Was Sie schon immer über Marx wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten – Folge IX.

DIE DREI versuchen mit jeweils drei kurzen Beiträgen zu einer Fragestellung, den Marxismus auf Themen anzuwenden, die es in der Form zur Zeit von Karl Marx noch nicht gab. Oder auch, klassische marxistische Thesen mit aktuellen Bedingungen zu konfrontieren. 
DIE DREI sind im Kern Michael Hopp und Tobias Reichardt, Mitglieder der Marxistischen Abendschule Hamburg (MASCH). Hier seht Ihr das Programm der MASCH und könnt Euch über Kurse informieren: https://www.masch-hamburg.de/
Zu Hopp und Reichardt hinzugekommen sind inzwischen Barbara Eder und Michael Heidemann. Da wir die Anzahl der Beiträge auf drei begrenzt halten wollen, kann eine(r) immer sein „Recht auf Faulheit“  (1880, Essay von Marx-Schwiegersohn Paul Lafargue, der allerdings durch Selbstmord aus dem Leben schied) realisieren.

Folge IX.: Hätte Marx mit dem „Footprint“ gearbeitet?
Der ökologische Fußabdruck oder Footprint soll die CO2-Emissionen veranschaulichen, die der einzelne verursacht. Bei industriellen Prozessen wird von „Klimabilanz“ gesprochen. Mit diesen Maßeinheiten werden Transformationsschritte weg von der Nutzung fossiler Energien begründet, aber auch das Verhalten einzelner gemaßregelt. Wie weit vertragen sich diese Regulative mit einem marxistischen Denken, das nicht davon absehen kann, dass sich der Klimawandel wirksam nur mit einer Abkehr von der kapitalistischen Produktionsweise bekämpfen lässt? MH

„Drill, Baby, drill!“

Von Michael Heidemann, Bremen

Ein globaler Klimawandel, der die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen systematisch bedroht, stand Marx im 19. Jahrhundert noch nicht vor Augen. Gleichwohl ließ sich anhand vergifteter Flüsse, verpesteter Luft und ausgelaugter Böden bereits absehen, wie das (industrielle) Kapital „die Springquellen alles Reichtums“ untergräbt. Zu diesen Springquellen gehört nach Marx nicht allein die menschliche Arbeit, wie es etwa die Sozialdemokratie seinerzeit und auch der Staatssozialismus später in verheerender Weise annahm. Marx nennt neben der menschlichen Arbeit die Erde als die zweite Springquelle des Reichtums.

Der Mensch hat sich als bedürftiges Sinnenwesen im Stoffwechsel mit der Natur zu erhalten. Dies tut er in Form von Arbeit, also der zweckmäßigen Umformung des Naturstoffs. Dies wiederum gelingt ihm, da er selbst nicht bloße Natur ist, sondern als zwecksetzendes Wesen zugleich über den Naturzusammenhang hinaus ist. Der Mensch vermag qua technischen Fortschritt immer weitere Teilbereiche der Natur erkennend ebenso wie praktisch zu erschließen, was als Naturbeherrschung bezeichnet werden kann. Dennoch ist es ihm prinzipiell unmöglich, „die Natur“ im Ganzen unter die Domäne seines Willens zu bringen. Seine äußere ebenso wie innere Natur behalten immer auch ein Moment von Fremdheit. Das muss gar nicht schlimm sein, sondern ist im Grunde ein Glücksversprechen. Ohne Fremdbestimmtheit und partiellem Kontrollverlust weder Lust noch Genuss!

Der kapitalistischen Produktionsweise – und mit ihr einem Großteil der bürgerlichen Philosophie – ist letzterer Gedanke grundsätzlich fremd. Das Kapital macht die Naturbeherrschung zum Selbstzweck. Die kapitalistische Produktion ist nicht bedürfnisorientiert, findet ihr Ziel nicht im konsumtiven Genuss der Menschen, sondern in der maßlosen Anhäufung von abstraktem Reichtum. Der Naturstoff – gleichgültig, ob in Gestalt von Rohstoffen, Arbeitskraft oder Maschinerie als umgeformter Natur – ist hierzu bloßes Mittel, Durchgangsstation der Selbstverwertung des Werts. Regenerationszeiten von menschlicher Arbeitskraft, Böden oder Regenwäldern sind aus Sicht des „Werwolfsheißhungers nach Mehrarbeit“ stets ein nicht hinnehmbarer Verlust an Verwertungspotential. Daher drängt die kapitalistische Produktionsweise rücksichtslos zur totalen raum-zeitlichen Integration aller Produktionsfaktoren auf ihren Verwertungszweck hin. Sie wirkt zerstörerisch auf ihre eigene natürliche Grundlage.

