Mother you left me but

Der MAC ist ein schlechter Sohn, er kennt nicht mal den Todestag seiner Mutter. Wenigstens den Geburtstag? Februar, glaube ich, oder November? im Mai war die Omi, sagt der MAC. Und weil ich nichts weiß und mir auch nichts nachzuweisen ist, sage ich: HEUTE ist der Todestag meiner Mutter- und deshalb bekommt Ihr hier das Kapitel „Mutter“ aus dem Original „Mann auf der Couch“. Mit neuem Titel, sonst ist alles gleich.  Gute Idee? Nö. Das ist hier ja keine journalistische Veranstaltung, die den Bezug, den Anlass, die Aktualität braucht. Hier sind wir doch völlig FREI! BLOGFREI! Klar hat jeder Autor seinen Mutter-ist-gestorben Text. Trotzdem mag der MAC seinen am liebsten! Na dann:

Ich wusste es zwar und hatte Freuds Traumdeutung zu Hause stehen, trotzdem hatte ich es über Jahre nicht richtig kapiert: Das Besprechen der Träume ist das Wichtigste in der Psychoanalyse – und es ist etwas, davon bekam ich dann doch eine Ahnung, das immer hilft. Das ist selbst dann so, wenn man es nicht gleich merkt oder ein Traum zunächst unverständlich oder sinnlos scheint und auch die Besprechung kein Ergebnis bringt, jedenfalls nicht für den Moment. In ihrer Betonung der Traumdeutung unterscheidet sich die Psychoanalyse von allen anderen Therapierichtungen.
Das wusste ich, und ich vertrat es auch überheblich in Gesprächen in der Familie oder mit Freunden. Trotzdem verhielt ich mich in den Stunden oft anders, indem ich die beiden Therapeutinnen mit Schilderungen aus dem Alltag überschüttete, in einer dringlichen, Mitleid heischenden, auf Identifikation abzielenden Weise. Gleich zu Beginn der Stunde, ohne die Chance zu nutzen, dass sie vielleicht auch einen anderen Verlauf nehmen könnte.
Mit meiner zweiten Analytikerin in Hamburg, bei der ich so viele Jahre war, hatte sich mit der Zeit eine Struktur der 50-minütigen Stunde herausgebildet. Die ersten 20 Minuten ließ mich Doktor Von gewähren, um dann den Versuch zu unternehmen, den endlosen Redefluss von seltsam verbittert vorgetragenen Alltagsbanalitäten zu unterbrechen. Meist mit der in eine Pause hinein gestellten Frage: »Haben Sie einen Traum mitgebracht?«
Wenn ich zu dem Zeitpunkt der Stunde schon frustriert oder verärgert war, was immer wieder mal vorkam, antwortete ich darauf eventuell mit einem gequälten »Nein, ich träume im Moment nicht, dafür schlafe ich viel zu schlecht« (in der Erwartung, bei Von den anteilnehmenden Gedanken »Warum schläft er denn so schlecht, der Arme, hilft die Therapie denn nicht?« auszulösen) oder mit einem trotzigen »Ich weiß nicht, ich kann mir meine Träume nicht merken im Moment«.

Ein Traum ist kein Video

Es gab eine Phase – es war ein langer, warmer Sommer, eine Zeit, die ich damals als zusammenhängend empfand –, als ich die Bedeutung des Gesprächs über die Träume fast übertrieben stark beherzigte. In der Zeit begann ich die Stunden mit der Schilderung eines Traums – ohne Erwähnung alltäglicher Ereignisse, ohne anekdotische Rückgriffe auf die Kindheit. Keine 20-minütigen Intros, sondern sozusagen von null auf hundert.
Der Nachteil der Methode war, dass es kaum einen Traum gibt, der sich 50 Minuten am Stück behandeln lässt, so dass sich die Frage nach einem Thema für die verbleibende Zeit stellte. Selten war jedoch ein zweiter aktueller Traum zur Hand. Also kam ich auf meine Alltagsgeschichten zurück, die sich allerdings in der zweiten Hälfte der Stunde schon anders anfühlten. Anders, als wäre ich damit gleich mit der Tür ins Haus gefallen.
Einen Traum aber gibt es, den konnte ich wie einen Joker immer einsetzen, wenn die Zeit in der Stunde lang wurde. Es ist ein Traum, den ich wahrscheinlich als Kind geträumt hatte, und wahrscheinlich die Jahre danach auch immer wieder. Romantisch könnte man sagen, es handle sich um meinen »Lebenstraum«, oder um einen zentralen Traum, das klingt fachmännischer. Meine Oma musste ihn sich schon anhören, der Kinderarzt, der Schulpsychologe, die Mitstreiter diverser gruppendynamischer »Gruppen«, die ich in den 70er Jahren besuchte, die erste Analytikerin, die zweite, aber auch, über all die Jahre, Frauen, deren Nähe ich suchte. Immer erschien mir der Traum als geeignetes Vehikel, etwas über mich zu erzählen. Und damit eine Wirkung zu erzielen, die Anteilnahme praktisch erzwingt.
Mir fällt es schwer, den Traum aufzuschreiben, nachdem ich es all die Jahre nicht getan habe, es eben nicht getan habe. Gebe ich ihn damit weg? Bei den Analytikerinnen konnte ich ihn immer neu erzählen. Nicht nur, wenn er mir in der Nacht davor erschienen war.
Ein Traum ist nicht wie ein Video, das immer gleich bleibt, wenn man es abspielt. Ein Traum ist eher wie ein guter Song, der immer neue Verbindungen mit einem selbst und mit anderen eingeht, sich immer wieder neu anfühlt. Der vergangene Traum erscheint einem auch nicht, das klingt zu sehr nach Filmvorführung, nach zurücklehnen und später interpretieren. Ein Traum ist immer live. Der Träumer ist der Autor und der Regisseur und er spielt alle Rollen, er ist alle Rollen. Aber es gibt keine Aufzeichnung, nur die Erinnerung an die eine Aufführung. Ein Traum ist auch keine Story, auch wenn es in der Vermittlung keine andere Form gibt als die der Nacherzählung. Oft hatte ich das Gefühl, dass ich den Traum in der Stunde nicht gut nacherzählt hatte, nicht richtig. Oft vielleicht auch absichtlich falsch, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. Und immer auch zensierend, allzu Beschämendes weglassen, die Pornoszenen rausschneiden. Naja, ich träume nie Porno. Höchstens ein Gefühl von Anfassen oder Angefasstwerden, aber ohne richtige Bilder.   

