Wie der Mann auf der Couch von der Couch gesprungen und als bekennender und aktiver Linker auferstanden ist – das ist für viele verwunderlich. „Gerade noch ist er mit Content MARKETING für die Agentur hausieren gegangen, da war ihm der Kapitalismus recht, und jetzt kommt er mit Marxismus daher.“ Oder die großen Kindern sagen: „Jetzt, wo der Papi kein Geld hat, kommt er plötzlich als Kapitalistenfeind daher … sehr GLAUBWÜRDIG!“
Der MAC selber sieht sich dagegen in einer großen Kontinuität, die ihren Anfang nahm in seiner linken Sozialisation im Wien der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, lediglich eine Latenzphase erlebte seit den 80ern, als Kinder und Karriere (eigentlich umgekehrt) im Vordergrund standen – und jetzt, wo der MAC auch die entsprechende Reife erlangt hat, im Herbst seines Lebens, ihre Fortsetzung und Vollendung findet. Schön gesagt.
Ein Glück ist, dass wenigstens die Anfänge gut belegt sind und so geht der MAC auch gerne zum Regal und holt die publizistischen Belege hervor, Zeitschriften wie Nachrichten für Unzufriedene der Spartakus-Gruppe in Wien (stimmt nicht, davon hat er kein Exemplar mehr), Hefte der aufsässigen Jugendzeitschrift Neue Freie Presse und der Neue-Linke-Plattform Neues Forum, die Redaktionen, in denen er ab 1973 zu arbeiten begann, in einer Mischung aus Verlagslehrling und Redaktionsvolontär.
Beim Neuen Forum untergekommen zu sein war absolut life-changing für den 18, 19jährigen, schwer unstabilen MAC, denn so konnte er die damals führenden Linksintellektuellen Österreichs und teils Deutschlands (Dutschke! Cohn-Bendit! Brandt! Biermann!) hautnah erleben und bekam schon früh die inneren Spannungen mit, die in der Linken bestehen.
Im Buch Mann auf der Couch hat der MAC aus seiner „Linkswerdung“ im Wien in Zeiten des Bundesheer-Volksbegehrens, der besetzten Arena, der Palmers-Entführung und der Besetzung der Hainburger Au, ein Kapitel gemacht, in dem die damals als eins empfundene persönliche und „politische“ Entwicklung differenziert betrachtet werden, ohne den Zorn der Pubertät zu verraten.
Anger is an Energy.
Lest hier das Kapitel im Original, ergänzt nur durch Zwischentitel. MH
ABLÖSE – Kapitel aus “Mann auf der Couch”, Seite 412
Als mir mein Vater im Jahr 1971 oder 1972 eine knallte, damals hätte ich noch gesagt, eine runterhaute oder reinhaute, es war keine Ohrfeige in dem Sinn, es war eher ein Faustschlag, wie in den Karl-May-Filmen, wie die im ganzen Westen gefürchtete Schmetterfaust des Old Shatterhand, mein Vater sah ja auch aus wie Lex Barker, so toll eigentlich, taumelte ich von der Wucht des Aufpralls seiner Hand (Faust?) in meinem (auf meinem?) Gesicht nach hinten. Und krachte (krachte kann man schon sagen, es war eine Holztür) mit dem Kopf gegen die Klotür.
Es war übrigens das einzige Mal, dass mein Vater das tat, was mich aber nicht davon abhielt, jahrelang herumzuerzählen, mein Vater hätte mich geschlagen, so als wäre das häufiger oder sogar regelmäßig gewesen. Es war damals, als ich nicht zur Nachhilfe gegangen war, sondern in die linksradikale Kommune »Spartakus«.
Ich habe es schon beschrieben, mit dem Zusammenleben, nachdem mein Vater mich zu sich geholt hatte, ging es nicht lange gut. Innerlich war ich, nachdem ich die Schmetterfaust abbekommen hatte, praktisch ausgezogen. Nach außen fand Papas zweite Frau Trude eine Lösung, unterm Dachboden wurde mir eine Kammer eingerichtet, allerdings direkt angrenzend an Papas Büro im obersten Geschoss des Mietshauses in der Margaretenstraße.
Wenn ich in dieser letzten Phase bei meinem Vater am Wochenende alleine war, feierten wir Partys, kotzten die Toilette voll, ohne das nachher zu reinigen, brachen in Papas Büro ein und verwüsteten es.
Oder ich ging mit einem Schraubenzieher los und schraubte unten beim Hauseingang sein Firmenschild »Baumeister Ing. Karl Hopp – Architekt« ab, steckte es in eine Tüte und lief bis zum Wien-Fluss damit, um es da von der Brücke zu werfen und zu versenken. Aber was heißt versenken, der Wien-Fluss ist eigentlich ein Kanal und so lag das Schild in der Rinne eher herum, was mich gleich mit Angst erfüllte, mein Vater könnte es da wieder finden und – über Fingerabdrücke, die werden ja wohl abgespült sein? – den Weg zu mir zurückverfolgen.
Warum wollte ich sein Firmenschild verschwinden lassen, doch um ihm zu schaden und eventuell um ihn als Ganzes verschwinden zu lassen, das Scheiß-Büro. Ich hatte einen diffusen, unberechenbaren, aber doch intensiven Hass auf meinen Vater entwickelt, den ich vor mir mit kindischen politischen Motiven rechtfertigte. Das Kapitalistenschwein.
Urknall für das Anderswerden
Auf den Schwingen des Ödipus entwickelte ich eine direkt gegen den Vater gerichtete linksradikale Attitüde, identifizierte ihn mit seiner kleinen, immer vom Bankrott bedrohten Baufirma als ausbeuterischen Kapitalisten, reizte ihn bis zur Weißglut und erreichte damit die gewünschte Resonanz. Da kam dann die Schmetterfaust.
Das war der Urknall für mein Anderswerden, könnte man sagen. Von dem Augenblick an wollte ich Linksradikaler und Schriftsteller werden, in der Kombination, und Alkohol und Drogen und Sex sollten irgendwie dazugehören, auch dazu war ich wild entschlossen. Auch ein paar Jahre später, als ich homosexuell wurde, hing es mit der aggressiven Notwehr meines Vaters zusammen.
Doktor Von drückte es einmal so aus: Ich müsse erkennen, wie viel mein Vater immer wieder zu meiner Entwicklung beigetragen habe.
