
Von Henry Grotkasten
Wer Byung-Chul Han und seine Bücher kennt, ein aufmerksamer Leser/eine aufmerksame Leserin seiner Publikationen der vergangenen Jahre ist, kennt seinen Stil, ist inspiriert von seiner Sprache und den Begrifflichkeiten die er aufnimmt, auseinandernimmt, kritisiert und in Sätze seiner Form einer Neu-form-ulierung überführt. Auch ich bin ein aufmerksamer Leser, ja, um es vielleicht in Anlehnung an Han selbst zu schreiben, ein Liebhaber, für den seine Texte im Leben eine große Bedeutung haben, auf dessen Veröffentlichungen ich gespannt warte und zu denen ich in Teilen in den Widerstand gehe und Kritik übe. – Denn wie anderen aufmerksamen Lesenden vielleicht auch aufgefallen ist, haben seine Schriften die nach den sehr originellen Berichten der vollkommen autonomen Produktion seines eigenen Spielfilms auf der einen und darauf folgend dem Tagebuch über die Anlegung und Pflege eines Gartens auf der anderen Seite, ein wenig an ‚Schlagkraft‘ eingebüßt, da sie Themen und Ansätze behandeln die bereits in älteren Publikationen von ihm in irgendeiner Form aufgegriffen und behandelt wurden. Die Kritik an ›Informationen‹, die Auseinandersetzung mit fehlenden Ritualen oder die Aufwertung der ›Kontemplation‹ als Gegengewicht zur Leistungsgesellschaft sind Gedankengänge die bspw. in »Müdigkeitsgesellschaft« (2010), »Duft der Zeit« (2012) oder »Die Austreibung des Anderen« (2016) aufgetaucht sind. – In dieser Auffälligkeit liegt (bei mir) gleichzeitig die Gier in kommenden Werken nach dem Neuen zu suchen; eine Stimme die bei den zuletzt erschienen Werken schreit „Kenn ich schon!“. Gleichzeitig, mit dem Bewusstsein über diese innere Stimme und der erneuten Aufnahme der Lektüre, entpuppen sich die jüngsten Schriften nicht ausschließlich als ‚Remix‘ seiner über die Jahre entwickelten Thesen und Hypothesen, sondern auch als Konzentration auf bestimmte Begriffe und Sachverhalte, die in der vorliegenden Genauigkeit eben so noch nicht behandelt wurden. Außerdem ist die Aktualität in der Auseinandersetzung – und vor allem in dem Entwurf einer bestärkenden Vision – bis heute geblieben, auch oder gerade weil die Betonungen auf das Nicht-Tun, die Kontemplation, die Auflösung des Ich für den Anderen, Stille und Zwecklosigkeit äußerst anti-modern sind. Hinzu kommen Han’s größte Inspirationsquellen die ich unter anderem bei Martin Heidegger, dem Zen-Buddhismus und Peter Handke identifiziere. – Han’s neueste Veröffentlichung »Sprechen über Gott – Ein Dialog mit Simone Weil« (2025) steht dem in nichts nach, denn heute über GOTT zu sprechen, ist nicht nur Party Crasher Nummer Eins, sondern semi-sektenhaftes Benehmen, das man gerne den Zeugen Jehovas überlässt, aber bitte die unter sich und in einem (ab)geschlossenen Raum. Altgedienten Marxisten, flotten, uniformen Business Menschen oder Schüler:innen an einer Stadtteilschule die eh alles für ‚gottlos‘ halten, mit GOTT zu kommen, ist nun wirklich das Allerletzte. Und selbst die Jünger von Byung-Chul Han könnten an diesem Punkt sagen: „Nein danke“, auch weil ein so ausführlicher Bezug zum christlichen Glauben bis jetzt in seinen Werken gefehlt hat, er sich plötzlich mit seiner neusten Schrift erdreistet, eines Aufgusses gleich, seine vormals formulierten Thesen und Kritiken mit dem Glauben an Gott zu überziehen. Und tatsächlich ist es so, dass man beim Lesen den erwähnten, altbekannten Themen begegnet: Der Aufmerksamkeit (Kontemplation), der Leere, der Auflösung des Ich, der Stille, dem Schmerz und der Schönheit nur eben diesmal in Referenz zu Simone Weil und umhüllt mit dem Bezug auf Gott und den katholischen (in der Bedeutung des Wortes als ‚allgemein‘, ‚alles umfassend‘) Glauben. Dies erzeugt eine eigenwillige Mischung: der katholische Glauben in einer Art der Ausübung formuliert, die stark an zen-buddhistische Praktiken erinnert; dabei vereinzelt konturiert mit theoretischen Ansätzen von Martin Heidegger. – So ergeben sich bspw. folgende Sätze: „Wer Gott gehorcht, wer aus Liebe zu Gott sein Ich aufgibt, wird selbst göttlich. Er erhebt sich zur göttlichen Herrlichkeit: »Demut im Warten macht uns Gott ähnlich.« (ebd. S. 52; Weil 1996, S. 131). In dem kleinen Buch geht es nicht weniger um die großen Fragen. Allen vorweg: Wofür leben wir? Ob atheistisch, agnostisch oder theistisch: in den Zeichen der Zeit von weltweiter Aufrüstung, wachsender Gehässigkeit und Hass, sowie dem nahenden Klimakollaps existiert die Frage nach unserer grundlegenden Weltbeziehung, mit der wir persönlich und unsere Mitmenschen reifen können ohne dabei den Planeten zu sehr zu beanspruchen. Byung-Chul Han formuliert mögliche Antworten auf die Frage der Weltbeziehung mit dem Glauben als Fundament. Diese sind als Angebote lesbar, entziehen sich gleichzeitig dem schnellen Einverständnis, können als Interventionen in das alltägliche, selbstverständliche Denken genutzt werden. – »Sprechen über Gott« ist nicht ohne inhärente Schwächen. Eine eigene Kritik am christlichen Diktum die ‚guten‘ Taten zu tun und ‚bösen‘ Taten zu unterlassen bleibt aus (was ist gut, was ist schlecht?) und auch Begriffe mit hoher Abstraktion wie Ich, Selbst oder Liebe schweben häufig mit all ihrem Geschichts- und Bedeutungshorizont in sich ähnelnden, an Phrasen erinnernden Sätzen. Außerdem darf man fragen ob die für Han im letzten Kapitel unmögliche Revolution (vlg. ebd. S. 108) aus den Verhältnissen mit ›Stille‹ zu beantworten ist, in der es in einem gleichnamigen Kapitel geht. Immerhin schrie auch Jesus Christus in bestimmten Situationen den Wind, das Meer und Menschen an (vgl: Zürcher Bibel Mk 1,25; Mk 4,39) – mit durchaus positivem Effekt. – Der in der Welt um sich greifenden geistigen Armut ließe sich vielleicht mit dem ‚Heiligen Geist‘ etwas entgegenwirken. Byung-Chul Han’s Werk »Sprechen über Gott« kann – inschallah – einen Teil dazu beitragen.
Han, Byung-Chul: Sprechen über Gott. Ein Dialog mit Simone Weil, Matthes und Seitz, Berlin, 2025
Weil, Simone: Cahiers – Aufzeichnungen, Bd. 1-4, Hanser Literaturverlage, München, 1996
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