Warum ROTER SALON? Warum Neiman?

Der Philosoph Immanuel Kant (1724 bis 1804) gilt als Urheber des Universalismus, der Idee von der Gleichheit der Menschen und der Menschenwürde. Die Deklaration der allgemeinen Menschenrechte geht auf seine Ideen zurück. Auch das Werk von Karl Marx baut darauf auf. Gleichheit meint demnach gleiches Unterworfensein unter allgemeine Gesetze. Auf dieser Idee basieren linkes Denken und linke Politik. Identitätspolitik, „Stammesdenken“, wie Susan Neiman formuliert und bestimmte „woke“ Einstellungen greifen diese Grundlagen an, weil sie Kriterien des Geschlechts, der Herkunft und der religiösen Zugehörigkeit über die soziale Bestimmtheit stellen und den Menschen auf etwas fixieren, das er nicht zu ändern vermag. In der Überbetonung von „Identität“ und damit oft verbunden einer Identifizierung als Opfer, verschwindet die Gemeinsamkeit der sozialen Ungleichheit und damit der Antrieb zum politischen Handeln. Stattdessen bekämpfen sich die „Stämme“ und erkennen nicht mehr die übergeordneten Strukturen und den gemeinsamen Feind. Dass die Überzeugung, dass eine bessere Gesellschaft möglich und erreichbar sei, in unserer Zeit zurückgeht und es für die meisten keine Alternative zum Kapitalismus mehr zu geben scheint, hat viel mit diesem falschen Bewusstsein zu tun. Denn in einem anderen Bezugsrahmen würde klar, dass es nicht Zuwanderer oder Bürgergeldempfänger sind, durch die sich die wirtschaftliche Situation der arbeitenden Massen verschlechtert. Es würde auch erkennbar, wieviel Konflikt, Krieg und Elend die Behauptung von Identität („Wir zuerst“), „Wir sind Opfer“) in die Welt bringt. Diese Zusammenhänge in einem international erfolgreichen Buch mit hoher Wirkung zusammengefasst zu haben, ist das Verdienst von Susan Neiman. Ihrer wichtigen Analyse noch mehr Aufmerksamkeit zu schaffen, ist die erklärte Absicht des ROTEN SALON mit der Veranstaltung am 5. Februar. M.H.

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Anmeldung und Postkasten: www.roter-salon-hamburg.de

Wenn die Hoffnung auf Fortschritt aus dem Blick gerät

In einem weiteren Beitrag mit Bezug auf den ROTEN SALON mit Susan Neiman streift ein österreichischer Autor die grundlegenden philosophischen Bezüge, die „Links ist nicht woke“ zugrunde liegen. Dazu gehört auch die Kritik an bestimmten Aspekten im Werk von Michel Foucault

Von Ronald Pohl

Eine Zeitlang sah es so aus, als wäre der größte Vernunftphilosoph deutscher Zunge um seinen Ruf gebracht worden: den, als Universalist und Aufklärer unvoreingenommen zu sein. Der Königsberger Immanuel Kant hat sich, wenngleich an entlegenerer Stelle in seinem Werk, mit Geringschätzung über Menschen mit nichtweißer Hautfarbe geäußert. Prompt fühlten sich “woke” Kritiker dazu aufgerufen, die europäische Aufklärung, mit ihr die Vernunftappelle Rousseaus, Voltaires, Diderots, in Bausch und Bogen abzutun.

Prompt auch möchte man US-Philosophin Susan Neiman spontanen Dank aussprechen. So einfach lassen sich die unbestechlichen Analytiker menschlicher Urteilskraft eben in keinen Sack stecken, auf dem “Rassismus” steht. Es ist bestenfalls halb wahr zu behaupten, die Aufklärer hätten den Kolonialismus mit Weihen der Vernunft versehen. Daran ändern auch nachträgliche Versuche gestandener Imperialisten nichts, die gewaltsame Aneignung von Welt als Maßnahme der “Zivilisierung” schönzureden.