Wer ist die Hexe?

Mit dem Erzählen von Träumen kann man sein Gegenüber manipulieren. Noch mehr aber sich selbst. Über Träume zu lügen, ist die einzige Lüge, die nie jemand aufdecken kann. Das ist verführerisch. Aber ich muss mich nicht quälen mit solchen Gedanken. Wahrscheinlich ist es so, dass die Analytiker gar nichts anderes erwarten, als ständig Unwahres, manipulativ Nacherzähltes aufgetischt zu bekommen. In der Summe ergeben auch all die Unwahrheiten ein Bild. Und sicher verrät man sich da, wo man es am wenigsten glaubt. Man könnte auch sagen: Ein Traum ist am Ende das, was man daraus macht.
Ein Traum hat auch keine Länge, die sich in Zeit messen ließe. Als der Traum, um den es hier geht, noch „neu“ war,  schien er mir ewig lang. Später wurde er immer kürzer. Das Unheimliche war, dass er immer wieder kam, auch in Versionen, ich während des Träumens aber nicht bemerkte, dass es sich um eine Wiederholung handelte. Erst im Aufwachen konnte ich erkennen, dass es wieder derselbe Traum war.
Nach diesem Muster brauchte es auf der Welt nur einen Film zu geben, denn jedem Menschen käme er bei jedem Mal Ansehen neu vor. So eine Art Fluch. Dazu verdammt, immer wieder … Das Rumpelstilzchen zerreißt sich in der Luft, als die Müllerstochter seinen Namen nennt. Bei meinem Traum hat das nicht funktioniert, es war ihm egal, ob ich Worte für ihn gefunden hatte.
Erst in den letzten zwei, drei Jahren ist er verschwunden. Der Traum handelt von Angst, wenn ich es in einem Satz sagen müsste. Also, raus damit. Was soll schon passieren? Noch eine falsche Nacherzählung. Ich mache es kurz. Je kürzer ich es mache, desto weniger kann falsch sein, rein auf die Menge von Worten bezogen.

Das ist die Story, das sind ihre wiederkehrenden Elemente: Ich bin mit meiner Mutter in einer engen Kammer eingesperrt, so etwas wie eine Umkleidekabine im Schwimmbad. In der Tür der Kabine ist ein Loch und durch dieses Loch steckt eine Hexe einen ihrer langen, dünnen Finger. Ich stehe da mit nacktem Oberkörper und habe quälende Angst, dass der Finger der Hexe meine Brust berühren könnte – das darf auf keinen Fall passieren. Meine Mutter, sie ist kleiner als ich, steht hinter mir, ich versuche, sie mit meinem Körper zu schützen.
Der Finger der Hexe kommt immer näher, was bedeutet, dass ich meine Mutter immer mehr an die hintere Wand der Kabine drücken muss. Das kann nicht lange gut gehen. Ich schreie vor Angst – und wache auf.
Jetzt steht er da, der Traum. Ich will das gar nicht durchlesen. Wie finden Sie ihn, den Traum? Haben Sie jetzt Mitleid mit mir? Habe ich Sie mit meiner Scham angesteckt ? Wenn ich den Text vorlese, öffentlich, vor Leuten, die mich nicht kennen, einmal habe ich es bisher getan, bleibt es zwar still, während ich lese. Die Leute hören zu. Aber nachher, nach der Lesung, will niemand mit mir sprechen. Es ist, als ob ich schlecht röche, stäinke.
Das Interpretieren des Traums ist ja auch irgendwie Scheiße. Nur soviel: Ich bin mit meiner Mutter in einer bedrohten, sehr engen Situation. In einer Höhle. In einem Uterus. Das ist schon verkehrt. Ich müsste ja in ihrem Bauch sein, aber sie ist offenbar auch noch Kind. Ich bin damit überfordert, sie zu beschützen, kann es aber auch nicht sein lassen. Nehme ihr auch die Luft zum Atmen, indem ich mich gegen sie drücke. Aber wer ist die Hexe? Und der Zeigefinger, Der uns bedroht? Nicht berühren, sonst bist Du tot.

