I can´t get no, I can´t get no

Sexualität ist eine Ware des Kapitalismus. Einige Aspekte zur engen Verbindung von Sex und Ökonomie, entstanden bei der Lektüre von „Dialektik der Hure“ von Theodora Becker, in Vorbereitung auf den ROTEN SALON am 5. Mai

Von Michael Hopp

Im Kapitel „Die neue Moral der Kommunisten“ erzählt Theodora Becker, dass Prostitution nach klassischem linken Verständnis eine bürgerliche Institution sei –  „nicht in erster Linie moralische Skandal, sondern schlicht Produkt der bürgerlichen Gesellschaft und mit deren ökonomischen Gesetzen aufs engste verbunden. Die Abschaffung der kapitalitischen  Produktionsweise, die nach der russischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg auch und gerade in Deutschland unmitelbar besvorzustehen schien, bedeutete in ihren Augen automatisch das Ende der Prostitution.“ (p. 330). Heute wissen wir, dass es in beiden Hinsichten ganz anders kommen sollte.

Mit „freier Sexualität“ sollte die Gesellschaft vom Kapitalismus befreit werden

In den 60er Jahren, der Zeit der Neuen Linken und ihrer Sexualtheorien, dachten wir ganz ähnlich. Die Prostitution galt uns als Sinnbild des Kapitalismus, der uns am Ende alle zu Huren macht, die sich verkaufen müssen.
Doch anders als in der Geschichte, etwa bei August Bebel, der dem „schleichenden Gift“ der Prostitution eine „gesunde“, gemeint monogam eingehegte Sexualität entgegenstellte, konstruierten wir die Utopie einer „freien Sexualität“, als „unabdingbare Voraussetzung für die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft“, wie der erste Satz in die „Die Linke und der Sex“ von Barbara Eder lautet, die den ROTEN SALON mit Theodora Becker moderiert.
Der Kampf um eine freiere Sexualität hat hohe historische Verdienste, wie bei der sexuellen Aufklärung, der Liberalisierung von Ehegesetzgebung, Abtreibung und Homosexualität, doch kam es, es ist bekannt, unter dem Vorwand der „Befreiung“ zu viel Missbrauch und in Form der Sexindustrie zur kommerziellen Ausbeutung von Darstellern und Nutzern.

Die real gelebte Sexualität ist heute wieder fest in der Monogamie eingesperrt (dies gilt auch für Homosexuelle, die in den 80er Jahren noch als revolutionäre Subjekte gesehen wurden), die Ideen einer „freien Sexualität“ werden als gescheitert angesehen und haben auch für die Linke keine Aktualität.
Gleichzeitig steigt der Konsum von Pornographie mit den Möglichkeiten des Internet ins Unendliche und auch der Nachfrage nach Prostitution steht ein steigender Markt gegenüber, der durch Flucht, anwachsenden Menschenhandel, Fußball-Großereignisse oder Handelsmessen stimuliert wird.

05.05. rs social media

10 Millionen deutsche Männer gehen zu Prostituierten – warum?

In Deutschland sind nach Schätzungen der Statistischen Bundesamts 10 Millionen Männer als Freier unterwegs, mit deren Befriedigung 400.000 Prostituierte 14,6 Milliarden Euro im Jahr erwirtschaften.
Die kommerziellen Versprechen im Internet und am Strich lösen immer auch ein Stück Freiheit ein – die Freiheit, sexuellen Fantasien nachzugehen, überhaupt Sex zu haben – führen aber nie zur Befriedigung, sondern stimulieren das Verlangen immer weiter, wie es ja das Grundgesetz des Konsum im Kapitalismus überhaupt ist – und es schon die Rolling Stones sangen: „I can´t get no Satisfaction“ (1966).
In der Zwischenzeit hat die Sexualität mit allzeitig verfügbaren Befriedigungsangeboten auf digitalen Plattformen eine allgemeine Warenförmigkeit angenommen. Ausgenommen ist nur der in der monogamen Beziehung geschützte und auf Fortpflanzung gerichtete Sex, der aber in seiner funktionellen Ausrichtung und im Rahmen des Familienlebens offenbar viele Wünsche offen lässt. Und es sind es ja bei weitem nicht alle Menschen, die es in eine monogame Beziehung schaffen, für viele bleibt dies zeitlebens Wunschtraum und sie bleiben allein.