Ich zog mit 17 aus, brach den Kontakt zu meinem Vater ab und hatte begonnen, Gedichte zu schreiben und in Jugendzentren und Szenecafés Lesungen zu geben, zusammen mit Robert Menasse, Roland Perhab (heute Hagenberg) und Wolfgang Scheuer. Zusammen bildeten wir die Gruppe »Mundwerk« und gaben, nach chinesischem Vorbild, die Wandzeitung Wandzeitung heraus, allerdings nur einmal, weil uns das Aufhängen in den Kaffeehäusern doch zu mühsam war.
Meine Gedichte (ein Zyklus – natürlich – hieß ich und …, alles in Kleinschrift, alles Würmchen-Style) kreisten um ein oder mein »Ich«, ein Vorwand für eitle Weinerlichkeit. Ich merkte schnell, dass gerade diese Weinerlichkeit, das Wort »Sensibilität« war damals noch neu, bei Mädchen gut ankam.
Die Auftritte mit Roland, der nicht nur schrieb, sondern auch zur Gitarre sang und dabei klang, als würde David Bowie Bob Dylan singen, kamen gut an.
Wir machten es uns leicht und traten, auf Vermittlung von zwangsbeglückenden sozialdemokratischen Kulturvereinen, in Heimen für schwer erziehbare Mädchen auf. Diese Mädchen konnten es sich nicht aussuchen und fanden unsere Lesung mit Songs allemal interessanter, als alleine in der Zelle zu hocken. Eines dieser Mädchen rief mich Wochen nach der Lesung aus einer Telefonzelle an, sie sei jetzt entlassen, ob wir uns treffen könnten, sie sei die Elisabeth von der Veranstaltung damals. Ich hatte sie bei der Lesung nicht bewusst wahrgenommen und ließ mich auf das Blind Date ein. Als Elisabeth im verabredeten Café auftauchte, war ich erschrocken, wie dick sie war, das kugelrunde Gesicht, das nach hinten gebundene, fettige Haar.
Trotzdem konnte ich klarerweise nicht Nein sagen, und als wir uns zwei Stunden später am Boden ihres winzigen Untermietzimmers wälzten, das wir nach einer ewigen, großteils schweigend verbrachten Straßenbahnfahrt erreichten, zu mir wollte ich sie nicht mitnehmen, roch ich ganz aus der Nähe starken Achselschweiß.Mit ein paar routinierten Handgriffen befreite Elisabeth die jetzt interessanten Körperzonen von uns beiden aus den Klamotten und setzte sich mit einem Schwung und ihrem ganzen Gewicht auf mich drauf, ihre Brüste hatte ich ganz nah vor meinem Gesicht. Trotz des strengen Geruchs, oder vielleicht deshalb, kam ich schon im Moment des Schwanzreinzwängens und hatte damit alles vermasselt.
Als ich schon gespritzt hatte, rieb sie sich mit unglaublicher Energie einen ab auf meinem schmierigen, halbsteifen Schwanz, kam mit Geräuschen, als hätte sie gerade 100 Kilo die Treppe hochgeschleppt und begann noch viel stärker zu riechen.
Für mich war’s das dann gewesen mit der Arbeiter-Literatur und für Elisabeth wahrscheinlich mit der Literatur überhaupt. Aber alles in allem lief das doch schon mal gut an, Würmchen hatte erste Fans.
Teil von etwas Grossem, Wichtigen werden
Während Robert Menasse beim Dichten blieb und ein angesehener Autor wurde, war ich eher angezogen von der Verbindung aus Schreiben und dem »Machen« einer Zeitschrift, vor allem aber davon, Teil von etwas zu werden, von etwas irgendwie Wichtigem, Bedeutendem, Berühmtem. Im Verlag von Doktor Doktor Günther Nenning (der eigentlich im »Eigentum der Angestellten und Redakteure« war) schien ich das gefunden zu haben. Dort war ich ab 1973 untergekommen, zunächst, das hatten wir schon, bei der Jugendzeitschrift Neue Freie Presse, für die ich einen meiner ersten in hoher Auflage gedruckten Texte schrieb, den weiter vorne im Buch dokumentierten Artikel über die »wichsenden« Mädchen.
Das war ein ungewöhnliches Thema für einen ganz jungen Journalisten, wie ungewöhnlich, fiel mir damals nicht auf, erst jetzt, als ich ihn mehr als 40 Jahre später aus einer vergilbten Mappe zog. Eine Karriere als »richtiger« Schriftsteller, wie sie Robert so beherzt anging, traute ich mir damals nicht zu und sie erschien mir auch etwas einsam. Doch bewusste, überlegte Entscheidungen kannte ich damals nicht. Ich ließ mich einfach treiben und hatte verglichen mit heute keine Angst, obwohl das ja andersrum sein müsste.
Ich war magisch angezogen von der mächtigen Vaterfigur Dr. Dr. Günther Nenning (gegen die mein leiblicher Vater wie ein Zwerg erschien) und der Geborgenheit einer großen, ideologischen, sinnstiftenden Gemeinschaft, die für alle Fragen des Lebens Antworten bereit hielt – ähnlich wie bei »Spartakus«, doch mit dem Unterschied, dass ich in dem Verlag, der das Neue Forum, die »Zeitschrift für den Dialog zwischen Christen und Marxisten«, und die Neue Freie Presse herausgab, viel besser aufgenommen wurde. Ich war zwar auch da der weitaus Jüngste, bekam aber viel mehr Aufmerksamkeit als bei den »Spartakisten«, zumindest im Kreis der jüngeren Mitarbeiter der Neuen Freien Presse.
Für einen linken Journalisten war Günther Nenning in Österreich unglaublich bekannt, den Rechten in Österreich galt »der Nenning« als Revoluzzer, Verführer der Jugend, als subversiv. Nennings Verdienste waren ein »Volksbegehren zur Abschaffung des Bundesheeres«, die Entwicklung des Neuen Forum zu einem im gesamten deutschsprachigen Raum relevanten Organ der Neuen Linken, mit deutschen Großautoren wie Adorno, Bloch, Habermas, österreichischen wie H. C. Artmann, Ernst Jandl, Elfriede Jelinek und internationalen Stars wie Albert Camus, Herbert Marcuse oder Jean-Paul Sartre. Später verwandelte er sich in einen »Auhirschen« und frühen Grünen, mit der Besetzung der Hainburger Au und der darauf folgenden Etablierung einer ökologischen Bewegung in Österreich.
Als Figur der Zeitgeschichte war Nenning ein Meister der Selbstinszenierung und ein begnadeter Netzwerker. Als Präsident der Journalistengewerkschaft selbst Teil des österreichischen Filzes zwischen Staat, Industrie und Gewerkschaften, der sogenannten Sozialpartnerschaft, gelang es ihm über Jahrzehnte, den Verlag mit politischen Anzeigen über Wasser zu halten.