Meine Mutter war tot, aber die Geschichte war nicht zu Ende

Ich kam nicht rechtzeitig, als meine Mutter starb. Wir hatten damals, zu Beginn der 2000er Jahre, einen kleinen Verlag, wir legten Rolf Kaukas Comic Fix und Foxi neu auf, ich hatte kein Geld, war damals schon in Insolvenz und bekam nur das Existenzminimum ausbezahlt, aber Joe, mein Partner im Verlag, war so freundlich, mir den Flug nach Österreich zu finanzieren. Und ein Mietauto, mit dem ich vom Flughafen in Wien in das Kaff in der Steiermark kommen konnte, in dem meine Mutter den letzten Lebensabschnitt verbracht hatte. Mit Lungenkrebs lag sie jetzt auf der Intensivstation der nächsten größeren Gemeinde. Eine Krankenschwester rief mich in Hamburg auf dem Handy an, ob ich der Sohn sei, es stehe nicht gut um meine Mutter, und hielt ihr den Hörer hin. Ich hörte ein Röcheln von weit weg, es war nicht zu verstehen, ich sagte: »Mama, ich mach’ mich auf den Weg.« Als ich spätabends im Krankenhaus ankam, war es zu spät.
Sie war nur noch ein Haufen Knochen unter einen dünnen Decke, viel weniger als ein erwachsener Mensch. Die Schwester ließ mich mit dem Leichnam allein, aber ich konnte nicht weinen. Ich fand, dass sie im Gesicht erlöst aussah. Plötzlich war auch wieder zu sehen, dass sie einmal eine sehr schöne Frau gewesen war. Schöne Frau … Meine Mutter war eine verdammte Schönheit, ihr Arschlöcher!
Lange Jahre ihres Lebens war sie Alkoholikerin, hatte einen Mann, der sie verprügelte und dann selber am Suff zugrunde ging. Warum war sie Alkoholikerin geworden? Spielte ich eine Rolle dabei? Weil sie mich, ihr Kind,  an die Großmutter verloren hatte? Naja, könnte man so sehen. Die ganze Tragödie zog sich über Jahrzehnte, seit ich zehn, elf war. Mein Vater nahm mich damals zu sich, aber ich wollte eigentlich nicht dahin. Man kann es sich vorstellen, die Mutter-Kind-Beziehung war von den Umständen immer stark beeinträchtigt und blieb unter ihren Möglichkeiten, um es mal im Stil eines Wirtschaftsberichts auszudrücken.    Einmal, als 10-Jähriger, schwamm ich meiner Mutter nach, recht weit hinaus in den offenen See, weil sie so tat, als würde sie sich umbringen wollen. Oder nicht nur so tat, wie sollte ich das wissen.  Ein paar Mal erlebte ich meine Mutter so betrunken, dass sie mich nur anglotzte und nicht erkannte. Und ich schwang mich als 20-Jähriger heldenhaft auf und lieferte sie in die Psychiatrie ein, weil ich das als einzigen Weg sah, sie vor ihrem wütenden Mann zu schützen. Das waren alles gute Geschichten für die Analyse, dachte ich. Ich erzählte sie meiner ersten und meiner zweiten Analytikerin, ohne dass es viel bewegt hätte. Das war alles tragisch, ja, traurig, aber die Schäden waren auch schon verbucht, was soll man groß dazu sagen? Die wirklich tragischen Sachen sind vielleicht auch egal im Leben, jedenfalls nicht so wichtig, wie man glaubt. Wir stolpern über Maulwurfshügel, nicht über Berge, sagt ein chinesisches Sprichwort. Als sie dann tot war, wirklich tot, das heißt, als das richtig bei mir ankam, als ich in der Nacht alleine aus dem Krankenhaus in den Gasthof fuhr, in dem ich nächtigte, und als ich am nächsten Morgen aufstand, sah dann doch alles ganz anders aus. Meine Mutter war tot, aber die Geschichte war nicht zu Ende.
Ich hatte geplant, nicht gleich wieder nach Hamburg zu fliegen, sondern ihre kleine Wohnung, sie lebte zuletzt in einer betreuten Wohneinrichtung, zu räumen. Ich hatte mich dazu schon in Hamburg entschlossen, um nicht bald wieder nach Österreich fahren zu müssen. Am ersten Tag nach dem Tod den ganzen Krempel gleich zu entsorgen – diese Idee wirkte, als ich dann vor Ort war, zu prosaisch und gefühlskalt. Auch waren die testamentarischen Angelegenheiten noch nicht erledigt – die Sachen gehörten mir nicht. Aber wenn ich im Umgang mit meiner Mutter etwas gelernt habe, dann ist es der Vorsatz, dass man Gefühle nicht überbewerten soll, und Regeln auch nicht. Beides kann einem schnell zu viel werden.

