Was für eine Arbeit ist „Sexarbeit“?

Materalien zum ROTEN SALON HAMBURG mit Theodora Becker und ihrem Buch „Die Dialektik der Hure“ (Matthes und Seitz Verlag 2024)
Am Montag, 5. Mai 2025, 18:30 bis 20:30

Moderation: Barbara Eder, Wien  
B.E. ist Sozialwissenschafterin, Philosophin und Autorin (Das Denken der Maschine, Mandelbaum Verlag, 2023)

Was eigentlich verkauft die Hure dem Freier? Die Prostituierte ist in den Worten Walter Benjamins „Verkäuferin und Ware in einem“, sie verdinglicht sich zum käuflichen Objekt und bleibt doch unverfügbares Subjekt. Theodora Becker untersucht in „Dialektik der Hure“ anhand der Prostitution den Zusammenhang von Subjektivität, Sexualität, Warenform und Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft sowie seine Wandlungen seit dem 19. Jahrhundert.

Bis in die Debatten der aufgeklärten Gegenwart erscheint die Hure zugleich als preisgegebenes Opfer und arbeitsscheue Betrügerin, die Prostitution als unverzichtbare Einrichtung und zu bekämpfendes Übel. Wie sehr das auch mit dem bürgerlichen Blick auf Frauen und ihre Körper zu tun hat, der zu jeder Zeit Kontrolle und Voyeurismus, Distanz und Neugier gleichermaßen ist, untersucht Theodora Becker in ihrem Buch  und fragt nach der Ambivalenz der sexuellen Ware, die diesen Zuschreibungen und Umgangsweisen zugrunde liegt. Dabei verfolgt sie anhand der Prostitution den Zusammenhang von Subjektivität, Sexualität, Warenform und Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft sowie seine Wandlungen seit dem 19. Jahrhundert und spielt mit der Sehnsucht des Lesers, hinter den Vorhang zu blicken, um einen verstohlenen Blick auf die dort arbeitenden Huren zu erhaschen. (Text: Verlag)

I. Stimmen der anderen –darum geht es in dem Buch

»Dieses Buch wird sich Feinde machen, die auch untereinander verfeindet sind«

»Dass sie jede der von ihr rekonstruierten Positionen […] ernst nimmt, ohne sich je vollständig mit einer zu identifizieren, dass sie Partei immer nur ergreift, um der Parteinahme sogleich die ihr entgegenstehende Wahrheit entgegenzusetzen, macht die Stärke dieses streng allein mit Blick auf seinen Gegenstand komponierten Buchs aus. Es wird keinen Sonderforschungsbereich und keine Diskurskontroverse begründen, und es wird sich Feinde machen, die auch untereinander verfeindet sind. Aber man sollte es lesen, hüten und wiederlesen.«
Magnus Klaue, Neues Deutschland

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178456.theodora-becker-dialektik-der-hure-imagination-und-wirklichkeit.html

»Theodora Becker analysiert aufschlussreich und eigenwillig den bürgerlichen Skandal- und Rätselcharakter käuflicher Lust.«
Marianna Lieder, FAZ (online, Paywall) https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/theodora-beckers-buch-dialektik-der-hure-19500888.html

»Die Philosophin entwirft das älteste Gewerbe der Welt als eine Tätigkeit, die marktwirtschaftliche Prinzipien ad absurdum führt.«
Larissa Kunert, Tagesspiegel (online, Paywall) https://www.tagesspiegel.de/kultur/ehrenrettung-der-sexarbeit-theodora-becker-und-ihre-studie-zur-dialektik-der-hure-10900267.html

Theodora Becker in Interview und Gespräch

»Ist Sexarbeit eine Arbeit wie jede andere? Spoiler: Irgendwie jein.«
Klaus Walter im Gespräch mit Theodora Becker https://www.hr2.de/programm/doppelkopf/doppelkopf-mit-theodora-becker-dialektik-der-hure,epg-doppelkopf-2718.html