Zur volkstümlichen Figur wurde er, als ihm Bundeskanzler Bruno Kreisky die Freude machte, den »Doktor Doktor Nenning« als »Wurschtel« zu bezeichnen – allein wie Günther den Doppeldoktor trug, wirkte provozierend und/oder ehrfurchtgebietend im titelfixierten Österreich.
In den 80er Jahren zog es ihn ins Fernsehen, er moderierte die erste deutsche Talkshow, »3 nach 9« bei Radio Bremen, und gründete in Österreich den »Club 2«, der mit spektakulären Auftritten einer masturbierenden Nina Hagen und einem triumphalen Doppelauftritt von Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit so was wie Fernsehgeschichte schrieb. Zur Gründung der irgendwie antiautoritären Jugendzeitschrift Neue Freie Presse, bei der ich meine erste Redakteursstelle hatte, ließ er ein Nacktfoto der Redaktion (inklusive seiner selbst) verbreiten, das im Spiegel nachgedruckt wurde und das Heft für einen Augenblick berühmt machte.
Anfangs arbeitete ich noch untertags in der bürgerlichen Buchhandlung und kam immer abends in den linken Verlag, doch bald brach ich die Buchhändler-Lehre ab und Günther stellte mich als Verlagslehrling ein, damit das Ganze eine Form hatte. Aber eigentlich fühlte ich mich als Redakteur und war es auch.
Im Verlag arbeitete ich nur ein paar Tage im Monat, immer wenn es darum ging, die schon in Umschläge gesteckten Hefte der Abonnement-Auflagen vom Forum oder von der Neuen Freien Presse nach Postleitzahlen zu sortieren, die Bündel in große Jutetüten der Österreichischen Post zu stecken und dann diese Tüten wie der Weihnachtsmann zu schultern und zur Post zu bringen. Die restliche Zeit war ich in der Redaktion der Neuen Freien Presse.
Die Arbeit im Vertrieb verrichtete ich unter der knorrigen Aufsicht des Vertriebsleiters Franz Jindra, eines früheren Mitglieds der »Kommunistischen Partei Österreichs«, der zum Prager Frühling aus der Partei ausgetreten und wie einige andere Ex-KPler im Forum untergekommen war. Er fühlte sich wohl unter den »neuen Linken« und den Antiautoritären in Nennings Forum-Redaktion. Das schräge Jugendblatt Neue Freie Presse, für das ich gekommen war, hielt er eher für ein Abenteuer, das den ganzen Verlag gefährdete.
Wenn der Verlagsdealer kam
Morgens und am Vormittag polterte Franz oft rum und war übel gelaunt, nachmittags und gegen Abend war er meist milde und lächelte versonnen über die Karteikästchen hinweg, woran ich erkennen konnte, dass Robert, der Hausdealer des Verlags, schon da gewesen war.
Franz hatte auf seine alten Jahre das Haschischrauchen entdeckt und tat es in der ihm eigenen Regelmäßigkeit. Dealer Robert sah aus wie ein Doppelgänger von Frank Zappa und fuhr an den Nachmittagen mit einem 20 Jahre alten Bentley mit Vollautomatik und Ledersitzen durch Wien, um seine Kunden abzuklappern. Mit dabei immer seine verwirrend hübsche Freundin Nina, die im Auto wartete, wenn Robert den Bentley in zweiter Reihe hielt. Nina strebte eine Modelkarriere an, das war noch neu damals.
Da es für die Neue Freie Presse, abgesehen von Barbara und Walter, dem Artdirector Klaus Pitter und seiner Freundin, der Grafikerin Eva Gruber, keine richtige Redaktion gab, erreichte ich durch schiere Begeisterung, vor allem aber durch dauernde Anwesenheit, ich war in die Redaktionsräume regelrecht eingezogen, schnell eine bestimmte Wichtigkeit. Als im darauf folgenden Sommer niemand von den älteren NFPlern da war, um das Heft zu machen, wurde ich zu einer Art Chef vom Dienst, ohne dass wir das damals so genannt hätten. Ich »machte« das Heft, so gut ich halt konnte.
Mit der Straßenbahn fuhr ich quer durch Wien, um von Manfred Deix die Druckvorlagen-Originale seines Comics persönlich abzuholen, Internet gab es noch nicht. Deix war immer zu spät, und die Druckerei wartete schon. Während Deix mich in der kleinen Küche warten ließ, pisste mir eine seiner Katzen die Jacke voll. Ich stank so sehr, dass mich der Schaffner aus der Straßenbahn schmiss. Da ich kein Geld hatte, musste ich mit den großen Mappen (die inzwischen auch stanken) unterm Arm zu Fuß zurück in die Redaktion und kam erst spätabends an. Der Druckereitermin war in der Zwischenzeit geplatzt. Aber ich war glücklich, denn ich hatte mein Möglichstes getan.
»Unsare Lehrer keraten olle umbrocht«, stand auf der dritten Ausgabe der Neuen Freien Presse, am Titel sah man Fritz The Cat, den von uns adaptierten Character von Robert Crumb, wie er mit einem gezielten Schuss seines Geo-Dreiecks einen Lehrer hinrichtet. Es war ein tolles, ein starkes Titelbild, wir waren sehr stolz darauf, es hing in ganz Wien auf den Litfaßsäulen und erregte auch viel Aufsehen auf der Frankfurter Buchmesse, auf die wir fuhren.
Klaus Rainer Röhl, der konkret-Chefredakteur und Ehemann von Ulrike Meinhof, besuchte uns auf unserem Stand und wir luden ihn zu einer Blattkritik nach Wien. »Nicht tüteln, klotzen müsst ihr«, riet er uns mit seiner seltsam hohen Stimme im hanseatischen Singsang, der damals noch neu für mich war. Dabei klotzten wir ja schon, was das Zeug hielt.
Mein Vater, der Günther Nenning aus dem Fernsehen kannte, verabscheute zwar das linke Gewese, aber er war auch promigeil und fand es insgeheim gut, wenn sein Sohn bei dem berühmten »Doktordoktor« unterkam.
Allein schon das beeindruckte ihn, der doppelte akademische Grad, über den sich zwar halb Österreich lustig machte, aber mein Vater dachte, da muss er auch was geleistet haben, um gleich zwei Doktoren zu machen, und Leistung zählt.
