Marx, Hamburg und Palästina

Schon wieder eine Mogelpackung! Worum es hier WIRKLICH geht, der Reihe nach:
Marx wird in Hamburg zum berühmten ersten Satz des „Kapital“ (Band I.) – inspiriert.  Ein Fund (Vorabdruck) aus dem Buch von Jürgen Böning, „Otto Meissner – Verleger des Kapital“,um das sich nicht zufällig der ROTE SALON HAMBURG am 30.06. dreht (dreht?). Um zahlreiches Erscheinen wird gebeten – bisher steht die Resonanz auf die Ankündigung der Veranstaltung noch in keinem Verhältnis zu ihrer Interessanz! So sei hier nochmal das Anmelden angemahnt: https://roter-salon-hamburg.de/
Und, jetzt ohne Spaß: Die Philosophin Susan Neiman, der wir, die sie erste Gästin des ROTEN SALON war (Links ist nicht woke, 25.2.2024), besonders verbunden sind, hat sich in einem Interview mit der
Süddeutschen Zeitung vom 9. Juni 2025 wunderbar klar und angemessen zum Gaza-Krieg
zu Wort gemeldet. Da heute niemand mehr Zeitung liest, bietet sich eine auszugsweise Darreichung des Textes in diesem Massenmedium an. Oder?

bildschirmfoto 2022 03 05 um 07.31.52
Sillem’s Bazar: Der Shopping-Tempel unserer Ururgroßeltern. Nach dem Stadtbrand 1842 wurde er dort errichtet, wo sich heute der Hamburger Hof befindet. Gleich nebenan das Hôtel de Russie, in dem Marx residierte

Mai 1845:  Karl Marx bei Otto Meißner und in Deutschlands erster Shopping Mall
Von Jürgen Bönig

Mitten in der Auseinandersetzung um die Bildungsgesellschaft kam Karl Marx zum ersten Mal nach Hamburg zum Verlag von Hoffmann und Campe und traf dabei auch seinen späteren Verleger Otto Meißner als Leiter der Buchhandlung. Marx reiste im Mai 1845 per Schiff an von Brüssel, wo er und seine Genossen nach der Abschiebung aus Paris Ende 1844 Zuflucht gefunden hatten. Sie wollten ein Kommunistisches Korrespondenzbüro aufbauen und suchten Kontakt zu Gesinnungsgenossen, die sie unter anderem in Schirges und Martens fanden. Die Veröffentlichung der von Marx und Engels verfassten Schrift Gegen Bruno & Consorten lehnte Julius Campe hingegen ab, so dass Die Heilige Familie Ende Februar 1845 in Frankfurt am Main bei der Literarischen Anstalt J. Rütten erscheinen musste – _wiederum im erheblichen Umfang von 21 Bogen oder 336 Seiten, die eine Vorzensur ersparten. Ein Eindruck des Besuches in Hamburg kann in Das Kapital eingeflossen sein. Im Mai 1845 war das Hôtel de Russie fertig geworden, in dem Marx abstieg, gelegen neben dem Heine Haus und Streits Hotel am Jungfernstieg. Hinter dem Hotel öffnete sich eine aufwändig gestaltete Einkaufs-Passage mit Schaufenstern, wie es sie ähnlich bereits in Paris und London gab. Sillem´s Bazar präsentierte zum ersten Male in Hamburg wertvolle Waren in Schaufenstern, ohne dass zugleich deren Herstellung auf Bestellung in einer damit verbundenen zünftigen Werkstatt sichtbar war. In der Einkaufspassage erschien tatsächlich der „Reichtum der Gesellschaften als ungeheure Warensammlung“, wie Marx diesen Wandel 1859 zusammenfasste in einem Satz, den er 1867 am Anfang des ersten Bandes des Kapital wiederholte.