Michel Houellebecq war der erste, der eine literarische Sprache gefunden hat für den nach sozialdarwinistischen Regeln strukturierten „Beziehungsmarkt“, aus dem bestimmte Gruppen ausgeschlossen sind. Dazu gehören in erster Linie die auch ideologisch verdächtigen „alten, weißen Männer“, die thailändische Frauen heiraten, und zu denen auch Hollebecque selbst zählt, aber auch Frauen in der zweiten Lebenshäfte, sosehr sie in der Pornographie auch als unersättliche MILFs´stillisiert werden.
Diese große Gruppen treuer Kunden der Selbstbefriedigungs-Industrie sind es gewohnt, ihre sexuelle Vorlieben nach den Regeln optimierter Suchmaschinen zu strukturieren, Befriedigung suchen sie in automatisierten Angeboten, die von jedem „Überschuss an Utopie“ (Theodora Becker) befreit sind. Weder sind sie mit der Utopie der Liebe verbunden, noch, wer dächte noch daran, mit der Sehnsucht nach einem anderen Zustand der Gesellschaft.
Dass es die „bürgerliche Ehe“ selbst sei, die Männer unbefriedigt lässt und so Prostitution erzeuge oder dass es Phasen im Leben gäbe, etwa, wenn das Geld fehlt, eine Familie zu gründen, wurde schon in der Arbeiterbewegung der Zwanzigerjahre Vergangenheit als rationale Legitimation der Prostitution toleriert.
Doch erweisen sich all die liberalen Spielräume nicht als ausreichend, um die endlose Geilheit der Männer einzuzäunen. Bei Männern steht der Drang, zu ejakulieren, in einem krassen Missverhältnis zu alltäglichen Gelegenheiten. Dies mag dem arterhaltenden Überschuss der Evolution geschuldet sein, immerhin sprechen wir von einem Lebenstrieb, nicht einer Laune.

Was der Selbstbefriedigungs-Industrie Kunden zutreibt

Doch auch darüber hinaus, könnte man meinen, befinden sich Männer in einem Hamsterrad unstillbaren sexuellen Verlangens, durch Medikamente wie Viagra noch weiter stimuliert und auf höhere Altersgruppen ausgedehnt, das die Selbstbefriedigungs-Industrie – wenn man Prostitution als „erweiterte Selbstbefriedung“ sieht – mit in Schwung hält. In noch weiter automatisierten Ländern wie Japan sinkt die Geburtenrate gegen Null, weil der Sex mit Partnern so stark zurückgeht.

Vielleicht lässt die Frage nach dem ständigen Überschuss sexuellen Verlangens, das in der patriachalen Gesellschaft hauptsächlich durch Männer repräsentiert ist, gar nicht in der Polarität Nichtbefriedigung/Befriedigung beantworten, wie sie sich im Prostitutionsdiskurs schnell ergibt, sondern eher in der Suche nach den Anfängen der individuellen Sexualität und alle ihrem identitätsstiftenden Ballast.
Persönlich geprägte Sexualität die über ihre Funktionalität hinaus Verlangen empfindet und äußert, ist keine althergebrachte kulturelle Konstante, sondern so neu wie der Kapitalismus und erst mit ihm in die Welt gekommen „als Bestandteil einer profanen Kultur, die an der Schnittstelle zwischen Zerfall der religiösen Weltsicht und dem Aufkommen des Kapitalismus im Abendland entstanden war“, wie der Sexualwissenschafter Volkmar Sigusch festgestellt hat.

Automaten des Begehrens

Die Sozialphilosophin Julie Govrin zeigt in ihrer Dissertation „Begehren und Ökonomie“, wie sehr das „unstillbare Begehren des Wirtschaftskreislaufs“ den Menschen zum Mangelwesen macht, „das seine Begierden zu befriedigen sucht, ohne vollends Erfüllung zu erlangen. Somit werden ökonomische Subjekte durch eine Einverseelung des Mangels produziert, sie sind zu Automaten des Begehrens geworden, die notwendig wollen, was sie nicht bekommen“, nimmt sie einen Gedanken des Literatur- und Sozialwissenschafters Joseph Vogl auf.

Die Engführung von Begehren und Ökonomie zeigt, wie es auch Marx schon wusste, wenn er von der „abstrakten Genusssucht“ des Kapitalisten spricht, „dessen Akkumulation von Geld und Kapital sich in keinem konkreten Bedürfnis abgleichen lässt“, dass scheinbar rationale Dynamiken des Markts ihre affektive Seite haben, was dazu führt, dass Ökonomie sexualisiert wird – wie in der stilisierten Dramatik spekulativer Praktiken an der Börse – und Sexualität ökonomisiert. Nach Jule Govrin sind soziale Verhältnisse nicht nur durch Produktionsweisen und Eigentum definiert, sondern auch durch „Ordnungsversuche des Begehrens“.
Dass sexuelle Gier und die Gier des Kapitalismus mehr oder weniger eins sind und die Prostitution daher wirklich – aber nochmal anders, als es die linken Vorväter dachten oder auch Alice Schwarzer meinten – ein Element des Kapitalismus ist, macht sie so unüberwindbar.
Wie oft in diesem Blog beklagt, fehlt für eine Welt ohne Kapitalismus heute die  Vorstellungskraft, selbst oder gerade unter Linken. Dasselbe trifft für die Prostitution zu. The show must go on.

Julie Govrin wird voraussichtlich im Juli zu Gast sein im ROTEN SALON HAMBURG, mit ihrem neuen Buch „Universalismus von unten. Eine Theorie radikaler Gleichheit“, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Berlin 2025

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