REVIEW Wer ist der Mann mit dem Pornobärtchen?
Eine neue Generation nähert sich an
Von Henry Grotkasten
Mit dem Besuch von Jörg Später – mit seinem grossen Buch »Adornos Erben« am 10.03.25 im ROTEN SALON HAMBURG – durch den Vortrag, einen Gastbeitrag von Zeitzeuge Michael Löbig, durch Fragen aus dem Publikum und von Michael Hopp, ist klar geworden, dass die ›Kritische Theorie‹ mit ihrer Galionsfigur Theodor .W. Adorno vor allem vielschichtig und vielfältig ist.
Was leicht gesagt und leichter geschrieben ist, heißt im Detail: die erste Generation von Schüler:innen der Kritischen Theorie verfügten, bevor sie zur Kritischen Theorie kamen, über Ausbildungen und Prägungen aus den Naturwissenschaften, dem Handwerk, der Juristerei oder Theologie. Nach ihrer ‚Ausbildung‘ und dem Studium der Kritischen Theorie wirkten sie im Bildungssektor, in der Literatur, in Film und Wissenschaft, ihr Wissen und ihre Erkenntnisse nutzen sie auf weiteren Arbeitsfeldern, wie dem Surrealismus oder Feminismus.
Trotz Adornos beinahe mystischer Ausstrahlung, seiner (für mich?!) teilweise schwierigen, intellektuellen Zugänglichkeit in seinen Schriften, betonte Jörg Später, dass die Kritische Theorie keine akademische oder intellektuelle Übung für Eliten sei, sondern den Anspruch gehabt habe, den Alltag der Menschen, die tägliche Bewegung und das Bewusstsein in der Gesellschaft zu befragen und zu hinterfragen. Ein wichtiger Punkt dabei war die historische Kenntnis, daß die von Marx und Engels als möglich betrachtete Revolution nicht stattgefunden hatte.
Jene grundlegende Frage, die ein Teil der Schüler:innen in der späteren Kritischen Theorie um Jürgen Habermas (im Vortrag übrigens zu sehen mit einem Foto, das ihn mit süffisantem Schmunzeln und schmalem Pornobärtchen auf der Oberlippe zeigt) nicht mehr repräsentiert sahen – worauf sie in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts eine eigene Konferenz durchführten und später einen eigenen Verlag gründeten – Entwicklungen, von denen Zeitzeuge und MASCH-Vortragender Michael Löbig erzählte. Es war nicht der erste „linke Aufstand“ gegen Adorno, der sich von der Studentenbewegung entfremdet hatte.

Während des Vortrages und durch eine Ergänzung aus dem Publikum, kam das Thema des psychischen Drucks auf, kritisch, aufklärerisch zu arbeiten in einer Gesellschaft in der faschistische Kräfte stark sind, was besonders mit Blick in die USA heute eine erschreckende Aktualität besitzt. Es wurde von einigen Selbstmorden im historischen Umfeld Horkheimers und Adornos berichtet, die jedoch nicht unmittelbar mit der eigentlichen Arbeit in der Kritischen Theorie in Verbindung stehen müssen, gleichwohl mit dem bereits erwähnten Druck durch die gesellschaftliche Situation und ggf. mit einem kritischen, analytischen Bewusstsein der einzelnen Theoretiker:innen.
Denn die ganze Sche*** (Faschismus, Patriarchat, wirtschaftliche Ausbeutung etc. etc.) zu sehen, zu erkennen, ihr gleichzeitig scheinbar ohnmächtig als einzelnes Individuum ausgeliefert zu sein, kann einen (auch heute) in die Verzweiflung treiben. Deutlich ist aber auch geworden, dass diese Verzweiflung, umgewandelt in Motivation für die wissenschaftliche, philosophische, künstlerische oder aufklärerische Arbeit, Selbstwirksamkeit und selbstständiges Denken anregt.
Im Angesicht der multiplen Krisen und dem vor Sorge drohenden ‚Zerbrechen des Kopfes‘ ist damit an dieser Stelle allen empfohlen, statt in einer dunklen Ecke zu verzweifeln diese Wirkmächtigkeit mit den Erkenntnissen aus der marxistischen und kritischen Theorie (wieder) zu entdecken, zu beleben und zu entfalten. Jörg Später’s Buch »Adornos Erben« bietet dazu in seiner fundierten Art und dynamischen Stil einen hervorragenden Einstieg.