Aus: Jürgen Bönig, Otto Meissner, Verleger des „Kapital“, vsa:Verlag 2026, Seite 65

unknown 2

Susan Neiman: „Deutschland hat diese Lehre missverstanden“
Auszüge aus einem Interview von Sonja Zekri

Der palästinensische Politiktheoretiker Bashir Bashir spricht von einem „globalen Palästina“ als Metapher für Gerechtigkeit, Gleichheit und Freiheit. Wie konnte es dazu kommen?
Es gibt viele Kriege und viel Schrecken auf der Welt, schauen Sie auf den Südsudan oder die Uiguren in China. Aber weder der Sudan noch China bekommen Milliardenhilfen und Rüstungsgüter aus den USA oder Deutschland. Sie nehmen auch nicht am European Research Council oder am Eurovision Song Contest teil. Israel ist seinem Verständnis nach eine westliche Demokratie, ein Rechtsstaat, verletzt aber die Menschenrechte. Ich zahle Steuern in Deutschland und den USA, mit denen auch Waffen für Israel bezahlt werden. Die Folgen sehe ich auf Videos: Ein fünfjähriges Mädchen, das nach einem Angriff durchs Feuer läuft, und noch nicht weiß, dass es seine ganze Familie verloren hat. Oder eine Mutter, die sechsmal zu einer der neuen Verteilungsstellen gegangen ist und beim siebten Mal von einem israelischen Soldaten erschossen wird.

Für Sie sind das „genozidale“ Bedingungen?
Ich folge darin dem israelischen Historiker Omer Bartov, der anfangs warnte, die Kriegsführung könne in diese Richtung gehen. Es dauerte, bis er von Völkermord sprach. Ich habe an mir selbst eine Veränderung bemerkt. Nach dem 7. Oktober habe ich gesagt, wir sollten nicht von „pro Israel“ oder „pro Palästina“ sprechen, ich bin pro Menschenrechte. Aber nach 20 Monaten Krieg muss ich – wie übrigens die Hälfte aller Juden auf der Welt – mit tiefer Verstörung und Trauer und Wut zur Kenntnis nehmen, dass die Menschenrechtsverletzungen überwiegend von der israelischen Seite begangen werden. Das sagen sogar der ehemalige Premier Ehud Olmert oder der ehemalige Sicherheitschef Moshe Ayalon.

Sie haben ein Buch über die deutsche Erinnerungskultur geschrieben, „Von den Deutschen lernen“. Zuletzt aber haben Sie Deutschlands Umgang mit der Geschichte sehr kritisiert. Im Kern geht es um die Frage, welche Lehre Deutschland aus seiner Geschichte ziehen soll, aus dem oft beschworenen „Nie wieder“.
Deutschland hat diese Lehre missverstanden. Folgt aus der Verantwortung für die Geschichte, dass die Nachfolger einer Gruppe von Menschen, die Deutschland umgebracht hat, Schutz genießen, egal, was sie tun? Oder kann man ein bisschen abstrakter werden? Welchen Wert haben die universellen Menschenrechte, wenn sie nicht für alle gleichermaßen gelten?

Eine Frage, die einfach klingt, aber polarisiert.
Zweifellos. Zwei meiner drei Kinder wollen nie wieder in Deutschland leben, weil sie die Mischung zwischen Philosemitismus und Antisemitismus nicht ertragen – zusammen mit der Beschimpfung ihrer Mutter als Antisemitin, weil ich behaupte, dass Menschenrechte auch für Palästinenser gelten. Philosemitismus ist oft eine Form von Antisemitismus. Das habe ich erlebt, als ich 1982 erstmals nach Deutschland kam.

Wie kann Philosemitismus zu Antisemitismus führen?
Weil Juden als Wesen anderer Art betrachtet werden, als ewige Opfer. Deutschland hat 40 Jahre gebraucht, bis es sich als Täter versteht. Merkwürdigerweise gehört zum Selbstverständnis als Täternation oder Tätervolk aber, dass die Juden als Opfervolk und Israel als Opfernation verstanden werden. Auf diese Reduktion lasse ich mich nicht ein. Die Hälfte der Juden der Welt lässt sich darauf nicht ein. Der Staat Israel würde ja gerade gegründet, damit Juden nicht mehr Opfer sein müssen. Die Verbindung von Antisemitismus mit Kritik am israelischen Staat ist eine politische Entwicklung, und sie hat mit der Likud-Regierung in den Achtzigerjahren begonnen.

Aber haben die Deutschen nicht eine besondere Verantwortung für den Schutz von jüdischen Menschen?
Schon, aber diese Haltung provoziert doch gerade neuen Antisemitismus. Gehen wir für einen Moment davon aus, dass den Deutschen die Palästinenser egal sind, dass sie die Juden mehr als alle anderen schützen möchten, dann hilft es uns trotzdem nicht. Aus gebildeten Kreisen in Deutschland höre ich gerade oft: Die Juden haben zu viel Einfluss, das zeigt die deutsche Israelpolitik. Viele haben die Sorge, dass die einseitige Parteinahme der deutschen Politik über kurz oder lange auf uns zurückschlagen wird. Inzwischen kritisiert eine große Mehrzahl der deutschen Bürger diese Politik. Wenn die Politiker diese Stimmen ignorieren, was sagt das über die Demokratie?