Es waren drei Tage, die ich noch in dem Ort blieb. Ich erledigte Dinge auf der Behörde und auf der Bank und esse im Wirtshaus Leberknödelsuppe und bekam mit, dass meine Mutter, obwohl man ihre Krankheit natürlich kannte, bei den Leuten eigentlich gut angesehen war.
Es habe schlimme Zeiten gegeben, sicher, aber in den letzten Jahren, vor allem seit der Mann tot sei, sei das doch alles zur Ruhe gekommen.
Die Wohnung war viel ordentlicher, als ich gedacht hatte. Am Tisch, an dem sie gesessen hatte, lag alles in Reichweite – die Patiencen und die Puzzles, die Kreuzworträtsel und die Illustrierten, und ein Packen Briefe von der Zwillingsschwester aus Deutschland, die Briefmarken ausgeschnitten, um sie später in eine Schale mit lauwarmem Wasser zu legen, bis sie sich ablösten und getrocknet werden könnten.
Ich begann mit den Kleiderschränken. Sie waren mehr und größer, als mir das je aufgefallen war. Sie waren vollgepackt ohne Zwischenräume, alles hin eng an eng – in der strengen Ordnung einer Kleiderkammer. Da hingen Westen, Jacken, Blazer, Blusen, Röcke, sie sagte immer »Schoß«, Kostüme, Kleider, Stoffhosen, Shorts und Jeans, Strümpfe, Strumpfhosen, aufwändige Unterwäsche, Monstren von Büstenhaltern, Strumpfbandhalter, angedeutete Korsagen.
Nichts war planlos oder chaotisch oder schmuddelig, alles war sauber, gepflegt, jedes Teil hatte seinen Platz. Betreten begann ich, die Sachen auszuräumen, und bemerkte, dass sie auch nach den Jahreszeiten geordnet waren: die Wintersachen, die Übergangssachen, auch das Wort verwendete sie, die Frühjahrssachen, zum Beispiel in der Farbe Flieder, die Sommersachen, mit den lustigen, bunten Shorts, und die Herbstsachen, da kann man schon eine Weste vertragen, wenn die Tage kürzer werden!
Ähnlich reichhaltig, aufgeräumt und sortiert fand ich dann auch den Schuhschrank. Das Badezimmer mit den Haltegriffen um Wanne und Toilette und den Anti-Ausrutsch-Matten ließ zwar erkennen, dass der Mensch, der hier wohnte, einer »Pflegestufe« zuzuordnen war, jedoch waren die »Etagere« (ihr Wort) und der kleine Spiegelschrank vollgeräumt mit teils angebrochenen, teils noch verpackten Kosmetik- und Pflegeartikeln, wie ich das sonst nur bei Teenagern kenne.
Ich war gerührt von dem, was ich sah. Obwohl ich wusste, dass meine Mutter zusammen mit ihrer Zwillingsschwester als junges Mädchen im Wien der frühen 50er Jahre so eine Art selbsternannte bzw. von meiner Oma ernannte Schönheitskönigin war. Die beiden waren wirklich sehr schön, ich habe Fotos, die das belegen.
Aber ich hatte nicht bemerkt, dass sie sich diese Seite bewahrt hatte: diese, ja, Würde und Selbstachtung, diesen Willen zur Selbstbehauptung und die Freude an einer auf Überlegenheit abzielenden Inszenierung. So was Marilyn-Monroe-haftes, obwohl sie eher wie Gina Lollobrigida aussah. Eigenschaften, die in starkem Kontrast stehen zu dem, was ihr im Leben widerfuhr. Oder eine Überlebenstechnik, die, wenn sie denn eine sein sollte, nicht so richtig funktioniert hatte.