Die phänomenalen Folgen dieses Zerstörungsprozesses sind für jedermann spürbar in Form des globalen Temperaturanstiegs sowie sichtbar in Form von Sturmfluten, Waldbränden, Dürren, Desertifikation und Artensterben. Besonders dramatisch scheint sich das Schmelzen der Polkappen auszuwirken, wenngleich die genauen Wechselwirkungen aufgrund der Komplexität des Klimasystems in Modellen kaum zuverlässig prognostizierbar sind. Der Kapitalismus und mit ihm die politischen Parteien kennen hierfür nur eine Antwort: die weitere Inwertsetzung des Natürlichen durch „Energiewende“ und „Green New Deal“. Dass allen Ernstes mit „Verschmutzungsrechten“ gehandelt wird und Individuen „Footprints,“ als ökologische Fußabdrücke zugerechnet bekommen, zeigt an, wie verstrickt in die Warenform und kapitalistische Lösungsstrategien auch das „ökologische Bewusstsein“ ist. Zugleich scheint der Hass der politischen Rechten auf „die Grünen“ eine auf Verdrängung basierende Überidentifikation mit dem kapitalistischen Raubbau an der Natur zu sein. Oder in den infantil-trotzigen Worten des US-Präsidenten: „Drill, baby, drill!“

Selbst die Ersetzung der fossilen Energieträger durch erneuerbare Energien löst nicht das Grundproblem: der nie endende Verwertungshunger des Kapitals und seine Gleichgültigkeit gegenüber stofflichen Regenerationsprozessen. Allein die neu erschlossenen Verwertungsfelder der ‚Digitalisierung‘ verursachen einen nie dagewesenen Energiebedarf für die gigantischen Rechenzentren. Wirksamen Umwelt- und Klimaschutz kann es nur jenseits des Kapitalismus geben. Das wusste bereits Marx, obschon es falsch wäre, rückwirkend aus ihm einen „Ökosozialisten“ zu machen. Das Zerstörungspotential des industriellen Kapitalismus hat Marx zwar beschrieben, hing aber doch einem noch weitgehend ungebrochenen Technikoptimismus an. Als wäre der zerstörerische Zweck der kapitalistischen Produktion nicht längst in die Gestalt von Bohrtürmen, Produktionsstraßen und Benutzeroberflächen eingesenkt. Die nötige kritische Reflexion hierzu lieferte erst im 20. Jahrhundert die an Marx anschließende kritische Theorie.

Footprint heilt den „Riss“ nicht

Von Michael Hopp, Hamburg

„Was machen Sie eigentlich gegen die Erderwärmung“ lautet der erste Satz des Buchs „Systemsturz“*, mit dem Kohei Saito in sein in Bau befindliches Theoriegebäude eines „Dewgroth-Kommunismus“ lockt, das den Nachweis erbringen soll, dass der Kapitalismus die Ursache der drohenden Klimakatastrophe ist – und dass ein Weiterleben auf diesem Planeten nur in einem nicht-kapitalistischen System erfolgen kann. Der einzelne Bürger kann gegen die Erderwärmung wenig ausrichten. Ideologien, wonach sich mit neuer Technologie Wachstum von der CO2-Emission entkoppeln ließen, verweist Saito entschieden ins Reich der Illusionen bzw. der dahinter versteckten, klassischen kapitalistischen Exploitation – wie im Falle der Elektro-Mobilität, für deren „Klima-Vorteil“, den wir hier in Anspruch nehmen, die Armen und Ärmsten im globalen Süden bezahlen. Die Fragestellung dieser Kolumne, was Karl Marx über den Begriff des „Foootprint“ gedacht hätte, der den einzelnen für „seine“ Emissionen verantwortlich macht, ist damit implizit mitbeantwortet. Allerdings darf man es sich an der Stelle nicht zu leicht machen, da die Frage, wie die CO2-Bilanz und die soziale Nachhaltigkeit der gesamten Herstellungs-und Lieferkette von Waren aussieht, eine politische Dimension hat, die nicht von der Hand zu weisen ist. Auch mögen Ansätze, wie CO2-Neutralität in der Produktion oder die Kreislauf-Wirtschaft, das Eigentum an Produktionsmitteln nicht in Frage stellen, haben aber als Antwort auf die Erderwärmung ihre Berechtigung.