Auf Günthers weithin bekannte Sexsucht (nannte man damals noch nicht so) anspielend, zeichnete »Ironimus« Gustav Peichl, der Vater des Tempo-Chefredakteurs Markus Peichl, einen »Ps. Ps. Nenning«, der zwei Penisse hatte.
Mit solchen Bildern im Kopf machte sich mein Vater eines Tages auf in die Redaktion in der Museumstraße 5, hinter dem Volkstheater, und erlag in der Sekunde dem Charme Günther Nennings, der ihm zudem versicherte, sich »um den Buam«, also um mich, kümmern zu wollen. Das tat er dann auch für einige Jahre auf rührende Weise.
Privat und öffentlich, das verband sich hier, auf eine skurrile, hochstrukturierte Weise. Günther hatte keine Wohnung, sondern bewohnte ein großes Zimmer der weit verschachtelten Verlagsräumlichkeiten, mit anschließendem Badezimmer, aber ohne eigene Küche und Toilette. Wenn ich frühmorgens kam, traf ich ihn oft im Bademantel, wenn er mit der Zeitung unter dem Arm auf dem Weg zur Toilette war.
Mein schmales Zimmer lag neben der Küche, die von allen genutzt wurde, mit einem Kühlschrank, in dem Günther Lebensmittel aufbewahrte, die er von Frau Tilde, der Verlags-Haushälterin, einkaufen ließ, zweimal die Woche, immer die gleiche Menge ungarischer Salami und gekochten Schinkens.
Immer wieder gab es Ärger, weil hungrige Redakteure oder andere Freunde des Hauses den Kühlschrank leer fraßen – ich selber bediente mich auch einige Male – und Günther dann nichts zum Frühstück hatte. Da ich im Zimmer nebenan war, aber vielleicht nicht nur deshalb, wurde ich zum Wächter über Schinken und Salami bestellt, wusste aber nicht recht, wie ich das anstellen sollte. Am Ende wurde am Kühlschrank ein Vorhängeschloss angebracht, und auch ich musste mich selbst versorgen.
Ich lernte alles von ihm – nicht nur als linker Journalist, sondern auch als linker Chauvie
Ich saß bei Günther oft schon morgens am Frühstückstisch, um die Aufgaben für den Tag zu besprechen. Oft waren auch seine Freundinnen Brigitte, Karin, Gerti oder Linda dabei (immer nur jeweils eine), die übernachtet hatten und sich das Frühstück vielleicht noch etwas privater gewünscht hätten.
Viel Zeit wäre aber ohnehin nicht geblieben, denn wenn um 9 die Sekretärinnen ankamen, die dumme, aber gutmütige Seidi und die schlaue, aber intrigante Ilse, wurde Günthers Schlafgemach mit wenigen Handgriffen in das Chefredakteurs- und Herausgeber-Zimmer verwandelt und den Freundinnen blieb nichts anderes übrig, als sich durch das Badezimmer, das einen eigenen Ausgang zum Flur besaß, nach draußen zu stehlen.
Von den ankommenden Mitarbeitern, denen sie auch mal über den Weg liefen, wurden sie weder begrüßt noch eines Blickes gewürdigt. In ihren Augen waren sie Nutten, die den dummen, geilen Günther ausnutzten und damit den Verlag schädigten. Ich fand Günthers Vielweiberei cool (sagte man damals noch nicht), vor allem den selbstverständlichen, aber auch irgendwie kaltschnäuzigen Umgang damit. Ich lernte von ihm nicht nur alles als Journalist, sondern auch als linker Chauvie.
Einen Zwischenfall gab es mit Linda, die sich eines Morgens weigerte zu gehen, es kam zu einem Handgemenge im Badezimmer, das Seidi, Ilse und ich und zwei, drei andere Mitarbeiter mit anhörten. Plötzlich ging die Badezimmertüre auf und eine verweinte, hysterische Linda, eine junge Lehramtsassistentin aus Kärnten, kam mit einem Päckchen in der Hand herausgelaufen und rief: »Ich bringe mich um, ich schlucke sie alle auf einmal, jetzt bringe ich mich um! Dann können die anderen Weiber kommen, denn dann bin ich tot.«
Und zu den Sekretärinnen: »Ihr könnt den Weibern jetzt alle Termine geben, denn ich bin dann tot!« Günther, noch im Bademantel, folgte ihr nach: »Sie hat die Schlaftabletten, verdammt, gib mir die Tabletten!«
Als Linda schon durch die Eingangstür war, brach Günther die Verfolgung ab, weil der berühmte Günther Nenning schwerlich im Bademantel auf der Straße ein Mädchen verfolgen konnte. So übertrug er mir die Aufgabe. »Michael, lauf los«, sagte er, selbst schon reichlich echauffiert, so hatte ich ihn noch nie gesehen, »sprich mit ihr, beruhige sie, aber vor allem, nimm ihr die Schlafmittel weg.«
An der Haltestelle der Linie 49 am Volkstheater holte ich Linda ein und fuhr mir ihr in ihre Wohnung am Zimmermann-Platz im neunten Bezirk. Es war Freitagmorgen und ich nahm mir den Tag frei, denn ich konnte sie in dieser Verfassung ja nicht alleine lassen. Ich behütete sie gleich durchgehend bis Montag und war dann schon ziemlich verliebt, vor allem in ihren schlanken Körper, in dem mächtige Kräfte schlummerten. Die Schlaftabletten hatte ich sichergestellt und reihte sie am Montagmorgen ordentlich in Günthers Apothekenschrank ein.
Dienstag kam ich zur Frühstücksbesprechung und Linda saß wieder da. Es war alles ganz normal und dieses Mal ging sie auch ohne Widerrede. Jetzt wusste ich, wie das hier alles ging.
Abends stand ich wieder bei Günther im Zimmer, jetzt vor seinem Schreibtisch, und berichtete vom Tag, was mir gelungen war und was nicht. Er redigierte meine Artikel mit der Hand, mit den lateinischen Korrekturzeichen, ein »Deleatur« für »gestrichen«, und ließ schon mal von 150 Zeilen nur 30 stehen. Das erste Mal, als mir das geschah, schossen mir die Tränen in die Augen, dann begann ich, meine Texte sozusagen vorauseilend selbst zu streichen und benutzte dabei seine Korrekturkürzel. Jahre später tat ich es bei Redakteuren, deren Chefredakteur ich dann war, die über die Korrekturzeichen staunten, weil sie so was gar nicht mehr kannten.
Ich lernte alles von Günther, alles, vielfach durch Nachmachen. Heute noch ist an meiner Arbeitsweise vieles von ihm geprägt. Den Anrufbeantworter auf meinem Handy habe ich auf die gleiche affige Weise besprochen, wie er das wahrscheinlich getan hätte.