Für uns Organisatoren des ›Roten Salons‹ ist besonders erfreulich, dass die Veranstaltung erneut sehr gut besucht war (es gingen mehr Anmeldungen ein, als der Raum an offizielle Kapazitäten bot) und wieder viele unterschiedliche Menschen aller Altersgruppen zusammenkamen – von 25 bis 95.
Wir hoffen, dieses Niveau halten und auszubauen zu können.

NACHTRAG Das Argument
Die „jüdische Erfahrung“ ist das konstituierende Element der Kritischen Theorie
Von Jörg Später
Am 13. August 1969 wurde Theodor W. Adorno zu Grabe getragen. Er hatte eine Woche zuvor in den Schweizer Bergen sein „irdisches Ende“ (Alexander Kluge) gefunden und war nicht nach drei Tagen wieder auferstanden. Zur Beerdigung kamen über 2000 Menschen. Die Trauerfeier wurde vom Hessischen Rundfunk übertragen. Es sprachen Max Horkheimer, der Hessische Kultusminister Ernst Schütte und Ralf Dahrendorf, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Am Grab fand Ludwig von Friedeburg noch einige Worte. Weggefährten und Kollegen wie Wolfgang Abendroth, Ernst Bloch, Alexander Mitscherlich, Gershom Scholem, Jacob Taubes und Siegfried Unseld hatten sich in Frankfurt versammelt, zudem Jürgen Habermas, der seinen Urlaub abgebrochen hatte.
Auch der Hofpoet der Kritischen Theorie, der knapp vierzigjährige Alexander Kluge war zugegen und berichtete über einen „Gefahrenmoment für die Letzten der Kritischen Theorie bei Adornos Beerdigung“: „Ein Regenguß, gewitterartig, überraschte den Trauerzug auf halbem Wege“, „Die Köpfe der GELEHRTEN MÄNNER durchnäßt, auch die Kleidung. Keiner von der ‚Kritischen Theorie‘ besaß Schirme.“ Am Rande des Zuges, eher abseits, hielt sich ein Trupp Studenten auf, angeführt von Hans-Jürgen Krahl, dem Frankfurter SDS-Cheftheoretiker, der im vergangenen Jahr in schweren Konflikt mit seinem nun toten Doktorvater geraten war. Ob sie den Sarg entführen wollten? „DIE ALTEN MÄNNER DER KRITISCHEN THEORIE scharten sich bei Auszug auf der fahrbaren Trage ins Freie demonstrativ um den Sarg“, beobachtete Kluge.

Die kritischen Theoretiker ohne Schutz, in die Jahre gekommen und auf tragische Weise separiert von der studentischen Protestbewegung – das sind die Bilder einer Beerdigung. Vorangegangen war das Drama des ödipalen Vatermords, als Adorno sich geweigert hatte, seiner kritischen Theorie eine radikale Praxis im Sinne der im SDS organisierten Studenten folgen zu lassen. Die Verehrung war in Verachtung umgeschlagen, Liebe in Hass; zuerst war Adorno als Institution tot, wie es auf einem Banner während der gesprengten Vorlesung im Sommersemester 1969 hieß (Stichwort: Busenattentat), dann war der wirkliche Adorno tot. Das hatte natürlich niemand gewollt, und entsprechend bedröppelt standen Krahl und Genossen am Rande des Friedhofs. Nach der Beisetzung gelobten 33 Studierende und junge Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung: „Hinter der Stilisierung Adornos zum einmaligen Geistesheroen wie zum politischen Verführer steht das Interesse, Kritische Theorie zu liquidieren. Dagegen werden wir deren Intentionen in Zukunft auch im Rahmen universitärer Institutionen weiterführen.“
Was die öffentliche Resonanz betrifft, stand die Kritische Theorie der Frankfurter Schule zwanzig Jahre nach der Rückkehr Horkheimers, Pollocks und Adornos nach Frankfurt auf ihrem Zenit. Diese Aufstiegsgeschichte, die schon mehrfach erzählt worden ist, erzähle ich noch einmal, allerdings aus Sicht von zwölf akademischen Schülern plus einem außerakademischen. Diese Schülergruppe besteht nicht aus jenen 68er Studenten um Krahl, sondern aus deren Dozenten, die zwischen 1949 und 1962 ans Institut kamen, bei Adorno und Horkheimer promovierten, Assistenten oder Institutsmitarbeiter wurden und eine Rolle bei den Erbschaftsstreitereien nach Adornos Tod spielen würden.