Ein schöne Frau mit Lust an der Liebe

Meine Mutter war Sekretärin, in den vielleicht zwanzig Jahren, die sie gearbeitet hatte. Nach der Matura, dem Abitur in Österreich, war ich gleich gekommen und zu Höhenflügen ließ sich schlecht ansetzen. Anders bei Ida, der Zwillingsschwester, die im österreichischen Außenamt begann, auch als Sekretärin, sich von da ins Vorzimmer des Bundeskanzlers Leopold Figl hocharbeitete und schließlich in die österreichische Botschaft nach Tokio ging.
Meine Mutter schien zufrieden zu sein mit ihrem anspruchslosen Job bei der Heizungsfirma Körting in der Zollergasse, wo Oma und ich sie am späten Nachmittag abholten, und ich hatte als Kind das Gefühl, alle mochten sie da, sie war gut angesehen, ich hätte stolz sein können auf meine Mama. War ich auch.
Sie sprach nicht viel darüber, sie sprach eigentlich nie über sich selbst, ich merke jetzt beim Schreiben, wie wenig ich über sie weiß. Oma war immer dazwischen. In ihrer letzten Firma – da trank sie schon und hatte lange Krankenstände, wenn sie wieder von ihrem Mann verprügelt worden war – hatte sie sich zur »Chef-Sekretärin« hochgearbeitet, bevor man sie dann wegen der Trinkerei rausschmiss, aber auf freundliche Art, mit einem guten Zeugnis, das hatte ich mal in der Hand.
Jetzt, wo sie tot war, schämte ich mich, denn ich hatte über all die Jahre nur die negativen, schrecklichen Seiten gesehen – dabei war sie doch auch eine TOLLE FRAU. Eine tolle Frau. Eine schöne, erotische Frau, mit Lust an der Liebe und von Männern begehrt. Sie konnte gut Walzer tanzen, war in der berühmten Tanzschule Ellmayer gewesen. Sie war charmant und hatte Humor. Sie hatte damals schon einen Führerschein, als es noch eine Seltenheit für eine Frau war, und ein eigenes, von den Großeltern finanziertes Auto, einen grünen VW Käfer, den wir »Flossie« nannten und mit dem wir bis nach Kärnten in die Sommerfrische fuhren, eine Weltreise damals, über den 1 000 Meter hohen Semmering, Schicksalsberg, der in der ersten Hälfte der Strecke liegt.
Sie war tüchtig und beliebt in ihrem Büro. Sie hatte eine eigenartig runde Schrift, die Buchstaben stark nach links stehend, als würden sie von rechts angeblasen. Sie konnte schwierige Sachen wie die »Zwergerl« aus der Zeichentrick-Version von Disneys Schneewittchen zeichnen, immer gleich. Wenn wir im Gasthaus saßen und mir langweilig wurde, ließ sie mir diese Zwergerl auf einer Papierserviette entstehen, immer sofort, nie ließ sie mich warten. Ich starrte dann auf die Zwergerl und sie taten mir gut.
Alkohol war wahrscheinlich schon früh ein Problem. Die hässliche Trennung von meinem Vater. Die Niederlage, mit mir, ihrem einjährigen Sohn, wieder bei den Eltern einziehen zu müssen. Die Mutter, meine Großmutter und Oma, die mich ihr praktisch wegnahm und sich überall als meine Mutter ausgab, sie war ja gerade mal Anfang 50 und sah blendend aus. Der Komplex gegenüber der Zwillingsschwester, die viel tüchtiger war.
Meine Mutter dachte zunächst, indem sie ihr meinen Vater weggeschnappt und als Erste ein Kind, mich, bekommen hatte, die Nase vorn zu haben, aber es verkehrte sich schnell ins Gegenteil. Sie saß mit mir in Wien bei den Eltern fest.
Als Ausgleich begann sie, viel wegzugehen, zu trinken, Männer kennenzulernen. Auch meine Großeltern versuchten, sie wieder unter die Haube zu bekommen, gaben heimlich Heiratsanzeigen auf. Für sie war meine Mutter ein labiles, unselbstständiges Wesen, für das unbedingt ein Mann gesucht werden musste.
Die Kandidaten gingen bei uns ein und aus. Onkel Jürgen. Onkel Max. Onkel Gregor. Onkel Ernst. Am Ende Onkel Herbert, ein frisch aus dem Knast entlassener Betrüger und Heiratsschwindler, der bald beginnen sollte, meine Mutter grün und blau zu prügeln. Sie musste ja beschützt werden.
Ich schlief mit meiner Mutter in einem schmalen Kabinett, die Betten waren Fuß an Kopf aneinander gestellt. Wenn sie ausgegangen war, wachte ich, nachdem ich eingeschlafen war, das erste Mal um 10 Uhr wieder auf und fragte: »Mama, bist Du da?«, wenn keine Antwort kam, nochmal, und nochmal. Wenn ich wieder einschlafen konnte, wiederholte ich das um 11 Uhr nochmal, um Mitternacht – mein japanischer Micky-Maus-Wecker von Sony, den mir Tante Ida aus Tokio mitgebracht hatte, zeigte mir mit trübgrünen Phosphor-Zeigern, wie spät es war. Wenn dann kein »Michi, ja, ich bin da« kam, lief ich rüber zu meiner Großmutter ins Bett.
In der Früh war Mama dann meist da, manchmal aber auch nicht. Dann rief mein Großvater die Polizei und machte die Vermisstenanzeige. Ich schrie und weinte, warf mich auf die Ottomane und trommelte mit den Fäusten »Meine Mama ist tot, meine Mama ist tot.« Obwohl sie immer wieder auftauchte, ein, zwei Stunden später, konnte ich natürlich nicht in die Schule gehen, gab ich jedes Mal die Vorstellung, so wie Opa jedes Mal die Vermisstenanzeige aufgab.

