DIE DREI versuchen mit jeweils drei kurzen Beiträgen zu einer Fragestellung, den Marxismus auf Themen anzuwenden, die es in der Form zur Zeit von Karl Marx noch nicht gab. Oder klassische marxistische Thesen mit aktuellen Bedingungen zu konfrontieren.
Folge III: Warum wählen Arme und Unterprivilegierte Rechtspopulisten?
DIE DREI sind Michael Hopp und Tobias Reichardt, Mitglieder der Marxistischen Abendschule Hamburg (MASCH). Hier seht Ihr das Programm und könnt Euch über Kurse informieren: https://www.masch-hamburg.de/
Als dritter Autor neu hinzugekommen ist Michael Heidemann. Er studierte Philosophie und Politikwissenschaften in Münster und Oldenburg, ist unter anderem Autor der Zeitschrift sans phrase. Zeitschrift für Ideologiekritik und Autor des Sammelbandes „Subjekt und Befreiung“. Wir freuen uns sehr!
Wir alle drei freuen uns auf Diskussionsbeiträge! Hier im Blog als Kommentar oder bei „Michael Hopp“ auf Facebook, wo die Beiträge im Laufe der Woche auch einzeln gepostet werden.
Warum wählen Arme und Unterprivilegierte Rechtspopulisten?
In zwei Wochen sieht die Bundesrepublik vielleicht ganz anders aus. Wenn in Sachsen und Thüringen die AfD eine noch dominierendere Rolle spielen wird, wird das sattsam bekannte, gleichwohl wirkungslose Wehklagen einsetzen, das von einer tiefen Ratlosigkeit geprägt ist. Daß die Rechtsaussen-Partei gerade bei denen punktet, die von ihr eigentlich nichts zu erwarten haben, ist ein nicht so leicht erklärbares Phänomen. Was fällt den „Dreien“ als Marxisten dazu ein?
Wieso nicht?
Von Michael Heidemann, Bremen
Provokant könnte die Frage mit einem „Wieso nicht?“ gekontert werden. Schließlich erzielen Rechtspopulisten seit geraumer Zeit durch beinahe alle Bevölkerungsschichten hindurch steigende Zustimmungswerte. Wer sich bei armen Menschen darüber wundert, hat vermutlich im Hinterkopf, dass das politische Programm des Rechtspopulismus den materiellen Interessen dieser Menschen in besonderem Maße schadet und es mithin irrational wäre, so zu wählen. Ein richtiges und zugleich naives Argument. Denn warum sollten ausgerechnet Unterdrückte, denen in aller Regel am meisten die Muße zur Bildung fehlt, einen exklusiven Zugang zur Wahrheit haben, während doch selbst den meisten Professoren und Feuilletonistinnen die Hirne politisch vernebelt sind? Die Vorstellung authentischer proletarischer Solidarität, die sich dann auch an den Wahlurnen durch Immunität gegenüber geistigen Brandstiftern äußert, ist schlechte Romantik.
Die alltäglich im Job erfahrenen Demütigungen werden aus Mangel an Alternativen psychisch destruktiv verarbeitet. Aus dem Gefühl der Ohnmacht, die eigene Lage nicht grundsätzlich ändern zu können, erwächst die Lust an der Qual anderer, die Ersatzbefriedigung für die eigene Fremdbestimmung verschafft. Der Rechtspopulismus lebt von dem Versprechen einer solchen Ersatzbefriedigung. Abgesehen von seinen stets einfachen Antworten auf komplizierte Fragen weiß er insbesondere die antisozialen Reflexe seiner Adressaten geschickt zu bedienen. Stellvertretend für seine Anhänger spricht er Dinge aus, die diese sich auf der Arbeit oder in der Öffentlichkeit nicht zu äußern trauen – das ideale Programm für Menschen, die gelernt haben, nach oben zu buckeln und nach unten zu treten.
Hinzu kommt, dass der Gegenpart zur Rechten, die gesellschaftliche Linke, weitgehend staatstreu und darin ziemlich selbstgerecht agiert. Die theoretischen Begriffe für eine aufs Ganze zielende Kritik ökonomischer Ausbeutung hat sie abgeräumt und sich stattdessen auf bevormundende Kulturkämpfe kapriziert. Zu allem Übel verdrängt sie hierin reale Gefahren für erkämpfte Liberalisierungserfolge– allen voran den politischen Islam. Sie tut also ihr übriges, um den antielitären Gestus der Rechten zu befeuern. Beide Seiten bedingen einander, beide treffen sogar auf ihre Weise etwas an der Wirklichkeit. Es ist m.E. aber Symptom einer im Verfall begriffenen politischen Öffentlichkeit, dass in beiden Lagern moralisierende Identitätsangebote zunehmend die sachorientierte Politik ersetzen. Welches dieser Angebote in je unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu diesem oder jenem Zeitpunkt attraktiver erscheint, ist eine Frage politischer Konjunktur, die kaum weniger schwankt als der DAX- oder Nikkei-Index.