Neiman, Leiterin des Einstein-Forums in Potsdam, geht in ihrem neuen Büchlein Links ≠ woke einen wichtigen Begründungsschritt weiter. Ein Autor wie Montesquieu machte fiktive Perser zum Sprachrohr seiner Kritik an den Sitten der Europäer: weil er sie als Franzose nicht in der nämlichen Schärfe hätte äußern können. Ritt Voltaire im 18. Jahrhundert einen Angriff auf das Christentum, setzte er mitunter den Kaiser von China – oder einen indigenen Priester aus Südamerika – aufs rhetorische Ross. Neiman möchte nicht nur das Erbe der Aufklärung möglichst unbeschadet zurückerstattet haben. Sie kämpft um den Ruf der “Linken” als Gattung. In den “Woken” erblickt sie dagegen Vertreter des Stammesdenkens.

In immer neuen Partikularitäten werde von ihnen das Pathos der Opferschmach wachgerufen. Dadurch wird zur Essenz menschlicher Erfahrung das erklärt, was Menschen fremdbestimmt. Die Prägung durch zwei Identitäten macht uns zu Gefangenen von etwas, das (angeblich) von vornherein festgelegt ist, von “race” und “gender”.

Hoffnung auf Fortschritt

Völlig aus dem Blick gerate dabei, so Neiman, das Unterpfand jeder Hoffnung auf Fortschritt, die unteilbare Universalität menschlichen Trachtens, Denkens und Fühlens. Die Erhabenheit dieses Gedankens schöpft die Philosophin aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Die wurde 1948 von den Vereinten Nationen verabschiedet. Der Weg von dort hin zu einem “partizipatorischen Sozialismus” (Thomas Piketty) scheint, trotz aller wohlmeinenden Absichten, in den Halbschuhen des Liberalismus nur schwer bewältigbar zu sein.

Lieber aber kapriziert sich Neiman auf die Entlarvung ihr viel wichtigerer Gegner. Dunkelmänner wie Carl Schmitt und Michel Foucault (!) hätten das einigende Band der allgemeinen Menschenliebe schnöde durchschnitten. Ersterer durch seine Freund-Feind-Unterscheidung; der Zweite, indem er die Mikrophysik der Macht als Form der Unterdrückung beschrieb.

Neiman wendet ihr Haupt voll Abscheu ab. Sie schreibt: “Links sein heißt, hinter der Idee zu stehen, dass Menschen gemeinsam für sich und für andere beträchtliche Verbesserungen ihrer realen Lebensumstände erwirken können.”

Büchse der Pandora

Dem wird, so allgemein dahingesagt, auch jeder “Woke” seine Zustimmung nicht versagen können. Doch vielleicht ist besagter Standort “hinter der Idee” auch nur zu unkonkret, als dass man, von ihm aus losgehend, jenes Land gewänne, in dem für alle die Zitronen blühen. Ein Land, in dem Menschen nicht einzig und allein wegen ihrer Hautfarbe erniedrigt und von Polizeiangehörigen ermordet werden.

Nietzsche schrieb einst, kein Übel in Pandoras Büchse sei so übel wie die Hoffnung, sie sorge dafür, dass sich die Qual der Menschen unendlich verlängere. Neiman, deren Buch leider vor Leder sprüht, hat für den unglücklichen Philosophen mit dem Hammer kein Verständnis: “Wer nur um seine Seelenruhe besorgt ist, mag solche Haltungen annehmen …”

Stimmt, einzig in Rücksicht auf seine gefährdete Seelenruhe hat Nietzsche in Turin ja auch ein geschundenes Pferd umarmt. Sehr viel universeller lässt sich die Idee des Mitgefühls kaum in Anwendung bringen.

Ronald Pohl ist Kulturjournalist, Autor und Theaterkritiker in Österreich

Der Text erschien zuerst am 30. August 2023 in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“

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