Mit Onkel Herbert im Bett

Das war die Zeit, als ich begann, um meine Mutter Angst zu haben, erdrückende Angst. Fast jede Nacht träumte ich den Hexentraum, ich bin mit ihr in der Kammer und versuche sie zu beschützen. Dr. Zu in München maß ihm einige Bedeutung bei und fand es ungewöhnlich und wahrscheinlich prägend, wenn ein Kind seine Mutter schützen muss, statt umgekehrt.
Als Onkel Herbert dann bei uns einzog, auch meine Großmutter war seinem Charme erlegen, wurde diese Angst immer größer und immer berechtigter. Ich musste zum Übernachten ins Nebenzimmer ziehen, aus unserem Kabinett hatte mich Onkel Herbert verdrängt, die beiden Betten standen jetzt als Doppelbett zusammengezwängt auf der Fensterseite, so eng, dass man von der Seite kaum noch reinkonnte.
Die Sexgeräusche hörte ich durch die dünne Wand, ohne noch zu wissen, was Sex ist. »Was spürst Du denn da«, sagte Onkel Herbert zum Beispiel, »ich weiß nicht«, sagte meine Mutter, »etwas Hartes«. Onkel Herberts sonore Arbeiterführer-Stimme bekam etwas Grunziges, Stöhnendes. »Das ist mein Stock, an dem kannst Du Dich festhalten.« Ich dachte, die beiden seien durch den Burggarten nach Hause gegangen und hätten einen Stock mitgenommen, wie ich das auch manchmal tat. Aber warum ins Bett? Als Waffe? »Der ist hart, der Stock«, hörte ich Onkel Herbert sagen, »steinhart, nicht wahr?« »Ja, steinhart«, sagte meine Mutter, jetzt war auch ihre Stimme verändert, sie sprach langsamer als sonst, dehnte die Worte. »Ja, wirklich steinhart«, wiederholte sie jetzt, und ich hörte ein wetzendes, rhythmisches Geräusch. »Du bist eine geile Sau«, hörte ich Onkel Herbert jetzt sagen, und jetzt saß ich aufrecht im Bett, in der Angst, auf diese Beschimpfung würde etwas Schreckliches folgen. »Tut immer so brav, mit ihrem blonden Buben, der immer dabei sein muss – und ist aber in Wirklichkeit die geilste Sau, die man sich überhaupt vorstellen kann.«
Jetzt war ich auch angesprochen? Sollte es auch mir an den Kragen gehen? »Hör auf, Herbert«, sagte jetzt meine Mutter, »Du hast zu viel getrunken, hör auf jetzt.«
Ich saß immer noch im Bett, wagte kaum zu atmen, denn ich wollte nicht gehört werden, nicht ertappt beim Lauschen, ich spürte, dass ich mich mit dem Lauschen irgendwie schuldig machte, aber was heißt Lauschen, ich war geweckt worden von den Geräuschen. Aus dem Nebenzimmer drang ein künstliches, höhnisches Lachen, lauter als die anderen Geräusche, fast so laut, dass es meine Großeltern wecken könnte, dachte ich. »Will mir die kleine, geile Sau vielleicht vorschreiben, wie viel ich trinken darf?«, hörte ich Onkel Herbert in diesem höhnischen, herrischen Ton sagen.
Die Atmosphäre, die aus dem Zimmer nebenan drang, war so mit Gewalt aufgeladen, dass ich mit dem Schlimmsten rechnete und drauf und dran war, zu meiner Großmutter rüberzulaufen, aber ich wagte es nicht, denn meine Schritte hätten mich auf dem knarzenden Parkettboden verraten.
»Damit Du aufhörst, Scheiße zu reden, stecke ich Dir den Stock jetzt rein, ich reiß Dich auf, Du blöde Hure. Hure. Nutte. Fickhure.« Ich hörte jetzt Stöße, das Knarren des Betts, und die immer lauter werdenden Schmerzensschreie meiner Mutter. Es ging nur kurz. Dann war sie tot. Dann hörte ich das Schnarchen von Onkel Herbert, von meiner Mutter nichts. Konnte er neben der Leiche so tief schlafen, dachte ich noch, dann schlief ich auch ein
Am nächsten Morgen war meine Mutter wieder lebendig und nicht mal schlecht gelaunt. Sie machte sich hübsch und sah immer noch gut aus. Onkel Herbert fuhr sie mit seinem Opel Caravan ins Büro und setzte sich dann ins nächste Café, um die Zeit bis zum Abend totzuschlagen, wenn er bei uns wieder zum Abendessen auftauchte.

War es das, was ich erreichen wollte, meine Mutter auslöschen?

