situation noch schwieriger. Anstatt sich international zu vereinen oder auch nur zu verständigen, wählen sie populistische Führer, von denen sie sich eine Verbesserung ihrer Lage, auch durch rabiate Durchsetzung nationaler Interessen gegen andere Nationen, versprechen. Daher spielt internationale Solidarität heute kaum noch eine Rolle. Weder der Sozialismus noch auch nur liberal-aufgeklärte Ideologien haben international heute eine große Strahlkraft. An ihre Stelle sind identitäre, rückwärtsgewandte Ideologien wie der Islamismus getreten. Eine rationale Formulierung von Interessen fällt dann schwer. Ebenso fällt es für andere, die nicht dieser Identitätsgruppe angehören, schwer, Verbindung zu empfinden und Solidarität zu praktizieren. Die universalistische Perspektive ist verlorengegangen. Politisch ist die Linke in den meisten Ländern schwach. Progressive Bewegungen sind – wenn überhaupt – zumeist in Form von marktorientierten, liberalen Formen vorhanden, bei denen internationale Solidarität keine Rolle spielt.

Wenn also die praktischen Handlungsmöglichkeiten gering sind, so ist es dennoch Aufgabe der Linken zumindest theoretisch die internationalistische und universalistische Perspektive aufrechtzuerhalten. Sie hat sich wissenschaftlich mit den Herrschaftsbedingungen weltweit zu beschäftigen und sich damit ein kritisches Bewusstsein über die Gestalten und Widersprüche des internationalen Kapitalismus zu bewahren, was eine beträchtliche Arbeit bedeutet. Die Linke sollte den politischen Universalismus stärken, ohne die realen Differenzen von Gesellschaft, Kultur und Entwicklungsstand zu leugnen. Identitären Formen von Widerstand gegen die herrschende Ordnung, die sich wie der Islamismus und viele Formen des Postkolonialismus auf ethnische, kulturelle oder religiöse Identitäten berufen, sollte die Linke äußerst kritisch gegenübertreten.

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