Neben dem Job begann ich, bei anderen linken Zeitschriften zu schreiben, es ging alles ganz leicht, weil ich als Redakteur bei Günther Nenning, der ich ja tatsächlich irgendwie war, ein gutes Ansehen genoss.
Was ich schrieb, legte ich in Günthers Postkörbchen – wir kommunizierten im Büro über handbeschriftete A4-Blätter, wobei sich jedes Blatt immer nur auf ein Thema bezog – und ich bat ihn, den Text durchzusehen. Günther Nenning war GN, ich MiHo und heute noch liebe ich diese Kürzel, nur bin ich in der Zwischenzeit zu MH geworden.
Ich begann nicht nur, wie Günther zu sprechen, sondern übernahm auch seinen Schreibstil und lernte seine Unterschrift, weil ich manchmal, wenn er nicht da war, für ihn unterschreiben durfte. Die Unterschrift beherrsche ich heute noch. Ich verliebte mich in seine Frauen und ging mit einigen von ihnen ins Bett.
Gerhard Oberschlick, ein anderer, etwas älterer Assistent, trieb es auch weit mit dem Identifizieren, imitierte Günthers Rhetorik und seine Manierismen beim Schreiben und trug am Ende sogar seine alten Cordhosen auf, bevor er es Jahre später schaffte, Herausgeber der Zeitschrift zu werden und das groß unter dem Logo prangende »Herausgegeben von Günther Nenning« in derselben Schrift und Schriftgröße durch seinen Namen zu ersetzen. Vatermord.
Ich lebte in einem Gefühl absoluter Sicherheit; in dem Milieu von Autoren, Künstlern und Intellektuellen, aber auch von Schulabbrechern, Ausreißern, Drogen- und Alkoholsüchtigen, Kleinkriminellen und Behinderten, das sich um die Redaktion gebildete hatte, fühlte ich mich geborgen, es war zu meiner neuen Familie geworden.
Sex und verlogene Liebesschwüre in der Bibliothek
Außer zu meiner Oma hatte ich kaum noch Kontakt zu meiner echten Familie, die mir jetzt unfassbar kleinbürgerlich und reaktionär vorkam. Wenn ich kein Geld mehr hatte, ging ich um einen Vorschuss in die Buchhaltung, es ging nie um hohe Beträge, ich brauchte damals wenig.
Ich wusste, ich konnte einfach mit allem zu »Günther« kommen, ohnehin galt »Verbote gehören verboten«, und selbst wenn ich jemanden ermordet hätte, so empfand ich es damals, hätte ich nur zum Günther laufen müssen, und er hätte es mit einem Anruf beim Justizminister geregelt.
Umgekehrt tat ich alles für Günther, allerdings auch nie ganz ohne Eigennutz und langfristig mit erheblichem Gewinn, wie ich heute noch merke.
Im Sommer, wenn er auf Ischia weilte, um sein jährliches Buch zu schreiben, durfte ich in seine Räume einziehen, das war so vereinbart, um die Bibliothek aufzuräumen. Nachts, zumindest einige Male ist es vorgekommen, lockte ich Mädchen in den Verlag. Die konnten es gar nicht fassen, wie ich hier an der doch bekannten Redaktionsadresse inmitten der Bücher- und Zeitschriftenstapel hauste – und waren bis zur Wehrlosigkeit fasziniert, was ich natürlich ausnützte.
Ich schlief mit ihnen und verfolgte sie dann mit verlogenen Liebesschwüren, mit langen Briefen, die ich in Günthers Stil schrieb, oder kannte sie nicht mehr, wenn mir irgendwas nicht gepasst hatte. Bücher, die doppelt waren oder von denen ich annahm, dass Günther sie nicht brauche, verschenkte ich an die Mädchen oder räumte sie zur Seite und verkaufte sie am Flohmarkt.
Ich trank schon zu der Zeit viel und mein ganzes Leben kam mir rauschhaft vor, oder wie ein Trip, der auch böse ausgehen kann. Ich hatte zwar keine sozialen Ängste, aber ich begann zu spüren, das mich etwas von innen bedrohte, das eines Tages gefährlich werden könnte.
Die Neue Freie Presse war längst eingestellt, dem Verlag ging es nicht gut. Ich blieb dann noch zwei Jahre in der Redaktion des Forum, hatte aber weniger Kontakt mit Günther, der mich an den »geschäftsführenden Redakteur« Michael Siegert abgegeben hatte. Während ich in der Neuen Freien Presse schon ein wohlbestallter Kronprinz war, musste ich im Forum wieder ganz unten anfangen. Ich arbeitete weiterhin zur Hälfte bei Franz Jindra im Vertrieb, die weitere Zeit sollte ich nun Siegert bei der Produktion des Forum helfen.
Michael Siegert war ein knorriger Intellektueller, den was Geheimnisvolles, Unergründliches umgab. Die langen Haare trug er zusammengebunden zum Zopf, Vollbart, Brille, dahinter wachsame, wache Augen, aber kein Hippie, sondern alles akkurat, gepflegt, immer wohl duftend. Siegert war das, was man damals in feinen Nuancen der Begriffe linksradikal oder Marxist nannte, und damit dem Sozialdemokraten Günther Nenning, der von rechts auch als »linksradikal« beschimpft wurde, in tiefem Hass verbunden.
Das war das Drama fast der ganzen Redaktion. Eigentlich war niemand mit dem Heft als Ganzem einverstanden, es gab aber auch kein anderes Medium, in dem man diese Inhalte veröffentlichten hätte können – zu kleinen, aber doch realen Honoraren, aus Geldern, die Nenning in den weit verzweigten Einflussbereichen der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) einsammelte.
In Konferenzen herrschte prinzipiell dicke Luft, zumal die Linken auch noch in verschiedene Fraktionen – von biederer Katholischer Arbeiterbewegung bis zu Anhängern des Wiener Aktionismus – gespalten waren, sich gegenseitig misstrauten und dem jeweils anderen unterstellten, zu große Teile des Hefts zu beanspruchen.
Einig war man sich nur in der Opposition gegen Günther Nenning, dem man unterstellte, er wolle das Heft an die Sozialdemokratie »verkaufen«. Von Jahr zu Jahr frustrierte ihn dieser Vorwurf mehr.
Nenning war zwar Chefredakteur und Herausgeber, aber nach innen nicht besonders beweglich, weil der Verlag nicht ihm, sondern den Angestellten und Redakteuren« gehörte, ähnlich wie das bei Klaus Rainer Röhl und der konkret der Fall war.