Wen könnten sie denn sonst wählen?
Von Tobias Reichardt, Hamburg
Dem marxschen „Materialismus“ zufolge bestimmt das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein. Marx geht also davon aus, dass das Denken der Menschen und ihr bewusstes Handeln maßgeblich von ihrer sozialen Stellung beeinflusst sind. Dies kann man sich zunächst so vorstellen, dass Menschen sich ihr politisches Bewusstsein nicht frei nach reinen Vernunftüberlegungen bilden, sondern nach den materiellen Interessen, die sie in der Gesellschaft haben. Vermutlich hat Marx auch primär an diesen Zusammenhang gedacht. Wenn das so ist, dass unsere materiellen Interessen unser politisches Bewusstsein prägen, stellt sich zu Recht die Frage, wieso viele Ärmere sich gerade durch die Rechten am besten vertreten sehen.
Im weiteren Verlauf der Geschichte und Geistesgeschichte nach Marx, insbesondere derjenigen des 20. Jahrhunderts, ist klargeworden, dass dieser Zusammenhang nicht so einfach ist. Die faschistischen Bewegungen haben vor Augen geführt, was für eine große Rolle Emotionen und Psychologie in der Politik spielen können. So mögen auch heute die Wähler oder Anhänger von rechtspopulistischen Parteien einen emotionalen Gewinn haben, indem sie eine Partei oder eine Person wählen, die ihre Vorurteile, ihren Hass oder einfach ihre im Alltag unterdrückten, politisch nicht „korrekten“ Positionen ausspricht. Wenn man Verschwörungstheorien präsentiert oder auf Migranten schimpft, erreicht man mehr Menschen als mit komplizierten und nuancierten Erläuterungen.
Allerdings sollte man die Tatsache, dass Rechtspopulisten oft von den Unterprivilegierten verstärkten Zuspruch erfahren, nicht allein psychologisch erklären. Wer sagt denn, dass die Rechten und Rechtsradikalen nicht in gewissem Maße auch Politik im Interesse der Ärmeren betreiben? Linke nehmen dies oft vorschnell an. Sie gehen wohl davon aus, dass Nationalismus und Abschottung niemals im Interesse der Armen sein können. Trump wird das Gesundheitssystem in den USA sicher nicht weiterentwickeln. Und die AFD hat kaum Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart. Ihre Sozialpolitik scheint unterentwickelt. Teile der rechtspopulistischen Bewegungen sind sehr neoliberal orientiert und bedrohen Renten und andere öffentliche Leistungen. Dennoch setzen sie sich teilweise auch für die Interessen der arbeitenden Bevölkerung ein. So verspricht der Protektionismus Trumps durchaus Arbeitsplätze in den USA zu schaffen und zu halten.
Und es gibt noch einen dritten Aspekt: Es muss nämlich die Frage gestellt werden, wer denn die Interessen der arbeitenden Bevölkerung sonst vertritt, welche Alternative die Unterprivilegierten also haben. Die linken Parteien in vielen Ländern verfolgen seit Jahrzehnten selbst eine neoliberale Politik. Es kann bei vielen der Eindruck entstehen, die Linken interessierten sich mehr für sexuelle Minderheiten und ausgefallene, angeblich nichtdiskriminierende Sprachregeln als für Normalbürger und deren alltäglichen Kämpfe. Das Linke an linken und linksliberalen Parteien bezieht sich oft eher auf Kulturpolitik. Den Sinn für die Bedeutung von Ökonomie und Verteilungskämpfen haben sie verloren
Vom Proletariat zum Prekariat
Von Michael Hopp, Hamburg
Karl Marx hat uns etwas geschenkt, das nicht in Vergessenheit geraten sollte: den Begriff der „Arbeiterklasse“. Nicht nur war diese Definition grundlegend, für die Entwicklung der demokratischen Gesellschaft, die wir heute haben, die ihre Stabilität aus der austarierten, strukturellen Polarität der beiden Klassen bezieht. Der Begriff war auch Voraussetzung dafür, daß dass die Nichtbesitzenden im Staat sichtbar wurden, Gehör fanden und nicht mehr gänzlich übergangen werden konnten. Und es sind bis heute nichts anderes als die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, die das Leben im kapitalistischen Staat für viele gut erträglich machen.