Wie in den besten Familien stritt man um die Erbschaft, vor allem, worin sie überhaupt bestand. Die Geschichte der Kritischen Theorie ist eine Geschichte ihrer Interpretationen und Interpreten. Daher erzähle ich sie anhand der subjektiven Positionen und Praktiken einiger maßgeblicher Akteure.
Ohne Ort und Zentrum verlor die Kritische Theorie vor allem in der akademischen Welt rasch an Bedeutung, signifikant in ihren Kernfächern Philosophie und Soziologie (während in den Erziehungswissenschaften und später in kulturwissenschaftlichen Fächern Populärformen Kritischer Theorie reüssierten). In der medialen Öffentlichkeit trat das ein, was die 33 Getreuen befürchtet hatten: Man feierte das Genie Adorno und erzeugte einen Mythos um die „Kritische Theorie der Frankfurter Schule“ oder man denunzierte sie als Ausbildungsstätte des Linksterrorismus. Derweil wollte die nach 1968 entstehende Neue Linke allerdings von Adorno zunächst nicht mehr viel wissen. Die zwanzig Jahre nach seinem Tod bilden mehr oder weniger eine Niederganggeschichte, jedoch eine, an deren Ende das Fazit steht: Die Kritische Theorie ist erfolgreich gescheitert.
Zwar galt, auch durch Habermas‘ Dazutun, die alte klassisch gewordene Kritische Theorie als nicht mehr anschlussfähig, und in den Geistes- und Sozialwissenschaften setzten sich neue Paradigmen durch, aber doch waren Grundannahmen selbstverständlich geworden, vor allem die Reflektion darüber, dass die Praxis der Wissenschaften nicht abseits des gesellschaftlichen und auch politischen Umfelds geschieht. Zudem erlebte Adornos vom „Apriori Auschwitz“ geprägtes Denken – mithin, dass die Vernichtung der europäischen Juden eine historische Zäsur bedeutet habe – durch ein zum Teil wiedergekehrtes, zum Teil neu entstandenes Geschichtsbewusstsein im Laufe der 1980er Jahre eine Renaissance, nachdem Adornos Schüler diese elementare Komponente der Erbschaft gar nicht aufgegriffen hatten. Dazu später mehr, wenn es um mein „Narrativ“ geht: nämlich, dass die Frankfurter Schule symbiotisch mit dem Nachleben des Nationalsozialismus verbunden war.

Adornos Erben erzählt die Geschichte der Kritischen Theorie als eine, die in negativ-symbiotischem Verhältnis zur deutschen Geschichte im kurzen 20. Jahrhundert steht. „Negative Symbiose“ ist ein Begriff von Dan Diner, der sich auf das Verhältnis von Deutschen und Juden nach Auschwitz bezog. Er bedeutet, dass das Selbstverständnis beider Kollektive durch die Massenvernichtung aufeinander bezogen ist. Bis heute können wir ja beobachten oder selbst erfahren, dass tagespolitische Auseinandersetzungen offensichtlich überlagert werden von historischen Metaphern, die aus der deutsch-jüdischen Horrorgeschichte stammen. Den Verstrickungen ist schwer zu entkommen, wie die Geschichte der 68er-Linken oder das neurotische öffentliche Gerede von heute über Schuld und Tabus, Staatsräson und Völkermord und Ähnliches zeigt, wenn es um Israel geht.
Der Wortschöpfer der „negativen Symbiose“ ist mit seinen Weggefährten aus der Frankfurter Jüdischen Gruppe und der Zeitschrift Babylon übrigens selbst Akteur meiner Geschichte, als diese damals 30-40-jährigen Kinder von Überlebenden des Judenmords, die in Frankfurt gestrandet waren, das Spannungsverhältnis von partikularer Herkunft und universalem Weltbezug als problematisch erlebten. Sie gehörten weder zu Deutschland noch zu Israel, weder zur Jüdischen Gemeinde noch zur linken Politszene richtig dazu. Zumindest sahen das die anderen so. Die geschichtspolitischen Kämpfe der 1980er Jahre, Bitburg und der Historikerstreit, führten dann zu einer Rückkehr der NS-Geschichte, die auch die Kritische Theorie anging, denn war nicht Adornos Philosophie explizit eine gewesen, die unter dem Apriori von Auschwitz stand? Dieser für uns heute selbstverständliche These war in den 15 Jahren nach Adornos Tod im Rausch der „Revolution“, der wiederum im Kater des Deutschen Herbstes endete, verschüttet gegangen, vergessen worden. Keiner meiner Frankfurter Schüler und Schülerinnen hatte dieses Erbe in die geistige Produktion aufgenommen, jedenfalls nicht explizit und erkennbar.