Die ständige Spannung, die bei jeder Entscheidung in der Luft lag, empfand ich damals als nervig und ich verstand oft einfach nicht, worum es ging – ich nahm es als beginnende Bedrohung meiner sonst so komfortablen Existenz im Verlag wahr, wenn mein Ersatz-Papa Günther mal wieder so gereizt wirkte, dass es sich auf alle übertrug. Heute verstehe ich, dass diese Spannung das Momentum des Ganzen war, das innere Schwungrad.
Siegerts kleine Wohnung, aus der ich ihn manchmal abholte, wirkte wie eine bewohnbare Bibliothek. Sie war, wie er selbst, blitzsauber und gepflegt und lag gleich um die Ecke der Druckerei Brüder Rosenbaum in der Margaretenstraße, in deren Setzerei wir an einigen Tagen im Monat den Umbruch des Forum machten, von Layout sprachen wir damals noch nicht. Es war die Zeit des Übergangs vom Blei- zum Lichtsatz. Die Stimmung in der Druckerei war schlecht, viele Leute, angesehene Setzer, einige im Selbstbewusstsein, die Avantgarde der Arbeiterklasse zu sein, die edelste Form des Proleten, mussten gehen.
Es gab noch Werkräume, die unter der öligen Schicht des Bleistaubs lagen und in denen die Typen des Bleisatzes mit lautem Knall in die Formen schossen, und es gab die Räume, in denen schon der lautlose, cleane Lichtsatz angewendet wurde. Als kleiner Titel, mit dem man ohne Risiko experimentieren konnte, wurde das Forum schon früh auf Lichtsatz umgestellt.
Lange Nächte mit dem De-Sade-Experten
Nachts, wenn die Lichtsatz-Räume frei waren, konnten Siegert und ich kommen und die Seiten des Forum zusammenkleben.
Siegert war unnahbar, streng, mit sich und anderen. Dass er »streng« sei, phantasierte ich vielleicht auch, weil er als 33-Jähriger das Buch »De Sade und wir« geschrieben hatte, mit dem Untertitel »Zur Sexualökonomie des Imperialismus«, und damit ein De-Sade-Experte war.
Dass ich in seine Wohnung durfte, schätzte ich als Vertrauensbeweis, den ich den anderen voraushatte. Manchmal traf ich da auch auf seine Freundin, ein dürres asiatisches Mädchen, das streng schaute, nie einen Ton sagte und von einem Jungen eigentlich nicht zu unterscheiden war. Sie ging, wenn ich am frühen Nachmittag kam und Siegert Unterlagen aus der Redaktion brachte. Er schlief immer bis in den Nachmittag, da er offenbar jede Nacht zu lesen oder zu arbeiten hatte. Ich kam ihm nur ein oder zwei Mal näher, als wir in der Setzerei gegen sechs, sieben Uhr in der Früh von Übernächtigung, Automaten-Kaffee und Cola so aufgedreht waren, dass wir ohne Anlass oder über irgendein komisch angeschnittenes Foto zu kichern begannen, zu lachen, wir konnten uns gar nicht halten.
Siegerts Buch, das in der Linken ein Bestseller war, entwarf ein radikal anderes Bild des Marquis de Sade, der bisher nur als pathologische Figur galt, und sah in ihm einen Ankläger, der die Grausamkeiten des frühen Kolonialismus und Kapitalismus entlarvt, einen »sexualökonomischen Frühsozialisten«, der die Habgier der herrschenden Klassen bloßstellt und die Fragwürdigkeit der Gewaltlust bewusst macht, indem er sie durch Übertreibung verfremdet.
Für mich als 18-, 19-Jährigen war das alles starker, großteils unverständlicher Tobak. Zu den Diskussionen konnte ich nichts beitragen und so hielt ich meist den Mund, zumal ich in der Redaktion als Verlagslehrling, vor allem aber Überlebender der als kommerziell geltenden (und dann doch gescheiterten!) Neuen Freien Presse ohnehin nur geduldet war.
In dem für mich schwierigen Klima damals sah ich es als Erfolg an, nach einiger Zeit Buchkritiken schreiben zu dürfen, die Siegert aber meist auf wenige Zeilen zusammenstrich, oder einmal, als Siegert verreist war, einige Überschriften auf der Leserbrief-Seite selbst eintragen zu dürfen. Mit dem Thema Homosexuellen-Bewegung gelang es mir, eine Themen-Nische aufzutun, in der ich keine Konkurrenz hatte.
Ich schrieb eine auf mehrere Seiten ausgebreitete Rezension zu Rosa von Praunheims Sex und Karriere und machte mich damit in der Redaktion unangreifbar. Jede Attacke hätte ich, aggressiv-wehleidig, als »schwulenfeindlich« zurückgewiesen. In diese Falle war auch der mir gegenüber feindselige, aber selbst homosexuelle Josef Dvorak getappt und erwähnte meine Beiträge, wie die meisten in der Redaktion, mit keinem Wort. Das war immerhin besser, als vernichtet zu werden.
In unseren langen Nächten in der Setzerei nannte mich Michael Siegert »Michl« und gab mir knappe Anweisungen, sprach aber auch oft über Stunden kein Wort mit mir, wenn er zum Beispiel einen viel zu langen Text in der Satzspalte kürzen musste oder über Überschriften oder Vorspännen grübelte. Auch die später berühmten Forum-Autoren tauchten meist übel gelaunt in der Nacht in der Setzerei auf, um ihre Texte Korrektur zu lesen oder mit Siegert über die Kürzungen zu streiten. Damals kam es mir nicht besonders vor, erst jetzt im Nachhinein kann ich erkennen, in was für eine gute Schule ich gegangen war.
Zum Beispiel Josef Dvorak, der Satanist mit langem Rauschebart überm weiten, wie ein Umhang getragenen Hemd, der sich von einem unbedarft wirkenden jungen Mann herumchauffieren ließ. Der Tiefenpsychologe, Theologe und Mitbegründer des Wiener Aktionismus, der heute wie der Liebe Gott selbst aussieht, genoss einen besonderen Status in der Redaktion, weil er den Kontakt zu den Künstlern des Wiener Aktionismus hielt, wie Hermann Nitsch, Otto Mühl oder Günter Brus, die im Forum teils mit Original-Beiträgen vertreten waren. Nitsch schickte meist Helfer seines Orgien-Mysterien-Theaters vorbei, Mühl glatzköpfige Kommunarden der »AA (aktionsanalytischen) Kommune«, die Kopien der Beiträge abholten, um sie ihren Meistern zur Freigabe oder Korrektur vorzulegen. Meist hörten wir nie wieder was von ihnen, Ärger gab es erst nach Veröffentlichung, wenn von »Fälschungen« die Rede war oder wenn Siegert eine seiner ironischen Überschriften reingesetzt hatte, die den despotischen Gurus zu wenig Ehrerbietung zeigten.