Indem Marx die „doppelt freien Arbeiter“ zu „Klasse“ und „Proletariat“ machte, gab er ihnen Ansehen, Würde und Kultur (bis hin zum „Klassenstolz“) und wies ihnen mit der Perspektive des Klassenkampfes einen Weg der Hoffnung, bedrückende Umstände zu überwinden. Diese Erzählung war über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg in einem guten Teil der Welt wirkmächtig. Als Archetyp des Proletariers galt Marx der in Lohn und Brot stehende Industriearbeiter, der auch unter den Bedingungen der durch Besitzverhältnisse und Arbeitsteilung bewirkten Entfremdung eine hohe Bindung an die Arbeit hatte. Die Arbeit ist bei Marx als ursprüngliche Auseinandersetzung mit der Natur die fundamental wert- und identitätsbildende Kraft. Für Menschen ohne Arbeit hatte er keinen freundlicheren Begriff als den des „Lumpenproletariats“, das er nicht als Bündnispartner der Arbeiterklasse sah.
Der britische Wirtschaftswissenschafter Guy Standing hat mit „The Precariat – The New Dangerous Class“ ein grundlegendes Werk geschaffen, das die weltweit verheerenden Wirkungen neoliberaler, vom Chaos der Märkte geprägter Politik auf die Entwicklung der Gesellschaft dokumentiert. Es entstehen immer mehr „working poor“, die sozial und kulturell nicht mehr integriert werden können. Sie haben all das nicht – Selbstbewusstsein, Kultur, Perspektive -, zu dem Marx die Arbeiterklasse ermächtigt hat. Während das Proletariat sich zur Stütze und zum Rückgrat der Gesellschaft entwickelt hat, ist das Prekariat das Gegenteil. Prekär lebende Menschen – und es sind weltweit Millionen – leben in einem Zustand absoluter Entfremdung, verfügen über keine positiven Erfahrungen mit Arbeit und Gesellschaft und sind krank davon geworden, die essentielle Erfahrung, etwas bewirken zu können, nie gemacht zu haben. AfD o.ä. wählen sie nicht in erster Linie, weil es „rechts“ ist, sondern weil es ihrer ansonsten unterdrückten Wut matten Ausdruck verleiht und ihnen vielleicht ein kleines Stück Identität gibt.
Damit sei nicht gesagt, dass nur Prekäre die AfD wählen, dazu kommen noch immer-schon national-rechte Spiesser, die sich wieder aus ihren Löchern wagen, vereinzelt auch Junge, die aus ihrer Social-Media-Vereinzelung heraus den Weg in die Gesellschaft nicht finden und eine Horde geltungssüchtiger Wichtigtuer, die das ganze organisieren. „Die Linke“ kann in all den genannten Gruppen im Moment offenbar keinen Stimmungsumschwung bewirken.
Was hätte Marx dazu gesagt? Das wissen wir nicht. Erstaunlich ist nur, wie weit in die Gegenwart seine Analyse trägt, wenn er sein „Lumpenproletariat“ als „Surplus-Bevölkerung“, als „industrielle Reservearmee“ und den „tiefsten Niederschlag“ der Kapital-Akkumulation und Überproduktion bezeichnet. In einfachen Worten, je mehr Kapitalismus wir haben, umso mehr Elend und Faschismusgefahr.
Lieber Michael, gestatte eine kritische Bemerkung: Es sind nicht nur vereinzelt Junge, die rechtspopulistisch wählen. Laut Umfragen ist die AFD derzeit gerade unter den Jungen besonders beliebt. Es sind die Rentner, die bei der Europawahl unterdurchschnittlich AFD gewählt haben.
Hallo Tobias, würde ich nicht hervorheben, das fixiert sie da nur. Fand in dem Zusammenhang den konkret-Titel „The Kids are Alt-Right“ schon ärgerlich, das Interview im Heft mit dem Sozialpädagogen Tilman Kallenbach dann aber sehr gut, differenziert. Wenn man sieht, was in Social Media los ist, muss man eher froh sein, dass bei den Erstwählern nicht mehr rechte Stimmen waren. „Wir“ machen den Jungen, da, wo sie sind, ja keine Angebote – und das ist UNSER Versagen, nicht das der Jungen. Erstwähler waren doch 1,2 Millionen – und ich habe live erlebt, wie in diesem Klima von Verunsicherung, Social Media und fehlender politischer Bildung Wahlentscheidungen gefallen sind. Das kann vier Jahre später schon wieder ganz anders ausfallen!