Wenn im 19.Jahrhundert die Bedeutung des Kohlenstoffdioxids in der Atmosphäre auch noch nicht bekannt war, hatte Karl Marx doch immer die Ausbeutung von Mensch und Natur im Blick. In seiner Herleitung eines „Degrowth-Kommunismus“ geht Kohei Saito auf den Spuren von Marx bis an die Anfänge des Privateigentums im 17. Jahrhundert, als die vorkapitalistischen Commons oder Allmenden mittels Einhegungen aufgelöst wurden und durch Privatbesitz verdrängt. Damit wurde das Prinzip der Verknappung etabliert, die bisher allgemein zugänglichen Güter der Landwirtschaft verwandelten sich in Waren. In diesem Zusammenhang ereignete sich übrigens auch der Sündenfall der Industrialisierung in England, die sich untrennbar verband mit dem fossilen Brennstoff Kohle und die Alternative Wasser beiseite ließ. Der Grund: Kohle lässt sich besser verknappen als Wasser, der punktuelle Abbau lässt sich besser kontrollieren – in ihrer ewigen Knappheit eignet sich Kohle ideal als Ware.

Die Alternative, die Saito vorschlägt, wäre ein Degrowth-Kommunismus, eine Gebrauchswertwirtschaft, die sich in der Produktion wie in der Konsumation von der kapitalistischen Überflusswirtschaft radikal abwendet. Er bemüht sich, den Nachweis zu erbringen, dass Marx der Vater des Degrowth-Kapitalismus sei und belegt an Hand noch wenig bekannter, in den letzten zwei Jahren vor Marx´  Tod entstandenen Notizen, seine Beschäftigung mit den Naturwissenschaften, die zur Abkehr vom „Produktionismus“ der früheren Jahre geführt habe. Die Idee, die sich ständig entwickelnden Produktivkräfte des Kapitalismus würden später auch im Sozialismus genutzt, wich bei Marx der Erkenntnis: „Wenn man von Produktivkräften spricht, will man damit den Grad der Herrschaft des Menschen über die Natur, den Grad der Beherrschung der Natur kennzeichnen.“  Saito greift „Marx´Stoffwechseltheorie“ auf, in der es heißt, die unbegrenzte Wertsteigerung des Kapitals sei von den ursprünglichen Kreislaufprozessen der Natur entfremdet und führe letztlich zu einem „unheilbaren Riss“ zwischen Mensch und Natur.

Ich weiss nicht, ob Saitos Herleitungen und seine Quellenlage reichen werden, das „missing link“ zwischen Ökologie und Marxismus zu bilden, aber es fragt sich, ob der Quellen-gestützte, lupenreine Nachweis überhaupt notwendig ist – angesichts der Offensichtlichkeit der gezeigten Zusammenhänge. An mancher Stelle hätte man Saito mehr Mut gewünscht, in der Theoriebildung selbst voranzugehen, statt sich in der Anstrengung zu verlieren, Marx nun auch zum Übervater der Ökologie zu erklären.  Warum wäre es nicht zu ertragen, wenn Marx, ein Denker des 19. Jahrhunderts, nicht alles klitzeklein und mit fertiger Theorie vorhergesehen hätte, was uns 200 Jahre später beschäftigt?

Mit Marx sagt Saito, dass die Arbeit das Bindeglied zwischen Mensch und Natur ist und der Kern zu Veränderung in der Änderung der Produktionsverhältnisse liegt, ganz wesentlich auch in deren Zielen. Was wird produziert? Wieviel? Und wie Marx sagt er, dass der gewünschte Überfluss einer künftigen Gesellschaft nur erzeugt werden kann, wenn die erwirtschafteten Werte bei den Produzenten selbst bleiben und nicht als Mehrwert für die Akkumulation von Kapital abgeschöpft werden. Doch obwohl Saito historisch den negativen Einfluss des Privateigentums auf die Entwicklung einer Gesellschaft zeigt, hat er für die heutige Zeit auf die Frage nach dem Eigentum keine rechte Antwort: Auf Seite 217 schreibt er etwas überraschend, die „Besitzfrage ist nicht das grundlegende Problem“. Wie das gemeint ist, müsste vielleicht noch ausgeführt werden.

