Und los geht das LuV-Fish & Scripts-Wochenende, an dem der MAC leider nicht teilnehmen kann, weil er mit schwerem Husten darniederliegt. Trotzdem sei noch schnell berichtet, dass zu den herausragenden auf der Messe vorgestellten Publikationen sicher die deutsche Erstausgabe der legendären Zeitschrift La Révolution Surréaliste gehört, die mit ihren 12 zwischen 1924 und 1929 erschienen Ausgaben sowas wie das Zentralorgan des Surrealismus war. Dazu ein wenig Material, auch für alle, die heute und morgen nicht auf die Luv können, etwa, weil sie gar nicht in Hamburg sind.
Mit Phantasie den Alltag aufheben
„Phantasie an der Macht“ stand 1968 an Hauswänden und es ist nicht zu weit hergeholt, darin einen surrealistischen Einfluss zu erkennen. Karl-Heinz Bohrer schreibt: „In einem Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit während der ersten Phase der revolutionären Eskalation im Pariser Mai 1968 erklärte Jean-Paul Sartre: „Das Interessante an eurer Aktion ist, daß sie die Phantasie an die Macht bringt.“ Als Graffito „L’imagination au pouvoir“ war die Sentenz auch an Pariser Hauswänden zu lesen. Wer sie erfand, ist hier zweitrangig. Wichtig ist, was sie eigentlich bedeutete. Sartre meinte damit nicht eine Romantisierung des politischen Diskurses im Sinne von Novalis, eher schon die Phantasie, mit der die Surrealisten den Alltag aufheben wollten. Zunächst aber meinte er damit die Kapazität der Studenten, in der politischen Agitation auf mehr aus zu sein als die traditionellen Kampfziele der Arbeiterklasse; da sie ein Erstaunen hervorriefen, daß sie über alles hinausgingen, was die Linke bisher hervorgebracht hatte: nämlich eine totale und prinzipielle Ablehnung der heutigen Gesellschaft. Gemeint war sowohl eine erfolgversprechende neue Methode der politischen Propaganda als auch ein neuer politischer Inhalt: die radikale Transzendenz des Bestehenden.“ (zitiert nach: ft. Geschichte und Gesellschaft Sonderheft Vol. 17, 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft (1998), pp. 288-300 (13 pages))
Die Linke ist viel zu langweilig heute
Eine solche utopische Formel, die den Philosophen der radikalexistentiellen Freiheit faszinierte, bekam ihre Substanz gerade von ihrem die Wirklichkeit nicht berücksichtigenden Nennwert, fehlt der Linken heute bitter und das ist auch die Grund, warum sie nicht mehr richtig begeistern kann. Vielleicht springt mit der Edition der „sürrealitischen Revolution“ der Funke wieder über, dass es auch einer wilden, provozierenden Kreativität bedarf, um politisch etwas zu bewegen. In Frankreich hat es damals funktioniert: Anders als in der Bundesrepublik und in den Vereinigten Staaten sprang 1968 der Protest der Studentenbewegung auf die Arbeiterschaft über und führte zum größten Generalstreik in der Geschichte des Landes sowie zu einer politischen Krise, die das gaullistische System ins Wanken brachte. M.H.
„Nach 100 Jahren ist es Zeit“
Die Sürrealistische Revolution auf der Fish & Scripts
Die Herausgeber Benjamin Dittmann-Bieber und Christian Driesen stellen am Samstag nachmittag auf der Fish & Script in der Hmburger Stabi die erste deutsche Übersetzung dieses Zentralorgans des Surrealismus vor, das im textem Verlag erscheint und sich ab sofort subskribieren lässt. IN DEM LINK MIT DRIN IST AUCH EINE LESEPROBE: https://www.textem-verlag.de/textem/literatur/551
Die Sürrealistische Revolution (La Révolution Surréaliste) war das Zentralorgan des französischen Surrealismus (1924 – 1929) und dokumentiert Aufbruch, Produktion, Entwicklungen und Widersprüche, Politisierung, Scheitern und Weitermachen einer der wirkmächtigsten künstlerischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts.
Was ist schon die Wirklichkeit? Vor hundert Jahren erschien das Manifest des Surrealismus. Daraus wurde nicht nur Kunst, sondern eine geistige Bewegung, die bis heute nachwirkt – nicht nur in ihrer Kritik des Kolonialismus.
Der Textem Verlag (Hamburg) und die Herausgeber Benjamin Dittmann-Bieber und Christian Driesen (Berlin) werden im Herbst 2024 die komplette (Neu)Übersetzung der legendären Zeitschrift La Révolution Surréaliste vorlegen. Ihre zwölf Ausgaben erschienen von1924 bis 1929 und sind ein Hauptdokument des französischen und internationalen Surrealismus. Sie zeigen Aufbruch, Widersprüche und Weiterentwicklungen dieser frühen chaotischen Phase der Bewegung. Die Zeitschrift enthält berühmte Umfragen, Manifeste und andere Texte, sowie viele Abbildungen. Eine deutschsprachige Gesamtausgabe mitsamt den konzeptionell wichtigen Abbildungen existierte bisher nicht.
Nach 100 Jahren ist es Zeit für eine Revision und Relektüre. Denn die Rezeption des Surrealismus in Deutschland bleibt auch heute noch – bis hin zu aktuellen Ausstellungen – stark auf die bildende Kunst bezogen. Wohingegen der Surrealismus in Frankreich auch als literarische Bewegung wahrgenommen wird und wurde. Eine Ursache hierfür ist sicherlich die Sprachbarriere. Mit Blick auf die Editionslage kann man auch heute – mit dem Walter Benjamin von 1929 – sagen: „Der deutsche Betrachter steht nicht an der Quelle.“ Das ist jetzt anders geworden.