Die 68er, also die jüngeren Schüler und Schülerinnen, befanden sich ohnehin in einem anderen Film, in dem Adorno keine Rolle mehr spielte. Da ging es um emanzipatorische Praxis und fortschrittliche Politik, um Klassenkampf, Revolution und Restauration, um Kapitalismus und Imperialismus, „Faschismus“ (womit wenig der empirische Nationalsozialismus gemeint war), Repression und den bewaffneten Kampf bzw. dessen Irrwege. Eine Ausnahme war der Adorno-Student und Negt-Assistent Detlev Claussen, der Ende der 1980er Jahre sagte: Wer über Auschwitz hinweggeht, verfehlt jede Möglichkeit von Kritischer Theorie. Das „Auschwitzbewusstsein“ musste also wieder zurück in die Kritische Theorie, war doch ihr Erfahrungskern gewesen. Die Gruppe um Diner, zu ihr gehörten Micha Brumlik und Gertrud Koch, die sich im Umfeld des Habermas-Seminars bewegten, betrieb Spurensuche bei der Gründungsgeneration. Zivilisationsbruch hieß der kleine Band über das „Denken nach Auschwitz“, mit Beiträgen über Adorno, Horkheimer, Löwenthal, Marcuse, Neumann, Benjamin, Kracauer und anderen Sozialphilosophen von jüdischer Herkunft und mit universaler politisch-philosophischer Ausrichtung.

Die Feststellung, dass dieser Konnex zwischen Auschwitzbewusstsein und Kritischer Theorie erst gewonnen und errungen werden musste bzw. anderthalb Jahrzehnte lang gar nicht existierte, war für mich, der ich mit dem Memory-Boom der 1990er Jahre politisch-wissenschaftlich sozialisiert worden bin, doch eine Überraschung, denn Zivilisationsbruch war für mich ein Ausgangspunkt in der Beschäftigung mit der Kritischen Theorie gewesen. Ich fragte mich nun: War nicht die gesamte Geschichte der Kritischen Theorie symbiotisch verbunden mit der Zeit des Nationalsozialismus und dessen Nachleben in der Bundesrepublik? Ihre Genesis ist ohne das nationalsozialistische Regime und die Vertreibung der linken und mehr noch jüdischen Intelligenz aus Deutschland nicht sinnvoll zu rekonstruieren. Und ihre Geltung auch nicht, denn ein Gutteil der Attraktivität dieses sozialphilosophisch-politischen Angebots rührte für diejenigen, die erst nach dem Ende des Nationalsozialismus erwachsen wurden, gerade aus den Lebensläufen Horkheimers und Adornos, Pollocks und Marcuses, Benjamins und Kracauers her. Für viele junge Menschen, die mit einem Grundgefühl negativer Identität durchs Leben gingen, war die Frankfurter Schule ein Gegenentwurf zur postvolksgemeinschaftlichen Ordnung der BRD. Kritische Theorie war eine Art Traumatherapie im Medium der Sozialphilosophie (Christian Schneider, Cordelia Stilke, Bernd Leineweber).
Vertreibung, Rückkehr, Wissenschaftswunder: Die Geschichte der Frankfurter Schule in der Bundesrepublik, so dachte ich, muss als eine BRD noir-Geschichte geschrieben werden, als eine Erzählung, in der das große Verbrechen unterschwellig, aber atmosphärisch dominant, den Subtext bildet. Und in der das wiedergefundene Bewusstsein über die historische Zäsur des eliminatorischen Antisemitismus der Fluchtpunkt aller dieser diffundierenden Schülerbiographien ist, denn tatsächlich führte die Rückkehr der NS-Geschichte als Verbrechensgeschichte ins öffentliche Bewusstsein auch zu einer Revitalisierung der Kritischen Theorie, die sich in den 1970er und 1980er Jahre weitgehend in Nischen, Milieus und Provinzen wie Lüneburg und Hannover zurückgeworfen sah (wenngleich das durchaus sehr produktive Milieus waren, wie ich zeigen möchte). Zu der BRD-Noir -Perspektive gehört natürlich unbedingt, sich zu vergegenwärtigen, wie nazidurchsetzt das ganze Gelände der postnationalsozialistischen Gesellschaft war.