* Kohei Saito: Systemsturz – Der Sieg der Natur über den Kapitalismus, dtv Verlag, 2023, 25 Euro
Der Text enthält Teile einer in diesem Blog bereits am 22. September 2023 erschienen Besprechung des Buchs von Saito. MH

Der „Fußabdruck“ ist ein Moralgesetz

Von Tobias Reichardt, Hamburg

Der „ökologische Fußabdruck“ soll ausdrücken, wie stark der Mensch, ein einzelner Mensch oder auch die Menschen in einem bestimmten Land die natürliche Umwelt belasten. Er soll verdeutlichen, dass der Ressourcenverbrauch in vielen Ländern die natürliche Umwelt übermäßig beansprucht, d.h. Raubbau an der Natur betreibt.

Marx hatte ein für seine Zeit weit entwickeltes Bewusstsein für ökologische Probleme. Er erkannte bereits, wie die kapitalistische Produktion zu einer Zerstörung der Lebensgrundlage des Menschen führte. Globale Auswirkungen der Industrialisierung auf die Natur, wie den Treibhauseffekt, konnte er noch nicht erfassen. Diese Naturzerstörung führte Marx darauf zurück, dass der Kapitalismus von dem Motiv der Profitmaximierung gesteuert ist. Umweltzerstörungen tauchen als „externe Effekte“ in der Bilanz der Unternehmen nicht auf. Sie kosten den Kapitalisten nichts, ebenso wenig wie die Zerstörung der Gesundheit der Menschen. „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter“ (Kapital I, MEW 23, S. 529 f.)

Dennoch hätte Marx wohl weder den ökologischen Fußabdruck noch andere „Fußabdrücke“ (wie den CO2-Fußabdruck) für seine Argumentation genutzt. Diese Maßstäbe mögen in mancher Beziehung hilfreich sein. Z.B. kann man damit zeigen, wie sehr ein hoher Lebensstandard sich auf die Belastung der Umwelt auswirkt, wie groß der Verbrauch von Reichen und Superreichen ist und wie groß die Klassenunterschiede, aber auch die Unterschiede zwischen den Nationen im Konsum sind. Dennoch ist die Gefahr der Reduktion sozialer Probleme auf individuelle Verhaltensweisen hoch. Der ökologische Fußabdruck suggeriert, man sei als Individuum für die Umweltzerstörung verantwortlich und könne die ökologische Frage durch Einschränkung des Konsums zu lösen. Der Fußabdruck moralisiert. Wir bekommen ein schlechtes Gewissen aufgrund unseres Konsums und versuchen durch einen (vermeintlich) umweltverträglicheren Lebensstil ein besseres Gewissen zu bekommen.

Das wäre jedoch sicher nicht die marxsche Perspektive gewesen. Marx hätte nicht das Individuum für die Umweltzerstörung verantwortlich gemacht, sondern das kapitalistische System der rücksichtslosen Profimaximierung. Wenn Einzelne ihren Konsum einschränken, rücken andere an ihre Stelle. Heute sind dies einerseits die Super-Reichen, die einem überaus verbrauchsintensiven Lebensstil frönen. Andererseits sind dies Länder wie China und Indien, die die wirtschaftliche Entwicklung nachholen, welche der Westen bereits hinter sich hat. Individuelle Einschränkungen tragen daher wohl eher zur Beruhigung des Gewissens als zu einer Lösung des Umweltproblems bei. Lösungen müssen auf politischer Ebene gesucht werden. Der Kapitalismus, der nach unbegrenztem Wachstum strebt, steht in unauflöslichem Widerspruch zu den begrenzten Ressourcen des Planeten. Diese gesellschaftlichen Zusammenhänge treten beim ökologischen Fußabdruck aus dem Blickfeld. Der Gipfel der Augenwischerei ist die „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ (BNE), die – da sie von eben diesem individualistischen Ansatz ausgeht – alle möglichen Menschheitsprobleme durch Pädagogik lösen will. Dies mag zu dem guten Gefühl der daran Beteiligten führen. Die eigentlichen Probleme löst es nicht.

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