»Das Sexgewerbe braucht die Illusion, dass auch von der Seite der Prostituierten ein gewisses Begehren im Spiel ist. Andernfalls wird bezahlter Sex reduziert auf einen technischen Akt, eine erweiterte Masturbation. Dann könnte man die Prostituierte auch durch eine Puppe ersetzen oder gleich Pornos schauen. Der Freier will aber die reale Frau.«
Birgit Schmid im Interview mit Theodora Becker, NZZ https://www.nzz.ch/feuilleton/prostitution-theodora-becker-verteidigung-des-kaeuflichen-sex-ld.1824931

Und noch eins
Christian Rabhansl im Interview mit Theodora Becker https://www.deutschlandfunkkultur.de/kulturwissenschaftlerin-theodora-becker-ueber-die-dialektik-der-hure-dlf-kultur-569afe3e-100.html

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Zu Gast im ROTEN SALON: Theodora Becker studierte Philosophie, Politik- und Kulturwissenschaften und arbeitet u. a. im Gast-, Ausgrabungs-, Schreib-, Korrektur- und Ausschankgewerbe

II. Die Linke und der Sex

Von Barbara Eder

B.E. ist Autorin, Philosophin und Sozialwissenschafterin in Wien und wird den ROTEN SALON mit Theodora Becker moderieren. Hier ein Auszug aus der Einleitung zu ihrem Sammelband (zus. mit Felix Wemheuer) „Die Linke und die Sexualität“, der verschiedene Positionen, historische gleichermassen wie aktuelle, der Linken zur Sexualität versammelt, im Promedia Verlag, Wien

Die sexuelle Befreiung der Menschheit ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft – so lautete einst ein linker Glaubenssatz. Projekte der sexuellen Befreiung standen stets in engem Zusammenhang mit globalen Revolten. Im Zuge der revolutionären Unruhen, die in Europa nach dem Ersten Weltkrieg und in Reaktion auf die Oktoberrevolution von 1917 ausbrachen diskutierten AktivistInnen in der kommunistischen Bewegung über die Auflösung der patriarchalen Kleinfamilie, „erotische Kameradschaft“ oder die Gründung von Gewerkschaften für Prostituierte. Als erstes Land in der Geschichte legalisierte die junge Sowjetunition Abtreibung und Homosexualität und führte die Zivilehe und das liberalste Scheidungsrecht der damaligen Zeit ein.

Für viele deutsche Kommu-nistInnen war es auch in den frühen 1920er-Jahren der Weimarer Republik selbstverständlich, mit AktivistInnen der Schwulenrechtsbewegung oder linken PsychoanalytikerInnen zusammenzuarbeiten. Wilhelm Reich versuchte als Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) die Theorien von Karl Marx und Sig-mund Freud zu verbinden. Sexuelle Unterdrückung durch Staat, Familie und Kirchewar für Reich ein wichtiger Grund, warum sich viele ArbeiterInnen trotz ihrer ökonomischen Lage nicht der Revolution anschlossen. Auf sein Bestreben hin gründe-te die KPD 1931 den „Reichsverband für proletarische Sexualpolitik“ als Unteror-ganisation. Die von Reich verfaßte „Sexualpolitische Plattform“ (S. 71) erklärte diesexuelle Frage zu einer „Kampffrage erster Ordnung, eine Machtfrage der Werktäti-gen gegen Kapital und Kulturreaktion“.

Um das sexuelle Elend zu beseitigen, forderte der Reichsverband die Legalisierung von Abtreibung und Homosexualität sowie die kostenlose Abgabe von Verhütungsmitteln durch die Krankenkassen. Menschenwürdige Wohn- und Arbeitsverhältnisse seien die Voraussetzung, um eine gesunde und befriedigende Sexualität zu ermöglichen und auch die Ursachen der Prostitution zu beseitigen. Flächendeckende Aufklärung für Kinder und Jugendliche sowie Zugang zu medizinischer und psychologischer Betreuung für alle sollten seelische Störungen verhindern. (Viele Forderungen der Plattform sind heute auch in den westlichen Zentren noch immer nicht verwirklicht, von den Ländern der sogenannten Dritten Welt ganz zu schweigen.) Ein Gros der Funktionäre und die Parteiführung der KPD wandten sich schließlich gegen diese offensive Politisierung der Sexualität. Ein Funktionär beschwerte sich zum Beispiel: „Reich will, daß wir aus den Turnhallen unserer Vereine Bordelle machen. Wir sollen unsere Jugend auf die sexuellen Fragen raufstoßen, statt sie davon abzulenken.“ Vor allem Reichs Versuch, den Aufstieg des Faschismus psychoanalytisch zu erklären, führte zum Bruchmit der KPD. 1933 wurde Reich aus der Partei und 1934 aus der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen.