Ein paar Jahre später war meine Mutter schwere Alkoholikerin, ich brachte sie in die Psychiatrie, ich konnte sie nicht beschützen, wieder ein paar Jahre später war ich selber Alkoholiker, wie das Leben so spielt, cool. Jetzt, beim Räumen ihrer Pflegewohnung, jetzt, wo sie tot ist und ich nicht tot, ich lebendig, endlich ein klarer Unterschied, jetzt sollte alles ganz schnell gehen.
Ein seltsamer, ungekannter Furor hatte mich erfasst, ich war plötzlich doppelt so schnell wie sonst und doppelt so stark und ich begann, die Schränke auszuräumen, leer zu machen, alles muss leer werden! Erst noch ordentlich, die Sachen noch einmal zusammenlegend, bevor sie in die Kiste kommen, dann immer schneller und chaotischer, als stünde ich in einem Wettbewerb, der nur das Ziel hat, die Wohnung möglichst schnell leer zu bekommen, besenrein, redete ich mir ein, so eine Wohnung muss doch besenrein übergeben werden, ungeachtet dessen, was in ihr noch ist und wie es eigentlich behandelt werden müsste.
Alles muss raus aus dieser Höhle, alles, was an Wirklichkeit gemahnt, hier kann ich endlich mal Realität vernichten, die sonst immer mich vernichtet. Und am Ende gehört die Höhle mir alleine.
Am Ende schmiss ich die Sachen in die Kisten, die Klamotten, die Kosmetikartikel und Medikamente, arbeitete mich vor in die Küchennische, zu Büchern und Dokumenten, Fernseher und Radio, Mobiltelefon mit Ladestation, Computer hatte sie noch nicht, kämpfte mich durch Mengen an Kleinkram und Schreibzeug. Wolle, Zwirn, Nadel. Was ein Mensch so hat. Meine Mutter. Drei volle Tage verbrachte ich in der Wohnung meiner toten Mutter.
Zum Schlafen ging ich in die Pension, obwohl ich kurz daran dachte, da zu bleiben, das war mir dann aber doch unheimlich. Es gab auch Momente in dem Gefühl, ich könne jetzt genauso gut immer dabei bleiben. Ich war angekommen. Zurückgekommen. Aus dem, was angeblich mein Leben sein sollte, wieder zurückgetreten. Da würde ich nicht fehlen. Hier würde ich mehr gebraucht. Bei mir. Nur mehr auf ganz kleiner Fläche. Nicht mehr die große, überfordernde, Angst machende, die ich in dem anderen Leben zu bespielen versuche.
Am ersten Tag verpackte ich, am zweiten verlud ich die Kisten in den Mietwagen und am dritten brachte ich sie zum Sperrmüll. Am vierten machte ich sauber – »besenrein«. Alle Spuren meiner Mutter ausgelöscht. Bitte sehr! Ich musste oft hin- und herfahren, in das kleine Mietauto ging nicht viel rein. Ich machte alles allein. Das Haus schien verlassen, kein anderer Mieter ließ sich blicken, die Straßen waren leergefegt und nicht einmal am Müllplatz gab es jemanden, der mich herumkommandierte, wie ich es aus Hamburg gewohnt bin. Ich konnte die Kisten irgendwo reinschmeißen, was mir gelegen kam.
Ein geiles Gefühl, eine sexuelle Erregung überkam mich, es muss doch Nutten geben in diesem Kaff, Scheiße, so viel Geld habe ich gar nicht. Oder soll ich mir alleine mitten im Wohnzimmer einen runterholen? Stehend, mit diesen angezogenen Arschbacken, wie es mich Onkel Herbert gelehrt hatte?
Zur Ruhe kam ich erst, als ich in der komplett leeren Wohnung stand. Was war geschehen? Es waren noch Spuren meiner Mutter da, graue Ränder an der Wand, wo ein Schrank gestanden hatte, abgewetzter Bodenbelag, wo sie mit ihrem Stuhl hin- und hergerückt war – aber nichts mehr, das auf ihr Leben, ihre Persönlichkeit schließen ließ.
War es das, was ich erreichen wollte? Meine Mutter auslöschen. Übrigens nannte ich sie immer »Mama«, eigentlich zärtlich. Warum nenne ich sie hier immer »Mutter«? Warum so kalt, brutal? Noch immer stand ich da. Nochmal der Gedanke: Wie wäre es, hier einzuziehen? In die Räume der Mutter, die ja nichts anderes sind als der Mutterleib, eingedrungen zu sein – und dann dazubleiben. Bei der Hausverwaltung anzurufen, die würden sich wundern. In Hamburg alles sein zu lassen und hier … sozusagen als Sohn neu zu beginnen? Alles, was stören könnte, ist jetzt ja weg. Die Höhle meiner Mutter – neu beziehbar. Mir tat der Rücken weh vom Schleppen, das zeigte mir, das alles ganz real war.
Eine Kiste nahm ich nach Hamburg, vor allem Fotos, ein schmuddeliger alter Plastikkoffer, vollgepackt mit Schwarz-weiß-Dias aus den 50er Jahren. Und einen Kaktus, eine unschöne, verkrümmte Pflanze in einem halb verfaulten Topf, fast hätte ich ihn weggeschmissen. Ich ahnte damals noch nicht, wie sehr er mir ans Herz wachsen, zum Fetisch werden sollte. Der Kaktus steht heute im Badezimmer, und indem ich ihn pflege, halte ich Kontakt zu Mama. Ich pflege ihn schlecht, aber er kann das ab. Alle paar Tage halte ich kurz den Duschkopf über ihn und drehe kurz das Wasser auf, heiß oder kalt, egal, wie’s kommt. So eine Brutalität gehört bei mir dazu.