“Draußen warten zwei Deutsche auf dich”
Oder Heidi Pataki, eine Lyrikerin mit echtem Damenbart, die wunderbare Reportagen schrieb, und der Filmkritiker Friedrich Geyrhofer, beides Mitglieder der »Grazer Autorenversammlung«. Obwohl alle wussten, dass die beiden als Paar zusammenlebten, kamen und gingen sie nie zusammen und sprachen sich mit den Nachnamen an, vielleicht nach Vorbildern wie Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, oder, in Österreich, Friederike Mayröcker und Ernst Jandl.
»Heidi«, fragte Siegert genervt, »weißt Du, ob der Geyrhofer auch noch kommt, den Aufsatz zum Radikalen-Erlass einlesen?« – »Nein, wie soll ich wissen, ob der Geyrhofer kommt?« Drei Minuten später stürzte der riesengroße, dicke Mann schnaufend zur Tür hinein, suchte sich einen Platz – nie neben Heidi – und fluchte, weil es in der Setzerei verboten war, Pfeife zu rauchen.
Heute liegen beide zusammen in einem Ehrengrab der Stadt Wien auf dem Wiener Zentralfriedhof, ein Foto des Grabes hat jemand auf Heidi Patakis Wikipedia-Eintrag gestellt.
Ein anderes Mal hatte ich Glück, als Günther Nenning im September 1978 einen »Club 2« moderierte, an dem Rudi Dutschke, Daniel Cohn-Bendit, der Philosoph Kurt Sontheimer und auf der rechten Seite der SFB-Chefkommentator Matthias Walden vertreten waren, dem Cohn-Bendit gleich zu Beginn der Sendung eine Mitschuld am Attentat auf Rudi Dutschke unterstellte, ihm, dem »intellektuellen Mittäter«, mit der »versteinerten Maske«, wolle er nicht die »Hand geben«. Es war eine Sternstunde des Fernsehens, die Welt sah in der Sendung »schäumende Attacken auf die Demokratie«.
Da der Abdruck einer gekürzten Textabschrift in der Redaktion des Forum nicht gerne gesehen wurde – der »Club 2« wurde als »Nenning-Projekt« allenfalls belächelt –, fiel mir die Aufgabe zu, das Video der Sendung abzutippen, einzukürzen – und die so entstandene Version mit Dutschke und Cohn-Bendit abzustimmen. Da mir die historische Bedeutung der beiden nicht recht bewusst war, lud ich sie selbstbewusst nach Wien ein, damit sie sich die »Druckfahnen« ansehen könnten. Mir fiel erst das Herz in die Hose – ein wenig zumindest, ich war schon ein cooler Hund damals, cooler als heute –, als mich »Seidi«, die Verlagssekretärin, auf meiner Durchwahl anrief und »zwei Deutsche«, die für mich da seien, ankündigte, sie hatte die beiden offenbar nicht erkannt. Zwei Deutsche.
Der eine Deutsche, Dutschke, nach dem Attentat hatte er ja diesen irren, starren Blick, im karierten Flanell-Hemd, streckte mir die Hand entgegen und drückte meine so fest, dass ich fast aufschrie: »Ich bin der Rudi«, sagte er, als ob ich das nicht wüsste. Cohn-Bendit, der das mit dem unsicheren und 15 Jahre jüngeren Wiener hier ohnehin schon drollig fand, sang kichernd vor sich hin, als wäre er der Comedy-Sidekick des strengen Dutschke: »… und ich bin der Dany!« Als wir dann mit der Fahne im Konferenzraum saßen, hatte ich das Gefühl, Dutschke hatte Konzentrationsprobleme und Cohn-Bendit keinen Bock, das Ganze Zeile für Zeile durchzugehen. Nach 15 Minuten waren die beiden wieder weg. Keine Änderungen.
Markus, mit dem ich dann so viele Jahre arbeiten sollte, hatte ich auch im Forum kennengelernt. Er hatte sich im selben Raum, in dem ich auch saß, einen Schreibtisch eingerichtet, um eine Gewerkschaft für Schülerzeitungs-Redakteure aufzuziehen. Es war nicht außergewöhnlich, dass im Forum einzelne Schreibtische auch für andere Aktivitäten genutzt wurden. Ein anderer Untermieter war die APG, Arbeitsgemeinschaft Politische Gefangene, die am 8. Mai 1977, dem ersten Todestag von Ulrike Meinhof, gegründet wurde.
Aus dieser Gruppe um Reinhard Pietsch, Thomas Gratt und Othmar Keplinger entwickelte sich die österreichische Hilfstruppe der »Bewegung 2. Juni«, die aus der Entführung des Wiener Wäsche-Industriellen Walter Michael Palmers 4,4 Millionen Mark erpresste, ein Betrag, mit dem die deutsche Terror-Szene bis in die 80er Jahre gut finanziert war. Die Palmers-Entführung in Wien fand drei Wochen nach der Ermordung von Hanns-Martin Schleyer statt, der Kontext war damit offensichtlich: Der Terror war nach Österreich gekommen und hielt das Land wochenlang in Atem.
Günther hatte immer versucht, die militante Szene aus dem Forum rauszuhalten, diesmal hatte er nicht genau genug hingesehen. Einige Journalisten wussten aber, dass sich die APG zunächst im Forum getroffen hatte – und die Story »Terrornest im Nenning-Büro« hätte den Verlag in ernste Nöte bringen können. Bleich trommelte Günther alle zusammen und wies uns an, nicht mit Journalisten zu sprechen.
Wo wurde das Erpresser-Schreiben der Palmers-Entführer getippt?
Am selben Abend kaufte ich die neue Ausgabe des profil, mit der Geschichte zur Palmers-Entführung. Auf Seite 18 war der Erpresser-Brief faksimiliert, also das mit Schreibmaschine getippte Original. Ich sah näher hin – und entdeckte ein in der Zeile leicht fliegendes kleines »g«. Es kam mir bekannt vor – von meiner Schreibmaschine im Forum, meiner Olivetti mit Korrekturtaste! Haben die Idioten die benutzt, schlug es wie ein Blitzschlag in mein Gehirn ein. Das ist ja brandgefährlich, mehr als brandgefährlich. Ich traute mich nicht einmal mit Ramona darüber zu sprechen.