In der Sowjetunion zeichneten sich jedoch gegen Ende der 1920er-Jahre massive Probleme bei der Revolutionierung des Alltags ab. Das Programm, die Kleinfamilie durch kollektive Küchen, Kindergärten und Wäschereien zu ersetzen, war angesichts der knappen Ressourcen des rückständigen Landes undurchführbar. Außerdem nutzten viele Männer die mit den sexuell libertären Lebensformen einhergehenden neuen Freiheiten allzu sehr aus und übernahmen für ihre Kinder keine Verantwortung. In der Sowjetunion wurden daraufhin Familie und mütterliche Hausarbeit wieder hochgehalten und die Abtreibung verboten. „Freie Liebe“, Psychoanalyse oder Homosexualität galten als Ausdruck bürgerlicher Dekadenz. Die/der gute KommunistIn mußte seine/ihre Bedürfnisse wieder disziplinieren. Schließlich vollzog sich auch in der kommunistischen Weltbewegung eine konservative Wende.

Erst mit der Revolte von 1968 wurde die Idee, sich von den Moralvorstellungen
und Lebensformen einer repressiven Gesellschaft zu befreien, wieder populär. Dieneue Linke studierte wieder die TheoretikerInnen der 1920er-Jahre wie Reich oderRevolution zu warten, begannen StudentInnen und Jugendliche mit der GründungHaschisch und Vietnam“ irgendwie zusammenhingen, führte zur Politisierung von Menschen auf der ganzen Welt. Doch schon die ersten Jahre der Bewegung ließen viele TeilnehmerInnen der Bewegung enttäuscht und ernüchtert zurück. Nicht nur patriarchale Normen dominierten die Kommunen, auch sexuelle Übergriffe fanden statt; zudem wurden viele Lesben, Schwule und Trans-Personen, die oftmals in verschiedenen sexualpolitischen Bewegungen aktiv waren, durch Heterosexismus und Homophobie marginalisiert.

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„Josefine Mutzenbacher“-Verfilmung, deutscher Sexfilm von 1970 mit Christine Schuberth. In Wien sind auch die Nutten lieblich. Die Erzählung stammt angeblich von „Bambi“-Autor Felix Salten

Im Laufe der 1970er-Jahre erkannten Medien und Unternehmen, daß man mit Sex viel Geld verdienen kann. Die Kommerzialisierung der Erotik nahm der Kritik an der sexuellen Unterdrückung durch Familie, Kirche und Kapital den Stachel. Konkurrenzverhalten und Leistungsdruck am Arbeitsmarkt bestimmten zu-
nehmend die Arten und Weisen wie (hetero-)sexuelle Beziehungen geführt wurden. Als die Prekarität mit der Auflösung des sozialen Wohlfahrtsstaates im 21.sion von konventionellen Familienstrukturen, sondern auch zu neuen Lüsten undZwängen im Bereich des Sexuellen.

Nach dem Scheitern der anti-autoritären Linken übernahmen die sich neu for-mierende Zweite Frauenbewegung und die Lesben- und Schwulenbewegung denAnspruch, den Alltag umzugestalten. Andere Teile der Neuen Linken organisier-ten sich in diversen leninistischen „K-Gruppen“, die sich in der Regel an einemkonventionellen Lebenstil orientierten, um sich von ihrem imaginierten Ideal des „Proletariats“ nicht allzu weit zu entfernen. Parallel dazu entstanden in Reaktion auf die AIDS-Krise der 1980er-Jahre, von den USA ausgehend, breite Bündnissegegen die staatliche und mediale Denunziation queerer Lebensformen. Die amerikanische Sex Radical Gayle Rubin thematisierte in dieser Zeit erneut den Zusammenhang zwischen sexueller Identität und Klassenlage.

