Jetzt hast Du die Abbiegung genommen

Vor diesem Text habe ich Angst.
Dass ich mich zu sehr gehen lasse. Dass ich mich zu wenig gehen lasse. Nicht locker werde. Zu locker. Das zuviel Ich drin ist, schon im ersten Satz. Zu viel Wut, zu viel Frust. Zu wenig Liebe. Zu viel „Werk“, zu wenig „Mensch“.
Was ist Trauer? Ist der Tod was Schlechtes? Für wen?

Hallo Lo, jetzt hast Du die Abbiegung genommen, ohne mir was zu sagen. Hatten wir nicht ein gemeinsames Ziel? Wir sind fast gleich alt. In diese schwarze Grotte, an deren Eingang 70 + steht, muss ich mich jetzt ohne Dich hineintasten. Die ersten 50 Jahre sind wir gemeinsam gegangen. Jetzt soll ich alleine weiter? „Du machst das schon“, hast Du oft zu mir gesagt.  Ich weiß nicht.

Wer von uns beiden jetzt das bessere Los gezogen hat, diese Frage wird nie wer beantworten können. Kommt es depressiv rüber, dass ich sie mir stelle? Geringschätzend gegenüber den Gefühlen der Lebenden, die mich vielleicht lieben? Keine Fragen mehr. Da ist keiner mehr, der sie beantwortet. So macht der Tod die Weiterlebenden erwachsener.

Die sogenannten Medien sind voll mit Deinem „plötzlichen“, „unerwarteten“ Tod. Du bist jetzt die „Designer-Legende“. Ich höre Dein Lachen. In Wien ist es normal, dass erst ein toter Wiener ein guter Wiener ist. Wurdest Du auch zu Lebzeiten so behandelt? Ich erinnere mich an die große Einsamkeit, die Dich umfing, nachdem Du 2019 den ADC-Lebenswerkpreis erhalten hattest. Oder denke ich mir was aus?  

Mensch und Werk. Die wahre Geschichte ist immer eine andere. Wofür wollen wir in Erinnerung bleiben? Für unser „Werk“? Oder für die Frauen, die wir glücklich gemacht, die Kinder, die wir groß gezogen haben?  (Gegen das Private ist das „Werk“ eine sichere Bank.) Für den Regenwurm, den wir gerettet haben? Für unsere Überzeugungen, naja? Weil wir nett waren? Kann eine Ameise über ihr Vermächtnis verfügen? Tiere leben in der Realität, Menschen haben Illusionen.
Ein „Netter“ warst Du, das sagen alle, und das stimmt. Ich hatte in 50 Jahren keinen Streit mit Dir – Du warst der einzige, mit dem das so war.  Weil wir beide konfliktscheu sind – gehört jetzt schon  „waren“? Das berührt mich in Zeiten, in denen „man“ so leicht in Konflikt kommt. Manchmal denke ich schon, ich stehe mit jedem in Konflikt, und kann nirgends mehr hingehen.

Das Werk! Es gibt großartige Bilder, Romane, Filme.  Aber kann in der Arbeit in den Medien überhaupt ein „Werk“ zustande komme? Sind wir nicht eher Dienstleister an der Öffentlichkeit, an der Demokratie, oder sollten wir sein? Die narzisstische Überhöhung dieser Tätigkeiten begann in der Zeit, als die Idee entstand, Magazine brauchten großartiges Design und supergeile Reporterpersönlichkeiten, also in unserer Zeit. Seither beutelt es die Intelligenten unter uns zwischen Selbstliebe und Selbsthass.
Ich fantasiere schon wieder, denn Du warst eigentlich am wenigsten befallen davon.
Deine „Aura“, die in den Nachrufen jetzt besungen wird, rührte eher daher, daß Du eine Distanz bewahrt hast, einen Abstand dazu, was und wie Du´s gemacht hast.  Nie habe ich Dich für einen Entwurf streiten gesehen, eher die Schulter zucken. Es war immer nur ein Weg, den Du gezeigt hast, im Wissen, dass es noch unzählige andere gibt, die nicht besser und nicht schlechter sind. Deine Gestaltungen war oft großartig, aber natürlich auch scheißegal. Diese Weisheit hattest Du schon als junger Mann und sie machte Dich anders als die anderen.

Die Wut. Ich kotze auf die, die sich jetzt ranschleimen, wie schon beim Begräbnis von Gert Winkler. Von diesem Zorn warst Du immer völlig frei, eine leise Ironie vielleicht, eher eine Traurigkeit in den Augen, ein schwereres Geschütz brachtest Du nie in Anschlag. Wie auf dem Foto von Erich Joham, auf dem Du die 45-Jahr-Ausgabe des untoten WIENER in Händen hältst. (Abbildung unten)

Mein Gott, von was quatsche ich? Aber sofort gilt die Scheißegalregel! Dir war´s  schon damals egal, und wahrscheinlich jetzt erst recht. Oder hast Du negative Gefühle nur runtergeschluckt und dann haben sie Dich krank gemacht? Das weiß ich nicht, so nahe war die Nähe dann doch nicht.
Scheißegal ist auch, was ich hier schreibe. Ich weiß nur, ich werde an Deinem Grab stehen und alles wird sich anders anfühlen und Worte wird es keine mehr geben  und Sonnenbrillen werden dick sein und es wird für kurz ein Frieden und eine Gemeinsamkeit entstehen. Auch mal die Klappe halten.

Danke für alles, mach´s gut, ich habe Dich geliebt, Michael

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Weniger bekannte Arbeit von Lo Breier: „1010“, ein superedles Coffee-Table-Magazin für die Läden der Wiener Innenstadt. Erscheinungsjahr: unbekannt

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„Eine leise Ironie vielleicht, eine Traurigkeit in den Augen, ein schwereres Geschütz brachtest Du nie in Anschlag“ – Lo Breier und die 45-Jahr-Ausgabe des untoten WIENER (2024)

1 Kommentar zu „Jetzt hast Du die Abbiegung genommen“

  1. Das Photo entstand übrigens anlässlich eines der im Laufe der Zeit unzähligen Jubiläumshuldigungen an die Zeitschrift für Zeitgeist…

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