Die Stadt war noch spätabends in einem fiebrigen Ausnahmezustand, überall Polizei, die Anti-Terror-Einheit »Cobra« wurde gegründet. Wurde das Forum schon überwacht, war es vielleicht schon von Polizei umstellt? Ich wollte hin, die Schreibmaschine holen und in den Wien-Fluß werfen, wie ein paar Jahre vorher das Geschäftsschild meines Vaters, wurde ja auch nie wieder gefunden.
Da fiel mir ein, wie auffällig es ist, spätabends eine Schreibmaschine zu transportieren. Daher braucht man eine große Tasche, in der sie unsichtbar verschwindet. Hatte ich nicht. Außerdem würde ich womöglich Fingerabdrücke hinterlassen. Und was würde ich erzählen, wo die Schreibmaschine hingekommen ist? Es war ja meine, die ich immer benutzte. Ich brach die Aktion ab und hatte eine schlechte Nacht.
Am nächsten Morgen brachte ich sie zum Reparieren in das Olivetti-Geschäft in der Gumpendorfer Straße, im Verlag gehörte so was ohnehin zu meinen Aufgaben. Es wurde nie nachgefragt. Vielleicht war ich auch nur paranoid. Walter Palmers wurde am Tag vor seinem 75. Geburtstag wieder freigelassen, nachdem das Lösegeld bezahlt worden war. Thomas Gratt rammte sich einen Tag vor seiner Entlassung aus 13 Jahren Haft ein Küchenmesser in die Brust. Othmar Keplinger starb 2010 an Krebs. Dr. Reinhard Pietsch, er schloss während seiner vierjährigen Haft sein Philosphiestudium ab, beschwerte sich vor kurzem, sein Verdienst sei in der linken Geschichtsschreibung nicht genügend gewürdigt: »Es ist nicht schön«, sagte er bei einer Podiumsveranstaltung in der Kunsthalle in Wien, »nach Jahren rauszukommen, in einer Buchhandlung zu blättern und in einem Band über die ›Bewegung 2. Juni‹ zu sehen, dass man überhaupt nicht vorkommt. Das ist eine Frechheit. Diese Leute gehören vor ein Militärgericht!«
Ich wechselte zum Österreichischen Fernsehen, zum linken, ständig an der Kippe stehenden Jugendmagazin Ohne Maulkorb. Ich kam zunächst gut an – bekam dann aber doch mit meinem im biederen, öffentlich-rechtlichen Umfeld umso auffälligeren anti-autoritären Gestus schnell Probleme.
Als ich mich weigerte, Änderungen an einem Beitrag vorzunehmen, beziehungsweise die nichtveränderte Version in die Sendeleitung schmuggelte, sollte ich rausfliegen und keine Aufträge mehr erhalten. Günther fand dies unerhört (»Was is denn das für ein Depp, ein depperter«, er meinte den Hauptabteilungsleiter), griff zum Telefon und schrieb einen Brief, in dem er an das Gewissen des sozialdemokratischen Fernsehfunktionärs appellierte, er könne doch einen »hochtalentierten jungen Kollegen« nicht an die Luft setzen, der noch dazu der gleichen »Bewegung« angehöre. Mit freundschaftlichen Grüßen … Das war die Grußformel unter Sozialdemokraten, abgeleitet vom Gruß »Freundschaft!«.
Der Welpenschutz funktionierte, am nächsten Tag saß ich wieder in der Redaktion. Ein weiteres Mal habe ich den Schutz nicht in Anspruch genommen. Offenbar fühlte ich mich völlig aufgehoben in der Gewissheit, beschützt zu sein, ohne es ständig neu austesten zu müssen. Mehr Vertrauen kann ein Vater nicht stiften, das ist ja schon fast gottväterlich!
Ich hatte einen Vater gefunden, dem ich gefiel.
Zwanzig Jahre später, ums Jahr 2000, ich war längst in Hamburg, besuchte ich Günther in Wien, zusammen mit meiner damals noch neuen Freundin Eva Franz. Wahrscheinlich wollte ich auch ein wenig angeben, am selben Wochenende traf ich mit ihr auch einen anderen Wiener Bekannten, den Künstler André Heller. Wir saßen in Günthers Büro in der Museumstraße, gleich hinter dem Volkstheater, in der Bibliothek, die ich früher aufgeräumt hatte.
Günther fragte, ob er Wein bringen sollte. »Ihr seid doch Alkoholiker«, witzelte er, seine Augenbrauen waren noch buschiger geworden, »Alkoholiker in Hamburg«. Günther war alt geworden. Was ich in der Zwischenzeit als Journalist tat, war ihm nicht mehr recht zugänglich. Und ich fand die Entwicklung, die er als Journalist genommen hatte – er hatte sich im Alter auf eine penetrante Art einem engstirnigen und traditionellen Katholizismus zugewandt –, fragwürdig und auf österreichische Art traurig. Ich schlug ihm vor, seine Biographie zu schreiben. Vom Katholizismus zum Linksradikalismus und wieder zurück. Vielleicht auch all die Frauengeschichten. Und die Geschichten seiner echten Söhne … so unendlich viel Stoff. Er reagierte seltsam unbeteiligt. Ja, ob ich denn die Zeit hätte, das sei ja viel Arbeit.
Der Alkoholiker in Hamburg tat dann nichts daran. 2006 starb Günther Nenning an den Folgen eines Wanderunfalls in Österreich. Seine Bibliothek ist heute im Tiroler Waidring aufgestellt und öffentlich zugänglich.
Bei Doktor Von in Hamburg beklagte ich Schuldgefühle, so viel von Günther Nenning bekommen und ihm nichts »zurückgegeben« zu haben. Sie folgte der Logik nicht, versuchte eher, mich innerhalb der Beziehung zu Günther Nenning aufzuwerten: »Sie waren sicher auch ein wertvoller Mitarbeiter für ihn.«
Die Mischung aus linksradikal und katholisch, gepaart mit der typisch österreichischen, irgendwie skurrilen Prominenz Günthers, war ihr spürbar fremd und sagte ihr nichts.
Vor allem das Katholische. »Glauben ist eigentlich eine Psychose, das wissen Sie ja, denke ich«, sagte sie einmal und ich war erstaunt über die eindeutige, eindeutig wertende Aussage.
Auszug: Michael Hopp, Mann auf der Couch, Textem Verlag 2021