Immer noch teilt die moderne westliche Gesellschaft Geschlechtsakte in einhierarchisches System des sexuellen Wertes ein. Nach diesem System wird jeneSexualität als „gut“, „normal“ oder „natürlich“ angesehen, die heterosexuell, ehe-lich, monogam, reproduktiv und nicht kommerziell ist. Sie soll im Paar stattfinden,in derselben Generation, zuhause passieren und keine Pornographie, Fetisch-Objekte und Sex-Toys gebrauchen. Weibliche und männliche Rollenklischees werden in ihr reproduziert. In Abweichung von der impliziten Norm der heterosexuellen Kleinfamilie stehen Homosexuelle, Trans-Personen, FetischistInnen, Sadoma-sochistInnen und SexarbeiterInnen.

Durch die gesellschaftlich reproduzierten Sex-Hierarchien werden nicht-hete-rosexuelle und/oder nicht-reproduktiv ausgelegte Sexualitäten an den Rand ge-drängt, was sich in Stadtteilsegregation, Ghettoisierung, Kriminalisierung und all-gemeiner Repression manifestiert. Von den AktivistInnen der „sexuellen Befrei-ung“ wurde der Blick jedoch nicht primär auf die Unterdrückung sexueller Minderheiten gerichtet. Ebensowenig stellten sie die Frage, wem das Privileg, sich vonseiner Sexualität zu befreien, überhaupt zukommt. Dem/der Homosexuellen stehtdieses Recht offenbar nicht zu, da diese/r seit dem 19. Jahrhundert „über eine Vergangenheit und eine Kindheit verfügt, einen Charakter, eine Lebensform” sowieeine „möglicherweise rätselhafte Physiologie besitzt”. Daher ist diese/r so sehr durch ihre/seine Sexualität bestimmt, daß sich von dieser selbst zu befreien einer vollständigen Anullierung ihrer/seiner Existenz gleichkäme.11 Vor diesem Hintergrund sind auch Michael Foucaults Mitte der 1970er entwickelten kritischen Überlegungen zur Idee der sexuellen Befreiung zu verstehen, die unter anderem zur Grundlage der Kritik vieler Queer-Feministinnen wurden.

Die Rolle der Sexualität für den revolutionären Prozeß ist heute kein Kernthema der Linken mehr. Für die organisierte Linke im deutschsprachigen Raum spielen Debatten um polyamouröse Beziehungsformen, kollektive Kindererziehung, ökonomische und soziale Diskriminierung aufgrund sexueller Identität oder die Suche nach ekstatischen Zuständen kaum eine Rolle. Während Teile der Frauenbewegung durch die Einführung von Quoten und „Gender-Mainstreaming“ partiell institutionalisiert wurden, fristen queer-feministische Ansätze weitgehend ein Schattendasein am Rande der Institutionen und werden oftmals in die politische Unsichtbarkeit abgedrängt. Frauen und homosexuellen Paaren mit doppeltem Einkommen stehen heute zahllose Karrieremöglichkeiten offen, dagegen werden Lesben (die Monique Wittig zufolge keine Frauen sind und gesellschaftlich auch nicht als solche wahrgenommen werden) sowie Frauen mit Kindern auch durch die ökonomischen Krisenzeiten zu prekären Lebensverhältnissen gezwungen.

Die zahlreichen Ausschließungen seitens der Linken haben zudem dazu geführt, daßviele schwule AktivistInnen mehr Anknüpfungspunkte in der queeren Bewegungfinden konnten als in der Linken. Obgleich queere Bewegungen ihre Forderungen geschlechterübergreifend formulieren und ihre Kritik am gesellschaftlichen System der Zweigeschlechtlichkeit aufs Engste mit der Institution der Heterosexualität verbunden ist, mangelt es ihren AkteurInnen weitgehend an einer fundamentalen Kritik der Verhältnisse im real existierenden Kapitalismus.

Ähnliches gilt für die andere Partei: Eine gelungene Verknüpfung von Kapitalismuskritik und der radikalen Kritik an den mit Sex-Hierarchien einhergehenden Geschlechterbinarismen findet innerhalb der Linken nur bedingt statt. Geschlecht und Sexualität gelten zumeist als Nebenwidersprüche des Hauptwiderspruchs zwischen Kapital und Arbeit.



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