„ah

Aufgeregt lief ich in Hamburg zur Analytikerin. Diesmal gab es ja wirklich was zu besprechen! Gleich zu Beginn der Stunde erzählte ich von der Reise zu meiner toten Mutter, allerdings anders als hier in der schriftlichen Nacherzählung. Eher sachlich, ohne die Uterus-Arie. Die Frau interessiert sich nicht so sehr für real erlebte Geschichten, das begann ich damals schon zu akzeptieren. Die Analytikerin, die mir etwas übel gelaunt vorkam, vielleicht auch nicht ganz bei der Sache, ließ den Bericht unkommentiert stehen. Während meines Vortrags reagierte sie auf ihre unaufgeregte, unerschütterliche Art und gab mir nur mit einem fallweisen »Ah, das ist interessant« oder »Ah, da sehen Sie mal, das hätten Sie nicht gedacht« zu erkennen, dass sie zuhörte. Gut, es war auch kein Traum. Ich erzählte auch von dem Kaktus. »Ah, ein Kaktus«, sagte sie, »interessant.« Kurze Pause. »Sie wissen, ein Kaktus braucht Kaktuserde, das ist eine bestimmte Erde.« Pause. »Wissen Sie das?« »Ich werde mich erkundigen«, sagte ich schuldbewusst und wusste in dem Augenblick schon, dass ich mich nie erkundigen würde. Circa einmal im Jahr frage ich Eva, ob sie wisse, ob es Kaktuserde gebe. Sie weiß es auch nicht. Dem Kaktus geht es gut, er ist einige Zentimeter gewachsen in den 15 Jahren, seit meine Mutter tot ist.
Frau Doktor Von hütete sich, das Ereignis hochzustilisieren, und beschloss die Stunde mit der Bemerkung, ich hätte jetzt ja viel nachzuarbeiten, wo ich doch lange weg gewesen sei. Nachzuarbeiten, sagte sie, aber ich hatte den Eindruck, sie meinte nicht die Sache mit meiner Mutter. Mama. Vielleicht hatte sie sogar damals schon Lunte gerochen, dass ich mich auch in ihren Unterleib vorarbeiten würde, mit allen Mitteln.

Traum 4

Doktor Von schließt ihre psychoanalytische Praxis. Das entnehme ich einem hektographierten Zettel, den ich aus einem handbeschrifteten Kuvert ziehe. Gleichzeitig ist es eine Einladung: Alle ehemaligen Patienten werden zu einem Abschiedsessen in die Mövenstraße, in ihre Wohnung und Praxis eingeladen. Ich komme hin. Die Räume sind anders, in einem ist eine Küche mit Tresen, 10, 12 Leute sind da, Licht ist nur über dem Herd, auf dem ein großer Topf Wasser erhitzt wird, ich bekomme mit, dass es Spaghetti geben soll. Doktor Von ist nicht da, vielleicht warten alle. Es ist schummrig im Raum, nur der Ofen mit dem Topf ist erleuchtet, alles andere im Halbdunkel. Ich kann keine Gesichter erkennen. Trotzdem kommen mir die Leute alle sehr »alternativ« vor, Frauen mit Brillen und in großen Kleidern, bärtige Männer in Pullovern, wie Pastoren. Niemand spricht mich an, ich bin mir auch nicht sicher, ob ich gesehen werde. Ich muss hier weg. Als ich mich aus dem Raum stehlen will, kommt mir im Flur, der jetzt wieder originalgetreu ist, Frau Köhler, die Assistentin von Doktor Von, entgegen und sagt: »Gut, Herr Hopp, dass ich Sie so schnell erwische, Frau Doktor Von möchte dringend mit Ihnen sprechen. Sie wartet im Badezimmer auf Sie.« Die Tür ins Badezimmer, an der ich in Wirklichkeit oft vorbeigegangen war, steht einen Spalt breit offen, Dampf dringt durch die Türspalte. Ich drücke die Tür vorsichtig auf, das kleine Badezimmer ist nebelig vor Dampf und heiß wie eine Sauna, in der Badewanne liegt Doktor Von, vom Körper kann ich nichts sehen, er ist unter Schaum, am Kopf trägt sie eine Badehaube aus blassgrünem Plastik. »Sie wollten mich sprechen?«, sagt sie. Ich bin plötzlich im Badezimmer meiner Großmutter. Ich spanne die Oberschenkel an, damit die Grübchen entstehen, wie es mir Onkel Herbert, der Mann, der so oft meine Mutter verprügelt hat, einmal in diesem Badezimmer gezeigt hat. Die Grübchen, mit denen die Männlichkeit erwacht.


Auszug aus: Mann auf der Couch, Textem Verlag, Hamburg 2021, 656 Seiten, 20 €

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