Adorno hatte nicht von ungefähr hinsichtlich der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ gesagt, dass er vor dem Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie sich mehr fürchte als vor faschistischen Tendenzen gegen die Demokratie. Die braunen Schatten lagen sogar auf dem Institut für Sozialforschung selbst: Ludwig von Friedeburg war jüngster U-Boot-Kommandant der Marine gewesen, sein Vater Georg von Friedeburg tötete sich nach seiner Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde selbst – das war bekannt und Adorno bescheinigte dem jungen Soziologen eine selbstverwirklichte innere Entnazifizierung; Rudolf Gunzert, in den 1960ern dritter Direktor, ist ein weiterer Fall: Parteimitglied, der 1945 in Heidelberg von den Amerikanern die Lehrbefugnis entzogen bekam; und natürlich Hellmut Becker, der Justitiar und Freund des Hauses, mit dem Adorno im Radio über Erziehung und Mündigkeit diskutierte: auch er Parteimitglied, ehemaliger Assistent des Staatsrechtlers und Kronjuristen in Sachen Judenverfolgung Ernst Rudolf Huber, und dann selbst Anwalt von Ernst von Weizsäcker im Wilhelmstraßenprozess, der sich gegen das „Nürnberger System“ für die Amnestie von NS-Kriegsverbrechern engagierte.

Zur Noir- oder besser Brune-Perspektive gehört aber auch, sich klarzumachen, wie unwahrscheinlich die Erfolgsgeschichte von Adorno& Co. in den 1950ern und 1960ern gewesen war. Nichts sprach dafür, dass ein Gelehrter wie Adorno eine solche Bedeutung sowohl für die Geistes- und Sozialwissenschaften als auch für bundesdeutsche Demokratie gewinnen konnte. Niemand kannte ihn, als er nach Frankfurt zurückkehrte. Auf einen Lehrstuhl musste er ein Jahrzehnt warten. Was er anzubieten hatte, war nicht unbedingt satisfaktionsfähig, alles andere als leichte Kost. Horkheimer, Pollock und er waren als Emigranten zurückgekehrt, was in der Nachkriegszeit keinen Orden einbrachte, sondern Ressentiments und sogar Ängste provozierte.
Und nicht zu vergessen: Auch wenn die Frankfurter Lehrer, allen voran Horkheimer, keine sozialistische Fahne vor sich hertrugen und zur DDR ein eher feindseliges Verhältnis pflegten, war Kritischen Theorie doch bloß ein anderer Name für eine wesentlich von Marx herkommende Perspektive auf Geschichte und Gesellschaft. In Zeiten von Antikommunismus und Kaltem Krieg doch eher ein Nachteil. An keinem Ort in der Bundesrepublik außer in Frankfurt hätte Adorno einen philosophischen Lehrstuhl bekommen. Der Startpunkt waren die „Wiedergutmachungslehrstühle“ und die amerikanische Reeducationpolitik, der auch das berühmte Gruppenexperiment des Instituts verpflichtet war. Allmählich begegnete man dem „jüdischen Remigranten“ und auratischen Medien-Intellektuellen mit Ehrfurcht, also mit einer Mischung aus Ehre und Furcht. Für die Nachkriegskinder avancierte er hingegen zu einer moralischen Instanz, die das Schweigen über die furchtbare Vergangenheit ihrer Eltern brach. Umso tragischer der Bruch zwischen Studentenbewegung und Adorno sowie dessen Abwicklung im Jahrzehnt danach.
Damit sei nicht gesagt, dass die Geschichte der Kritischen Theorie und der Frankfurter Schule nicht auch anders geschrieben werden kann und soll, mit anderen Bezügen, Schwerpunkten und Perspektiven, die aus dem Inneren der Theorietradition stammen: beispielsweise als negativer Hegelmarxismus, subjektbezogene Ästhetik, kapitalismuskritische Soziologie, feministische Sozialwissenschaft etc. pp. Aber mir scheint die „jüdische Erfahrung“ der Gründergeneration ein konstitutives Element zu sein, das man gar nicht stark genug betonen kann und niemals aus dem Blick verlieren sollte. Ganz unabhängig davon ob man Kritische Theorie als historisches Phänomen betrachtet oder als Orientierungspunkt sozialwissenschaftlicher Arbeit.
Zu Henrys Text: Die Kritik an Habermas war kein Aufstand gegen Adorno, sondern eher pro Adorno, als Rückkehr zur älteren Kritischen Theorie.