Der jüngste Bericht der Antisemitismus-Beobachtungsstelle RIAS für Deutschland war in der Tat alarmierend.
Dabei sind die Methoden von RIAS mehr als fragwürdig. Was sie damals über das in München abgesetzte Theaterstück „Vögel“ geschrieben haben – danach wäre auch Philip Roth antisemitisch oder gar Heinrich Heine. RIAS operiert nicht nur mit einem undurchsichtigen Begriff von Antisemitismus, sondern mit einem fadenscheinigen Begriff von Kunst und Kultur. Eine wissenschaftliche Analyse von deren Methoden wurde gerade von der NGO Diaspora Alliance veröffentlicht. Die Deutschen sind so betroffen, wenn sie das Wort „antisemitisch“ hören, dass sie nicht mehr rational reagieren. Erinnern wir uns an den Fall Gil Ofarim: War es wirklich plausibel, dass ein Mitarbeiter eines Leipziger Hotels vor der Öffentlichkeit jemand antisemitisch beschimpft? Man muss die Fälle ruhig analysieren.

Aber der Anstieg des Antisemitismus weltweit ist unbestritten.
Ich bin in den USA mit Antisemitismus groß geworden. Als ich ein Kind war, wurde auf unsere Synagoge in Atlanta ein Bombenanschlag verübt, auch, weil der Rabbiner dort eng mit Martin Luther King gearbeitet hat. Über den Antisemitismus in Deutschland, den ich selbst erlebt habe, könnte ich lange reden. Aber, und ich weiß, wie kontrovers das ist, ein Grund für den Anstieg des Antisemitismus ist auch die Politik des Staates Israel.

Die Juden sind schuld am Antisemitismus? Wirklich?
Antisemitismus hat es seit langer Zeit gegeben, und das hat viele Gründe. Jetzt aber identifizieren sehr viele Menschen auf der Welt Juden mit Israel. Israel möchte diese Identifikation aufrechterhalten, es sagt: Wir sind der Staat des jüdischen Volkes, und wer uns kritisiert, ist antisemitisch. Und dieser Staat wird von Deutschland und den USA unterstützt bis an den Rand der eigenen Interessen. Und so glauben manche an eine jüdische Weltverschwörung.

Israel als Staat der Juden lenkt die Weltgeschäfte – das greift nun wirklich auf eine der ältesten antisemitischen Lügen zurück.
Natürlich. Aber die „Protokolle der Weisen von Zion“ erscheinen fast vernünftiger als das, was derzeit in den USA passiert. Drei Viertel der amerikanischen Juden sind gegen die bedingungslose Unterstützung dieser rechten israelischen Regierung. Die stärksten Unterstützer Israels in den USA sind die evangelikalen Christen. Sie wollen einen apokalyptischen Krieg im Nahen Osten, damit der Messias kommt. Wenn er kommt, so glauben sie, werden entweder alle Juden konvertieren oder wir enden in der Hölle. Der neue US-Botschafter in Israel, Mike Huckabee, ist ein waschechter Vertreter dieser Gruppe. Sie macht immerhin 25 Prozent der amerikanischen Bevölkerung aus, sie sind gut organisiert. Juden sind nur zwei Prozent der US-Bevölkerung. Trump hat bei Kundgebungen selbst gesagt, die Juden sind ihm nicht dankbar, die Evangelikalen sind ihm dankbar. International aber werden die Juden für Israel verantwortlich gemacht.

Wird Deutschland seine Waffenlieferung einstellen, vielleicht sogar Sanktion gegen Israel verhängen?
Ich will es so formulieren: Es hängt von uns ab, ob diese Öffnung der deutschen Politik bleibt und sich ausweitet. Deshalb sollten die Deutschen ein bisschen Zivilcourage zeigen und ihre Stimme erheben. Deutschland muss sich engagieren – gemeinsam mit den Europäern. Das wäre meine Hoffnung

Interview: Sonja Zekri
Aus: Süddeutsche Zeitung, 10. Juni, 2025, Seite 9

1 Kommentar zu „Marx, Hamburg und Palästina“

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Scroll to Top
Scroll to Top